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Seminar für Filmwissenschaft

Viktor Sidler: Kino der Dreissiger- und Vierzigerjahre

Vorlesung 10: Dokumentarfilm

In der heutigen Stunde wende ich mich dem Dokumentarfilmschaffen zu. Wir stellen fest: Der Tonfilm, wie er sich zu Beginn der Dreissigerjahre durchsetzte, thematisierte erneut das Realitätsverständnis des Films. Mit dem Tonfilm wurde nicht nur die von den Warner Brothers geforderte synchrone Musikbegleitung ermöglicht, sondern zum Bild liess sich nun auch jener Ton binden, der als Geräusch, als Sprache, als akustische Selbstverständlichkeit zu unserer Umwelt gehört. Endlich liess sich die Realität in ihrer sinnlich visuellen und sinnlich akustischen Wahrnehmung auf der Leinwand umsetzen. Das Sichtbare und Hörbare liess sich als wirklichkeitsgetreue Selbstverständlichkeit nachvollziehen. Dabei standen einander gegenüber: verfilmtes Theater – d. h. die Reduzierung der Leinwand auf einen Theaterguckkasten und die Übernahme von Theaterinhalten, Darstellungsformen und dem dazu gehörigen Bildungsgut – und zugleich die Forderung nach Authentizität, da das Medium nun in der Lage war, die Wirklichkeit in ihrer Ganzheit aufzunehmen. In beiden Fällen wurde Film jedoch als Fiktion definiert, – als Inszenierung, d. h. entweder als optisch-akustische Aufzeichnung einer theatralischen Inszenierung oder als ganzheitliche Wiedergabe einer Wirklichkeitsinszenierung, einer Wirklichkeitsnachbildung in natürlicher oder studioabhängiger Umgebung.
Schauspieler spielen Theater – die Leinwand als Bühne des Lebens – oder sie spielen das Leben, wie es angeblich im Sinne einer realistisch-naturalistischen Fiktion ist, oder sie spielen ein Leben, wie es nur als Kinotraum sein könnte.

Bei all unseren Überlegungen blieb der Dokumentarfilm ausgeklammert. Mit Vertovs DONBASS-SINFONIE und Flahertys MAN OF ARAN setzte das Begleitprogramm der Filmstelle ETH Zeichen – und zwar im Übergang vom Stumm- zum Tonfilm, die jetzt einzuordnen sind.

Wie Sie wissen, sind die ersten Filme der Filmgeschichte, die Minutenfilme der Gebrüder Lumière, zum Teil Dokumentarfilme. Denn die Gebrüder Lumière sahen im Film in erster Linie ein visuelles, wenn möglich auch akustisches Konservierungsmittel einer in ihrer Unmittelbarkeit eingefangenen Wirklichkeit. "La nature, prise sur le vif." – "Je ne désirais que reproduire la vie", sind die Thesen von Louis Lumière: Thesen, die mit den Proklamationen des "cinéma-verité" und des "direct cinema" am ende der Fünfzigerjahre wieder aufgenommen werden. Mit der Kamera das Leben aufsuchen und es in seiner Unmittelbarkeit und brutalen Direktheit registrieren und unrevidiert auf der Leinwand wiedergeben.

Kameraleute der Gebrüder Lumière schwärmten gemäss der These in die ganze Welt. Doch entscheidend wurde die Frage: Welches Leben sollte in seiner Unmittelbarkeit aufgenommen, für die Zuschauer eingebracht, und für die Welt vermittelt werden? Welche Bilder aus der grossen Welt sollten als Bilder der Welt in die Konformität der Bilderwelt aufgenommen werden.

Die ersten Filme sind harmlose Aktualitäten, Familienfilme, Ferienfilme, Freizeitfilme, Reisefilme. Die ersten Filme sind freundliche Selbstdarstellungen einer bürgerlichen Welt in Freizeit und Musse, wobei die Arbeitswelt weitgehend ausgeklammert erscheint. Die ersten Filme sind harmlose Aktualitäten, Familienfilme, Ferienfilme, Freizeitfilme, Reisefilme. Die ersten Filme sind freundliche Selbstdarstellungen einer bürgerlichen Welt in Freizeit und Musse, wobei die Arbeitswelt weitgehend ausgeklammert erscheint. Die ersten Dokumentarfilme wollten nichts anderes, als die physische Realität wiedergegeben. Und es ist bezeichnend, dass, nachdem die Sensation der lebendig gewordenen Fotografie vorbei war, diese Form der Selbstbespiegelung sehr bald an öffentlichem Interesse einbüsste und die filmische Inszenierung einer Fiktion aber die Kino-Krise hinweghalf.

Damit erfuhr der Dokumentarfilm, wenn wir von Aktualitäten im Sinne von Nachrichtenfilmen, Reisefilmen und der Aufzeichnung exotischer Sensationen absehen, zunächst keine weiteren Entwicklung. Die Faszination "Film" lebte sich ganz im Spielfilm aus, in welchem man sich um eine für den Zuschauer nachvollziehbare Erzählstruktur bemühte.

Erste Ansätze einer neuen Sicht des Dokumentarfilms brachte das Filmschaffen im revolutionären Russland. Und zwar zwang die ökonomische Situation – der Mangel an Rohfilm – geradezu den Dokumentarfilm auf, denn es galt, jeden Meter belichteten Filmmaterials im Sinne der Revolution zu verwenden. So entstanden Vertovs Kinozeitungen (Kino Pravda) mit ihrer hektischen Montage. Auf diese Entwicklung werde im Zusammenhang mit dem russischen Film eingehen.

