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Die Vorlesung Filmgeschichte 2 knüpft an jene des Wintersemesters 1980/81 an, die 1982 unter dem Titel Filmgeschichte: ästhetisch – ökonomisch – soziologisch: von den Anfängen des Films bis zum Tonfilm als Publikation (Zürich: Zentralstelle der Stundentenschaft) erschienen war. Ästhetik, Ökonomie und Soziologie benennen dabei die drei Teilaspekte der Filmgeschichtsschreibung und zugleich Methoden, unter denen nun die Zeit zwischen dem Ende des Stummfilms und dem Ende der Vierzigerjahre betrachtet werden soll, wobei der italienische Neorealismus den Versuch eines Neubeginns nach den Kriegsjahren darstellt. Dabei ist unsere heutige Auseinandersetzung mit Filmgeschichte und Filmästhetik dieser Zeit nicht von der damaligen gesellschaftlichen Situation zu trennen: Depression und New Deal in den USA, Industrialisierung und Kollektivierung sowie Personenkult in der UdSSR, Fachismus in Italien und Deutschland, schliesslich der Zweite Weltkrieg mit einer weiten Verwüstung grosser Teile Europas, die Stunde Null und der Wiederaufbau mit einem System zweier sich bekämpfender Supermächte: der kalte Krieg.
In der Zeit der Dreissiger- und Vierzigerjahre etabliert sich der Film vor allem in den USA als das Unterhaltungs- und Massenmedium der Zeit, das an Glanz wenig eingebüsst hat und in den Dreissigerjahren ganz spezifische Genres ausbildet, die vom Aufkommen des Tonfilms profitieren und auch heute noch zum festen Bestandteil des Kinos gehören: der Gangster- und Horrorfilm, das Musical, die Komödien und Melodramen. Zugleich findet in den USA nicht nur durch die Einführung des Tonfilms und dem schlagartigen Verschwinden des stummen Kinos auf dem Gipfel seiner Möglichkeiten des Erzählens in Bildern eine umfangreiche und tiefgreifende formale und technologische Normierung statt. Mit der Einführung eines Produktionscodes 1934, der ein Mittel der Selbstzensur dargestellt, sollten auch Inhalte auf dem Hintergrund sittlicher und ethischer Grundsätze normiert werden. Das amerikanische Kino unterwarf sich damit weitreichenden Normen vor allem in der Darstellung von Sexualität und Gewalt, deren Einfluss bis in die Sechzigerjahre andauerte.
Im sowjetischen und im deutschen Kino bemächtigte sich der Staat des Mediums Film, um es einerseits als eskapistisches Unterhaltungsmittel und damit als Ablenkung von zugleich stattfindenden grossen politischen Umwälzungen zu missbrauchen, andererseits aber auch vor allem als Mittel zur Bildung und als Propaganda einzusetzen. Im der Sowjetunion wird das beachtliche Revolutionskino vom normierten „sozialistischen Realismus“ abgelöst, der sich nicht mit einer realen Welt und ihren Problemen (von denen es genug gab) auseinandersetzte, sondern eine schematisierte, idealisierte Welt schilderte, wie sie sein sollte. Der sozialistische Realismus wird zum sozialistischen Eskapismus. Hauptkennzeichen dieser Filme wird die Verwandlung des Helden im Sinne einer moralischen und politischen Gesundung, im Rahmen einer sozialistischen Gesellschaft. In Deutschland wurde das blühende Weimarer Kino nach 1933 durch einen gleichgeschalteten und von „entarteten“ Elementen gesäuberten nationalsozialistischen Film abgelöst, der mehrheitlich Unterhaltungsfilme zur Ablenkung hervorbrachte, daneben aber auch eine Reihe höchst perfider Propagandafilme, in denen sich das menschenverachtende und kriegshetzerische Gedankengut der Nazis relativ klar zu erkennen gab.
In Frankreich dagegen entwickelt sich aus der Produktionskrise, welche die Einführung des Tonfilms durch den Verlust einer universellen Sprache auslöst, einen kreativen Schub unabhängiger Produktionen, die unter dem Namen Poetischer Realismus in die Filmgeschichte einging und gleichsam die Verschmelzung von Feuer und Wasser versuchte: Realismus durch die Ansiedlung im Arbeitermilieu und eine schwarze, pessimistische Sicht vor dem Hintergrund des sich entwickelnden Weltenbrandes verschmolzen mit einem ausserordentlich poetischen, vor allem die formalen Mittels des Films betonenden, verzaubernden Filmstils. Eingetaucht in einen melancholischen Weltschmerz, in die Taurigkeit von Regen und Nebel, umgeben von beengenden Dekors, in Stimmungen verloren, vollziehen sich Schicksale, als wäre der Zwang zur Tragödie unabänderlich geworden.
Gleichsam als ferner Abglanz Hollywoods wuchs in der vom Mussolini gegründeten Filmstudios der Cinecittà neben den historischen Gemälden und den manieristischen Schön-Bild-Filmen der Kalligraphisten das in den höheren Gesellschaftsklassen angesiedelte Kino der weissen Telefone heran. Und in dieser Umgebung mehr oder weniger perfekter Künstlichkeit entstand, theoretisch mit Artikeln in Filmzeitschriften und den Dokumentarfilmen vorbereitet, von 1942 an der italienische Neorealismus. Er setzte, obwohl er sich seiner Konstruiertheit und Fiktivität voll bewusst war, eine Zäsur, die dem Film einen neuen Zugang zur Gegenwart ermögliche. Das hiess auch, die bis anhin gültigen filmischen Gestaltungweisen zu überdenken. Damit begann der Nachkriegsfilm.
Der Einleitungstext basiert teilweise auf der Einführung zum Begleitprogramm „Kino der Dreissger- und Vierzigerjahre: von Crosland «The Jazz Singer» zu Viscontis «La terra trema»“ von Vikor Sidler, die der Dokumentation der Filmstelle VSETH/VSU (Zürich) WS 1982/83 erschienen ist (S. 94–108).
Assistenz: Thomas Christen
Umfangreiches Begleitprogramm der Filmstellen VSETH/VSU (PDF, 135 KB)