Im europäischen Film fand eine andere Entwicklung statt. Der Dokumentarfilm ging im Sinne der Registrierung und Montage von Materialien aus dem Bereich sichtbarer Wirklichkeit im Cinéma pur auf. Cinéma pur entstand als Antikino, als Avantgardefilm im Laufe der Zwanzigerjahre und richtete sich gegen die filmische Fiktion, die visuelle Inszenierung von Storys und verlangte die Darstellung der Wirklichkeitsmaterialien in ihrer filmogenen Wirkung. Es galt die Wirklichkeit als visuelles Material zu benutzen. So werden Maschinen gefilmt, nicht um die Maschine und ihre Funktion im Sozialbereich darzustellen, sondern um die Schönheit von Bewegungen, die Wirkung von Materialien, die Plastizität von Gegenständen, die Visualität, die sinnliche Ausstrahlung an sich, die filmogene Qualität mit allen Mitteln filmisch-visueller Gestaltung zu vergegenwärtigen.

Wenn wir unter Dokumentarfilm die Verarbeitung von nicht inszenierter Wirklichkeit, von nur in der Wirklichkeit vorhandenem Sichtbaren verstehen, wird das Cinéma pur zum Dokumentarfilm über filmische Gestaltung. Der Dokumentarfilm wird zum Film über Film. So will Ruttmans Dokumentarfilm über die Stadt Berlin: BERLIN, SINFONIE EINER GROSSSTADT eine Materialsammlung von Stimmungen und Geschehnissen, ein Kaleidoskop von Arbeit und Musse von morgens früh bis abends spät in der Stadt Berlin sein, doch die rhythmisierte Montage des Films, die präzis konzipierte Abfolge von Bewegungseinheiten, Stimmungssequenzen und Bildfolgen lassen Ruttmanns Collage-Film zu einer Darstellung der filmischen Gestaltung, insbesondere der filmischen Montage selbst, werden: ein Lehrfilm über die Montage und Collage der Stadt Berlin, die filmische Montage selbst zu thematisieren. Dass jedoch die Beschäftigung mit der sichtbaren Wirklichkeit und ihre filmgestalterische Verarbeitung auch zu einer intensiven, thematisch bezogenen Annäherung an die Wirklichkeit werden kann, lässt sich bei Joris Ivens, der neben Flaherty zum grossen Dokumentarfilmer der Dreissigerjahre wurde, verfolgen.

Im Sinne des Cinéma pur wollte er zunächst die in der Wirklichkeit innewohnenden Qualitäten des Filmischen entdecken. So drehte er 1928 DIE BRÜCKE – eine Bewegungs- und Materialstudie. "Die Anziehungskraft der Brücke bestand für mich darin, dass sie für mich ein Experimentierobjekt, mit Geräuschen, Formen, Kontrasten, Rhythmus und Beziehungen zwischen allen diesen war ..." 1929 dreht er REGEN: einen Film über die Stadt Amsterdam an einem regnerischen Tag. Die Kritik umschrieb den Film als ein "Filmgedicht", als ein "Filmpoem". Ivens sah es folgendermassen: "Meine Absicht, das Gesicht einer Stadt, Amsterdam, zu zeigen, das sich beim Regen verändert, wurde so aufgefasst, wie sie ein Poet oder ein Musiker behandelt hätte und nicht ein Reporter."

1 DE BRUG/DIE BRÜCKE

2 REGEN

Und der gleiche Joris Ivens beginnt nach seiner filmogenen impressionistischen Verarbeitung der Realitätsmaterialien als politisch subjektiv engagierter Reporter Dokumentarfilme zu drehen, die nicht die Möglichkeiten filmischer Gestaltung thematisieren, sondern die filmische Gestaltung als Voraussetzung haben, die dokumentarisch vorgezeigte Wirklichkeit für eine politische Bewusstseinsbildung zu gebrauchen.

Zu BORINAGE, 1933 entstanden, einem Film über den Streik der belgischen Grubenarbeiter und dessen Folgen, schreibt Henri Storck, Joris Ivens Mitarbeiter: "Wir wollten von den grausamen Tatsachen, die die Wirklichkeit uns entgegenschleuderte, ein so unverhülltes, nacktes, wahres Bild wie nur möglich geben. Jede ästhetische Rücksichtsnahme schien uns unanständig. Unsere Kamera war nichts als ein einziger Schrei der Empörung."

Aus der Annäherung an die Wirklichkeit, um die filmogenen Kräfte der Wirklichkeit zu entdecken, war eine Erfahrung der Wirklichkeit geworden, die es zu verändern galt. Die Authentizität des Sichtbaren sollte mit Hilfe der filmischen Gestaltung zu einer bestimmten Sichtweise der Wirklichkeit führen. Gerade bei Ivens lässt sich die Fragwürdigkeit eines auf Wirkung hin tendierende Gebrauchscharakters einer vorgefundenen Authentizität aufzeigen. Ivens begann – begründet durch die praktische Notwendigkeit – Authentizität nachzustellen, das Dokumentarische zu inszenieren. Dazu gehört auch, dass Ivens immer mehr in die politische Exotik begab: ins Unkontrollierbare – zunächst nach Russland, dann Vietnam und China. Den Anfang zu dieser Entwicklung bildet der sozial- und politische engagierte Dokumentarfilm der Dreissigerjahre. Die filmisch verbürgte Authentizität hat sich der Tendenz zu unterwerfen.

Dorothea Lange: White Angel Breadline

Tendenzen können verschieden und auch irrationalen und emotionalen Voraussetzungen unterworfen sein. So lässt sich beim amerikanischen Dokumentarfilm eine mehr nach Innen, auf Blut und Boden, auf Geschichte gerichtete Entwicklung nachvollziehen. Teilweise mit Unterstützung der Roosevelt-Administration entstand in Amerika von 1934 an eine sozialkritische Fotografie unter Dorothea Lange und ein politisch engagierter Dokumentarfilm, der von Paul Strand, Leo Hurwitz und Pare Lorentz getragen wurde. Wie sehr auch eine sozialkritische und politisch engagierte Sichtweise die Gestaltung dieser Dokumentarfilme prägte, brach immer wieder das Amerikanisch-Mythische durch. Amerikanische Landschaft und amerikanische Geschichte bilden in poetischer Verklärung den Hintergrund eines durchaus harten und brutalen Dokumentarismus. Die durch die filmische Gestaltung ermöglichte poetische Verklärung des Themas, aber auch von Landschaften, Menschen und Ereignissen erscheint sehr bald als eines der Hauptprobleme des Dokumentarfilms, und zwar in dem Moment, wie der Dokumentarfilm als eine eigenständige Filmgattung auftaucht. Damit möchte ich auf einen weiteren Entwicklungsstrang des Dokumentarfilms eingehen, der sich aus dem dokumentarischen Stummfilm der Zwanzigerjahre ergeben hat. Neben dem Gebrauch der Wirklichkeitsmaterialien zur Darstellung der Wirkung des Filmischen an sich, also neben der filmischen Selbstdarstellung und Selbstverklärung lässt sich die Tendenz romantischer Verklärung des dokumentarisch angegangenen Objektes verfolgen.

Oder in einen anderen Spannungsbereich gebracht. Lumières Vorstellung von der Selbstdarstellung der Wirklichkeit, indem man die Kamera in die Wirklichkeit hineinsetzt und die Absicht des Cinéma pur, die Wirklichkeit als Materialien für die Darstellung des Filmischen zu gebrauchen, geht in eine Haltung auf, in der die filmische Gestaltung zum Werkzeug poetischer Verzauberung, romantisierender Verklärung des Objekts wird. Diese Tendenz, Thema und Objekt in eine filmpoetisch umspielte Aura des Aussergewöhnlichen zu tauchen, setzt bereits mit den Stummfilmen Flatherys ein. Der Erfolg seines Eskimofilms NANOOK OF THE NORTH, zwischen 1920 und 1922 entstanden, löste eine Welle romantisch, verklärende Dokumentarfilme ethnologischen Inhalts aus. Diese Filme wollten einerseits – auch im Sinne einer Fluchtgebärde – fremde Welten erschliessen, stilisierten aber anderseits das, was als Dokument, als sichtbare Erfahrung einer unbekannten, Wirklichkeit gedacht war, zu einem filmischen Epos, zu visuellen Mythen und dokumentarischen Filmgedichten.

Nirgends zeigt sich die Schwierigkeit, mit der Wirklichkeit umzugehen, so sehr wie im Dokumentarfilm selbst. (Vgl. Djibouti)
Bezeichnendes Beispiel für diese Entwicklung ist Flahertys MAN OF ARAN, 1934. Ein grossartiger, mitreissender, einmaliger Film, dennoch in der Auseinandersetzung mit dem Dokumentarfilm, wie zu Beginn der Dreissiger und während der Dreissigerjahre entwickelt wurde, ist Flahertys Film über das harte Leben von Fischern und Bauern auf einer archaisch anmutenden Insel auch noch in andere Zusammenhänget zu stellen.

Von aussen betrachtet ist Flahertys Film eine gewaltige Bildsymphonie über die Urgewalt des Meeres, über die Landschaft einer Insel und über Menschen, die Leben und Arbeit in der Einheit mit den Elementen der Natur verbringen. Der Himmel ist gross, das Meer weit und wild, die Erde ist schwarz und über den Bildern breitet sich eine Dämonisierung, als wären Urzeiten wirksam. Eingebaut in die Naturmagie werden Informationen abgegeben: wie ein Acker in mühsamer Zubereitung aus Seetang entsteht, wie die Boote im Wellengang über die Klippen ins schützende Brackwasser gelangen, wie mit Harpunen ein Hai gejagt wird, alles glaubwürdig, authentisch, unverrückbar, als wäre es immer so gewesen und dass es immer noch so sei: filmisch verbürgte Authentizität.

Und hier setzt die Täuschung ein. Als Flaherty 1931 auf die Insel Inishmore der Aran-Inseln an der Westküste Irlands kam, entsprach das Leben auf der Insel bereits nicht mehr jenen mystifizierenden Naturvorstellungen, die Flaherty für seinen Dokumentarfilm, der den Titel tragen sollte "Der Mensch gegen das Meer", hegte. Statt Haie zu harpunieren, begnügte man sich mit dem Kartoffelanbau und die Harpunen rosteten im Keller. Und so inszenierte Flaherty jene Authentizität, die er anzutreffen erhofft hatte und die er nun fiktiv wieder herstellte, damit sein Weltbild romantischer Verklärung gelebt er Einheit von Mensch und Natur aufgeht. Da Flaherty 100 Jahre zu spät auf die Insel gekommen war, siedelte er mit allen Mitteln dokumentarischer Gestaltung in der Gegenwart an, was bereits Vergangenheit war. Hier ist vorgebildet, was Orson Welles in F FOR FAKE brillant demonstriert: Am Ende eines Dokumentarfilms über einen Fälscher weist Orson Welles darauf hin, dass der eben gezeigte Dokumentarfilm ein Spielfilm sei, das Authentische nur fiktiv und somit auch der dargestellte Fälscher gar nicht existiere.

Eine grosse Rolle in den Dreissiger- und Vierzigerjahren und nach dem Kriege für die Entstehung des Free Cinema spielte das englische Dokumentarfilmschaffen, das unter dem Einfluss von John Grierson zu einer eigentlichen Schule wurde, zur Schule des englischen Dokumentarfilms. Um Grierson und in den beiden Produktionsorganisationen Empire Marketing Board und General Post Office Film Unit fanden sich ganz verschiedene Dokumentaristen wie Basil Wright, Paul Rotha, Harry Watt, Humphrey Jennings. Wenn sich auch in einzelnen Filmen verklärende und mystifizierende Ansätze vorhanden sind, ist die Zielsetzung vielmehr didaktischer Art. Was Grierson als eine kreative Auseinandersetzung mit der Gegenwart, mit der Aktualität umschreibt, hat als Hintergrund die Vorstellung, dass der Dokumentarfilm eine Bildungs- und Aufklärungsarbeit zu leisten habe. The creative treatment of actualities. Dass auch im englischen Dokumentarfilm, der ganz auf die Realität bezogen sein will, das Thema Anlass filmpoetischer Darstellung sein kann, geht z. B. aus Basil Wrights und Harry Watts NIGHT MAIL hervor. Der Film beschreibt visuell minutiös, detailgenau einen Postexpresszug, der in Nacht von London nach Glasgow rast und auf voller Fahrt Post abwirft und Post aufnimmt, damit – wie die Aussage des Filmes lautet – Nachrichten aus aller Welt ihren Empfänger finden. Die Information über den Postzug wird jedoch in ein Filmgedicht verpackt. Die Tonfilmfassung kennt sogar ein dem Montagerhythmus entsprechendes Gedicht (von Wystan Hugh Auden), das der objektbezogenen Information neben der Bilddämonisierung eine zusätzliche Überhöhung, Literarisierung verleiht. Nacht und Landschaft erscheinen Shakespeare-trächtig, und man denkt eher an Hitchcocks REBECCA als an die Postangestellten, die hart zwischen London und Glasgow Nacht für Nacht arbeiten.

Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde der Dokumentarfilm Teil der kriegsbedingten Propagandafilme. Eines der berühmtesten Beispiele propagandistischer Zielsetzung englischen Dokumentarschaffen ist Humphrey Jennings LISTEN TO BRITAIN, 1941: ein Propagandafilm, der England als einen Hort des Lebens, der Kultur und weltweiter Einflussnahme über BBC erfahren lässt. Draussen in der Welt ist der Krieg, doch drinnen an der Heimatfront blüht – selbst in den Luftschutzkellern – ein intensives reiches Kulturleben. Man hat nur auf England zu hören. England hält durch, lässt sich nicht in die Knie zwingen. Bezeichnend für Jennings Film ist der Feind – Deutschland, Hitler, das Geschehen an der Front – bleibt ausgeklammert. Anwesend ist das im Krieg überlebende, lebende England.

Die filmgeschichtliche Information – mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde der Dokumentarfilm Teil des kriegsbedingten Propagandafilms – zeigt die enge Verstrickung der Filmästhetik des Dokumentarfilms mit der jeweilig politischen, gesellschaftlichen und aktuellen Situation auf. Jene  Filmgattung, die sich zutiefst der Annäherung an die sichtbare und hörbare Wirklichkeit verpflichtet fühlt, ist zugleich das für die Propaganda geeignetste Medium. Die filmische Gestaltung vermag ein Höchstmass an Vertrauen in die Authentizität des angesungenen Objektes abzugeben. Nicht das mit der Kamera und dem Tonband registrierte Objekt löst das Vertrauen in die aufgezeigte Realität aus, sondern die Machart ist die Voraussetzung, dass die registrierte Realität als wahrhaftig erscheint.

Bevor wir uns anhand des nationalsozialistischen Dokumentarfilms weiter auf diese Problematik einlassen, möchte ich Sie mit zwei Filmen konfrontieren, die Ende der Zwanziger und zu Beginn der Dreissigerjahre entstanden, modellartig Möglichkeiten des Dokumentarfilms spiegeln. Marcel Carnés erster Film: NOGENT, ELDORADO DU DIMANCHE, ein Film hingehauchter Beobachtungen, und Luis Buñuels Annäherung an die Wirklichkeit in seinem 1932 entstandenem Dokumentarfilm LAS HURDES.

Marcel Carnés erster 1929 entstandener Film NOGENT, ELDORADO DU DIMANCHE galt als verschollen und wurde durch die Filmzeitschrift "L'avant-Scène du Cinéma" 1969 wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Auch die Cinémathèque in Lausanne besitzt eine sehr schöne Kopie dieses Films. Mit 20 Jahren wurde Marcel Carné nach einer Lehre bei einer Versicherungsgesellschaft Regieassistent bei Jacques Feyders Film LES NOUVEAUX MESSIEURS. Von Feyder und Françoise Rosay erhielt er, da er vom Film und besonders von der Fotografie fasziniert schien, eine 35mm-Kamera, Filmmaterial und eine minimale finanzielle Unterstützung, um einen Dokumentarfilm drehen zu können. Und so ging Carné an den freien Sonntagen nach Nogent, um einen Film ohne Geschichte zu drehen, das "wirkliche Leben", das Authentisch-Reale aufzunehmen. "Je veux faire un film sans histoire, enregistrer de la "vie vraie", du "réel authentique". An diesen Sonntagen entstand ein kleines filmisches Bijou von 16 Minuten. Auf diesen Film möchte ich näher eingehen. Ein filmisches Bijou, das uns aber zugleich ein anschauliches Bild von den Freizeit- und Konsumgewohnheiten eines bürgerlichen und kleinbürgerlichen Paris einige Monate vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise vermittelt. Sonntagmorgen früh schon fahren die Ausflügler – der ganze Film ist auch nichts anderes als ein grosser Ausflug, eine einzige Evasion – fahren die Ausflügler in vollgestopften Zügen nach Nogent, einem verschlafenen stillen Ort an der Marne. Wie ein "Heuschreckenschwarm" überfallen sie die Freizeitlandschaft,  bevölkern sie die Strassen, die Tanzcafés und Gartenrestaurants, belagern sie die Monet-geprägten Ufer der Marne, ergeben sich erholsamer Musse oder treiben Sport, besonders Rudersport. Im impressionistisch glitzernden sonnenflimmernden Wasser tummeln sich die Badenden in schwarzen Tricots. Und an den Ufern finden sich jene Tableaus, wie sie die Impressionisten vor dem 1. Weltkrieg malten und Cartier-Bresson in den Dreissigerjahren als Wirklichkeit fotografierte und Jean Renoir als Fiktion inszenierte (UNE PARTIE DE CAMPAGNE).

Carné dreht 1929, gleichsam zwischen den Zeiten, einen Dokumentarfilm, als hätte sich nichts verändert und als wäre nichts zu verändern. Carnés NOGENT ist als unprätentiöser Dokumentarfilm, da er nur wiedergeben will, was die Kamera sieht, ohne Wertung und selektiver Realitätsideologie. Und gerade deshalb wird Carnés Dokumentarfilm Dokument der Freizeitgewohnheiten und gesellschaftlicher Verhaltensformen: Im Sonntagsstaat fährt man an die Marne. Trotz der Hitze tragen die Männer ihre Krawatten, behalten ihre Hüte und Mützen an. Wie bei anderen Filmdokumenten – von Lumières Reportagen um die Jahrhundertwende bis zu Ruttmanns Berlinfilm – spiegeln die verschiedenen Kopfbedeckungen die gesellschaftsspezifische Zugehörigkeit: Je höher und schwärzer der Hut, umso bürgerlicher und grossbürgerlicher, je flacher die Mütze, umso proletarischer. Dazwischen Maurice Chevaliers keckes flaches Strohhütchen, Zeichen jugendlicher Unverfrorenheit.

Die Frauen tragen – noch sind wir in den Zwanzigerjahren – kurze Röcke, weisse und schwarze Strümpfe, schicke Hüte und selbst Pelzstolen – Nogent an der Marne im Sommer 1929: eine Promenade sonntäglicher Eleganz. Der Film gibt nicht nur Auskunft über eine Freizeit- und Konsumgesellschaft, die – wie heute – für wenige Stunden der Grossstadt entflieht, nur heisst der Film der Siebzigerjahre WEEKEND, sondern Andeutungen weisen auf mögliche Geschichten hin – Geschichten, die andere zur gleichen Zeit erzählen und Carné auch einmal erzählen wird: Täglich findet "Le Bal pour noces en promenades" statt, und zwischen "Moules" und "Frites" werden "Chambres meublées" angeboten. Doch die Kamera bleibt diskret. Carné ist nicht Brassai, der zur gleichen Zeit in die Zimmer steigt. Die Geschichten blenden aus, bevor sie begonnen haben. Sie bleiben eine erzählerische Momentaufnahme: die Kamera spürt eine Frau auf, die für sich allein Blumen pflückt. Am Abend werden sie ihr verwelkt in ihren Händen hängen – die Geschichte ging noch eine Einstellung weiter, aber wir werden ihr Zimmer nicht sehen, wenn sie spät abends wieder in Paris sein wird, in ihrer Wohnung, und die Blumen in den Eimer geworfen werden.

Für Momente folgt die Kamera zwei Männern, die zwei Mädchen nachgehen und eine flüchtige Bekanntschaft versuchen, doch die Geschichte von Siodmaks MENSCHEN AM SONNTAG, von Fejos LONESOME findet nicht statt. In der dokumentarischen Andeutung hat die Fiktion nichts zu suchen, nur die Materialien dazu werden sichtbar, für spätere Filme verfügbar.
Einen Film ohne Geschichte wollte Carné, aber das Sichtbare ist voller Geschichten, die es zu erzählen und zu filmen gäbe. Sie hängen im Raum, spürbar, aber nicht ausgesprochen. In dieser offenen Filmform liegt der Unterschied zu Ruttmanns bewusst gestaltetem Montage-Querschnittfilm BERLIN, SINFONIE EINER GROSSSTADT, zu Vigos engagiert sarkastischer Bosheit in À PROPOS NICE und zu Vertovs pointilistisch propagandistischen Materialsammlung.

Zwar beginnt Carnés Film mit vorbeiflitzenden Drähten, mit sich drehenden Signalen, Stakkato-Lichtevokationen wie ein musikalisch konzipiertes Cinéma pur, zwar spielt die Kamera mit grellen Lichteindrücken, versucht selbst in tänzerischer Bewegung schwenkend, auf Schaukeln schwebend, auf Gleitbahnen niederfahrend, Teil sonntäglichen Vergnügens, freizeitlicher Lust zu werden. Doch die Bilder reihen sich ohne Kontrast, ohne ironische Hinweise, gleichsam ohne Absicht aneinander, Teile des authentischen Lebens, wie es sich eben an einem Sonntag ergibt: visuelle Auskünfte über die Sonntage 1929 in Nogent an der Marne.

Nur am Ende des Films taucht ein Motiv auf, das auf den kommenden Carné hinweist, der die Realität einer subjektiven Interpretation unterwerfen wird: Damit wird die Wirklichkeit poetisches Material für den Aufbau einer auch literarisch bestimmter Zeichnung der Wirklichkeit: Während der Abend einbricht, Nogent wieder zum sanften stillen Ort an der Marne wird, spielt der Blinde seine Handharmonika ohne Unterlass weiter, als hätte der Sonntag kein Ende gefunden. Denn für den Blinden bedeutet das Einbrechen der Nacht keine Veränderung der Zeit. Seine Schwärze ist nicht unsere Schwärze. Unser Licht kennt er nicht und somit auch nicht das Ende des Tages.

Schauen wir uns Carnés erster Film NOGENT, ELDORADO DU DIMANCHE an.

4 NOGENT, ELDORADO DU DIMANCHE

Die filmgeschichtliche und filmästhetische Entwicklung zeigt auf: Aus einer nicht kritischen Selbstdarstellung der Wirklichkeit, einer Sonntagsmalerei der Wirklichkeit, verbunden mit einer durchaus verständlichen Faszination vor den Möglichkeiten filmischer Gestaltung (siehe Cinéma pur) ergab sich der verklärend romantisierende Dokumentarfilm. (Beispiel Flaherty)
Gegenstück zu dieser Entwicklung ist Buñuels 1932 entstandene Dokumentar-Reportage über eine trostlose, weit abgelegene Landschaft und deren im Elend lebenden Bewohner: LAS HURDES. Die Grundstruktur von Buñuels Film ist bezeichnend. Über das Bild findet eine gnadenlose Annäherung an die vorgefundene Wirklichkeit statt. Dazu steht kontrapunktisch der Ton: der Text von Pierre Unik distanziert, ohne Engagement gesprochen, begleitet informativ das Bild, als würde es sich um einen geografischen Lehrfilm für den Schulunterricht handeln. Zum kontinuierlich fortfahrenden Informationstext, der allgemein verbindliches Wissensvermitteln, fliesst Brahms 4. Sinfonie ebenso kontinuierlich als romantisch-melodiöser Background dahin – bekanntes europäisches Kulturgut, das sich emotional widerstandslos goutieren, konsumieren lässt.
Buñuels Kamera lässt uns zunächst im Dorf vor den Bergen, welche die Zivilisation von der verlorenen Landschaft Las Hurdes trennen, verweilen, wohin keine Strasse führt. Doch inmitten von blühenden Bäumen, fliessendem Wasser, inmitten fruchtbarer Gegend von paradiesischer Idylle taucht eine Kröte auf, wird eine Schlange zum Zeichen mythischer Bedrohung.
Über schöne Bilder dringt die Kamera in eine steinige, unwegsame Landschaft ein, in der noch nie ein Lied gehört wurde – eine Landschaft ohne Musik, Tanz und Gesang und dies in Spanien, einem Land, das Musik, Tanz und Gesang assoziiert.

LAS HURDES

In Buñuels Realitätsannäherung wird alles Sichtbare gleichwertig, Steine, Tiere, Menschen. Schwein und Kind trinken aus dem gleichen Wasser. Die Bilder erhalten die Ausstrahlung des bösen Blicks. So wie die Kinder böse in die Kamera schauen, wird die Umwelt unnahbar, undurchdringlich, obwohl die Kamera immer mehr eindringt, penetrant hinschaut, und mitleidlos registriert: so in der Schule. Kahl geschorene Kinder sitzen da. Im Hintergrund hängt das Bild einer schönen Frau in Krinoline und an der Wandtafel steht als Lehrstoff der Merksatz: "Respectez les biens des autruis".
Sachlich hingeworfen, liefert der Film Textinformationen, untermalt vom bürgerlich musikalischen Bildungsgut: Die Hälfte der Bewohner ist krank. Ein Mädchen lag bereits drei Tage in der Gasse, jetzt ist es tot.

Bienen greifen einen Esel an, der die Waben zu den Herren in Salamanca führt. Eine Stunde später ist der Esel tot. Hunde zerfetzen das übriggebliebene Fleisch. Mücken bringen das Fieber. Das Schwein, das geschlachtet wird, wird in drei Tagen aufgegessen. Dann ist wieder Hunger. Wie Wilde leben die Cretins, die Dorftrottel, die Schwachsinnigen und Krüppel in der Umgebung des Dorfes. Ein Kind liegt im Sarg, daneben sitzt die Mutter in schöner Erstarrung. Am prachtvollsten sind die Kirchen: Barocke Feste von Glanz und Gold inmitten der Armut. Ohne Geld und ohne Brot ziehen die Männer weg, neuer Arbeitslosigkeit entgegen. Weit entfernt liegt der Friedhof, als hätte der Tod in dieser trostlosen Einöde nichts zu suchen.
Eine Reportage, die der Kommentator mit den Worten abbricht: "Nach einem Aufenthalt von zwei Monaten in den Hurdes verlassen wir das Land." Der Alptraum ist vorbei, der Zuschauer sieht sich entlassen. Offen bleibt die Frage nach der Veränderung in einem Land, das Millionen Bauern kennt, aber 20 000 Landbesitzer die Hälfte des Landes innehaben. Weitere Zahlen: 31 000 Priester, [?] Nonnen, 5000 Klöster, von 5000 Offizieren sind 800 Generäle. Einer heisst Franco und weilt in dieser Zeit noch in Marokko.

Für Buñuel sollte LAS HURDES ein Agitationsfilm sein, der, obwohl 1932 in der Zeit der republikanischen Regierung unter Alcala Zamora entstanden, erst 1936 – in der Bürgerkriegssituation – für öffentliche Vorführungen freigegeben wurde. Innerhalb der Geschichte des Dokumentarfilms ist Buñuels Film Beispiel für jene filmische Wirklichkeitsannäherung, die in ihrer unmittelbaren Direktheit vorgenommen, das vorgezeigte Material zu einem bösen Traum werden lässt. In diesem Sinne ist es nicht verwunderlich, dass filmgeschichtlich LAS HURDES als ein surrealistischer Film eingestuft wird, weil man es vorzieht, die sichtbar gemachte Wirklichkeit in die irrealen Bildträume zu verweisen.

Und dieser Prozess findet auch anderweitig statt: z. B. wenn wir den nationalsozialistischen Dokumentarfilm aufgreifen und uns weigern, ihn als Dokument einer Zeit zu nehmen und ihn nicht einfach als Propagandafilm abzutun, abgesehen davon – auch die Propaganda ist historische, gesellschaftsimmanente Realität. Damit wende ich mich dem deutschen Film der nationalsozialistischen Zeit zu und zwar zunächst einmal dem Dokumentarfilm. Das nationalsozialistische Kino kennt im Bereich des Spielfilms nur wenige Propagandafilme, d. h. Filme, die eine bestimmte ideologische Zielsetzung hatten, die es galt über eine verständliche Erzählstruktur dem Zuschauer nahezubringen. Mit diesen wenigen Propagandafilmen hat sich die Forschung ausdrücklich beschäftigt.

Das Propagandistische am nationalsozialistischen Film war, dass er eben nicht politisch, nicht nationalsozialistisch, nicht Lehrfilm, sondern ganz einfach nur gut bis brillant gemachte Unterhaltung war, die jene Werte vermittelte, die vor 1933 und ebenso sehr nach 1945 gültig waren. Deshalb ist das nationalsozialistische Kino – eine Feststellung, die man, schon gar nicht mehr zu sagen wagt, weil sie so selbstverständlich geworden ist – deshalb ist das nationalsozialistische Kino am deutschen Fernsehen anwesend, – dass die Bundesrepublik oder die Schweiz Schaden leiden würde.
Denn es sind keine nationalsozialistische Filme, sondern höchstens konservative Filme aus nationalsozialistischer Zeit. Und was unterscheidet diese Filme von der Adenauer-Ära? Die Frage ist nur: Und wenn sie doch nationalsozialistisch wären, auch wenn sie es nicht sind? Denn für Goebbels waren auch diese Filme nationalsozialistische Filme. Mit dieser Frage und mit dem Spielfilm werden wir uns das nächste Mal beschäftigen. Ich werde Ihnen auch einige Ausschnitte vorführen.

Wenn wir von den wenigen, immer wieder als Paradebeispiele genannten Spielfilmen absehen, bekam nicht der Spielfilm den Auftrag, politisch-propagandistische Bewusstseinsbildung zu treiben, obwohl über Fiktion und Illusion sich gesellschaftliche und politische Verhaltensformen nachvollziehen und magisch identifizierend einüben lassen, sondern der Dokumentarfilm. Der Dokumentarfilm erhält den Auftrag, die Wirklichkeit als eine magisch faszinierende Fiktion zu handhaben. Damit wird der Dokumentarfilm auch zum Zeitdokument.

So haben wir zwei Aspekte einzubeziehen.
Wir haben uns einerseits mit dem Dokumentarfilm als einem Medium der Informationsvermittlung zu beschäftigen, anderseits haben wir durch die Fragestellung über die vermittelte Information den Dokumentarfilm als ein Zeitdokument zu analysieren.
Auf einen Film möchte ich jetzt noch näher eingehen, da er geradezu modellartig Filmästhetik mit vermittelter Ideologie in einer bestimmten historischen Situation verbindet. Es handelt sich um die berühmte UFA TONWOCHE 451, die Hitlers 50. Geburtstag zum Thema hat.

5 UFA TONWOCHE NR. 451

Ausschnitte: 1. Die Wochenschau, 2. Festliches Nürnberg und der kleine Kurzspielfilm RÜSTUNGSARBEITER, 3. der antirussische Propagandafilm SOWJETPARADIES, 4. Veit Harlans berüchtigster JUD SÜSS und in der frz. Fassung, wie er in Frankreich mit grossem Erfolg eingesetzt wurde: jener Film, da 1940 Himmler den Befehl gab, dss die gesamte Waffen-SS und die Polizei ihn anzuschauen habe.

Um die propagandistische Zielsetzung zu klären, schauen wir uns zunächst die zeitliche Einordnung der Wochenschau an. Am 19. und 20. April 1939 fanden die Geburtstagsfeierlichkeiten für Hitler statt. 5 Tage später gelangt die UFA WOCHENSCHAU 451 in den Einsatz und wird bis Mitte Juni gezeigt. Um die zeitliche Einordnung der Wochenschau zu verstehen, muss einbezogen werden, dass die Wochenschau zwar Hitlers Geburtstag zum Thema hat, aber in Wirklichkeit eine gigantische Machtdemonstration der Wehrmacht zeigt.
Hitler feiert seinen Geburtstag. Er wird vom deutschen geehrt. Das Gegengeschenk an das lebendige Volk ist die gewaltige Ordnungsmacht einer schlagkräftigen Armee, in welcher das Volk zur Ordnung diszipliniert auf kommende Aufgaben wartet, – dem Führer zur Verfügung gestellt.
Dieses Grundkonzept des Films, das wir anschliessend uns noch näher anschauen werden, ist in folgende historische Zusammenhänge zu stellen.

Am 12. März 1938 war der gewaltlose Anschluss Österreichs an das deutsche Reich erfolgt. Durch das Abkommen von München, 29./30. September werden die sudetendeutschen Gebiete ebenfalls friedlich dem Reich übergeben.
Am 7. Oktober 1938 erhält Josef Tiso, der Chef der slowakischen Volkspartei die innere Autonomie für die Slowakei, und im November folgt auf Edvard Benes in Prag Emil Hacha.
Am 14. März 1939 erklärt Tiso die slowakische Unabhängigkeit und stellt sich unter den Schutz des deutschen Reiches. Am Tage darauf, am 15. März, stimmt Hacha in Berlin unter Druck der Schaffung eines Reichprotektorates Böhmen-Mähren zu. Am gleichen Tag marschieren die deutschen Truppen – friedlich – in Prag ein. Freiherr von Neurath übernimmt die Verwaltung des Protektorates – am 16. März, also ein Tag nach dem Einmarsch der deutschen Truppen.
Rund einen Monat später nach der friedlichen Lösung des tschechoslowakischen Hindernisses am 19./20. April finden, wie schon gesagt, Hitlers Geburtstagsfeierlichkeiten statt. Während die UFA Wochenschau in den deutschen Kinos läuft, sind die folgenden Ereignisse zu verzeichnen: Am 28. April, also drei Tage nach Erscheinen der Wochenschau, hält Hitler eine Rede, in der er den amerikanischen Präsidenten als den Narr im Weissen Haus apostrophiert und das deutsch-britische Flottenabkommen und den deutsch-polnischen Nichtangriffpakt kündigt. Am 22. Mai kommt es zum Militärbündnis zwischen dem deutschen Reich und Italien, dem sogenannten Stahlpakt.
Einzubeziehen sind noch die Nichtangriffverträge des friedlichen Reiches mit Lettland (7. Mai), Dänemark (31. Mai) und Estland (7. Juni). Mitte Juni wird die Wochenschau aus den Kinos zurückgezogen. Am 23. August wird der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt unterzeichnet und am 1. September marschiert die Wehrmacht, nun nicht mehr friedlich, in Polen ein.

Die UFA Wochenschau dauert 18 Minuten 47 Sekunden. Von den 256 Einstellungen des Films sind 28 Einstellungen mit Kommentar versehen. Er lautet folgendermassen. Achten Sie darauf, wie die eben geschilderten Ereignisse als Kommentar im Film erscheinen, wobei praktisch der ganze Text im ersten Teil des Films, da Hitler von allen Seiten beglückwünscht wird, sich findet:

Vorbereitungen zum fünfzigsten Geburtstag des Führers. Dem Schöpfer. Großdeutschlands gelten Dank und Glückwunsch der ganzen Nation. Unaufhörlich werden aus allen Gauen des Reiches und aus allen Schichten des Volkes Geschenke für den Führer in die Reichskanzlei gebracht. Aus aller Welt treffen Gäste in Berlin ein. Am Vorabend des Geburtstages übergibt der Generalbauinspektor für die Reichs Hauptstadt, Professor Speer, dem Führer die fertiggestellte Ost-West-Achse. Vom Großen Stern grüßt die neuerstandene Siegessäule.
Das Ständchen der Leibstandarte eröffnet am Geburtstagsmorgen den Reigen der Gratulanten. Der slowakische Ministerpräsident Dr. Tiso. Reichsprotektor Freiherr von Neurath und Staatspräsident Hacha.

Die Truppen formieren sich zur Parade. Es beginnt die größte Heerschau des Dritten Reiches. Viereinhalb Stunden lang ziehen die Formationen aller Waffengattungen an ihrem Obersten Befehlshaber vorüber. Fallschirmjäger. Eine motorisierte Infanteriedivision. Eine verlastete Panzerabteilung. "Fahnenbataillon – Halt!".

Das ist der ganze Kommentar. Und jetzt das Bild.

In einem ersten Teil wird der Aufmarsch des deutschen Volkes gezeigt. Es geht freudig, natürlich, ja reichlich chaotisch zu. Das Volk, wie es leibt und lebt, wartet seinem Führer auf, ungeordnet, durchaus sympathisch, direkt, organisationslos. Die Tonpartitur setzt sich aus verschiedenen musikalischen Elementen zusammen, systemlos. Die Nah- und Grossaufnahmen dominieren. Die Einstellungen folgen rasch aufeinander. Das Schnittmuster ist schnell, eine knapp hingeworfene Collage: Vorbereitungen zum Fest, Machtinsignien, Herrschaftssymbole, Fahnenstrasse, Geschenke für den Führer, Gäste aus aller Welt, plastisch ausgeleuchtete Monumente. Das ganze pointilistisch, impressionistisch, ungeordnet chaotisch – direkt eingefangenes Leben!

Dann setzt die Parade ein. Das Brandenburger Tor ist gleichsam die Grenze zwischen völkischem Chaos und militärischer Ordnung. Durch das militärische Ordnungsprinzip wird das lebendige Volk zur geometrischen Macht gezwungen; die Armee erzieht die Individuen zu einer schlagkräftigen, gehorsamen Masse, die sch wie eine Maschine bewegt. Die militärische Masse, präzis funktionierend, ist der neue Frankenstein.
Die Ästhetik des Films selbst löst dieses Gefühl aus. Jetzt folgen lange Einstellungen, wie der Führer zuerst im offenen Mercedes die geometrisch gestaltete Armee abfährt und anschliessend die Armee an Hitler geometrisch vorbeizieht.
Die einzelnen zur gewaltigen Masse geordnet, werden in Totalen erfasst, in denen die Individuen im der Marschstruktur untergehen. Teleaufnahmen lassen die Masse zu einem kompakten Block werden. Während im ersten Teil eine rasche Montage die Information dramatisierte und möglichst viele Informationen abgab, wird die Parade einer ausführlichen Anschauung ausgesetzt. Die Kamera verweilt auf dem Objekt, sieht von weitem den geometrischen Veränderungen zu. Nicht durch die Montage, sondern durch die genaue zeitlich andauernde Beobachtung wird die Parade mächtig. Die militärische Macht demonstriert sich selbst.
Gerd Albrecht hat in einer Untersuchung über diesen Film Folgendes herausgearbeitet: 81% der Totalen finden sich bei den militärischen Aktionen. 75% der Nah- und Grossaufnahmen sind die Einstellungsteile einer auf Tempo angelegten Montage der nichtmilitärischen Aktionen. Hinzu kommt, dass die Parade als eine Inszenierung – durchaus opernhaft oder auch expansiv – in den Raum gelegt erscheint. Bei der Parade wird vordemonstriert, was Wochen später auf die Landkarte übertragen wird. Die Wochenschau hat eine Zielsetzung: die Dominanz des Militärischen herauszuarbeiten. Dem wird bis zu einem gewissen Grad auch der Geburtstag des Führers unterworfen.

Denn für die kommenden Aktionen braucht es die Apotheose der Wehrmacht. Sie ist das Instrument für jene Macht, die nach geglückter Tat auf den Führer hinüber schwingt. Dass diese Ideologie zugleich sich in einer angewandten Filmästhetik manifestiert, zeigt sich in einer Wochenschau mit der Nummer 451: Gebrauchsware politischer Meinungsbildung.

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