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Seminar für Filmwissenschaft

Viktor Sidler: Kino der Dreissiger- und Vierzigerjahre

Vorlesung 2

Zu den wenigen in Hollywood, die den Tonfilm nicht ablehnten, gehörte David W. Griffith, der bereits 1921 mit der Vertonung seines Stummfilms DREAM STREET den Tonfilm versucht hatte, jedoch erfolglos. Nach der Premiere von DON JUAN am 6. August 1926 schickt er dem Tonfilm ein Willkomm[en] voraus, "weil er der stummen Leinwand die Magie der menschlichen Stimme bringe sowie alle Geräusche der Natur, die intimsten wie die erhabensten, vom Gesang der Nachtigall bis hin zum Tosen des Niagara" (La révolution du parlant, S. 80, Topelitz II, S. 24).
Griffith selbst wird am Tonfilm scheitern. Sein erster Tonfilm ABRAHAM LINCOLN (1930) beendet seine Karriere. Er dreht noch einen Film (THE STRUGGLE, 1931), dann zieht er sich in sein Privatleben zurück. Selbst für jenen, der dem neuen Film begeistert begrüsste, geht eine Epoche zu Ende. Mit dieser kleinen Geschichte wende ich mich dem Umbruch zu.

Als die Warner Brothers in Absprache mit der Western Electric das Vitaphone-System übernehmen und am 6. Oktober 1927 mit Croslands THE JAZZ SINGER sich vor dem Bankrott retten konnten, war es ihnen nicht um eine neue filmische Gestaltung, um die Gewinnung neuer Themen und Formen gegangen, sondern um eine finanzielle Sanierung – und eine rationelle Lösung der sehr aufwendigen live Musikbegleitung. Statt unzählige Musiker in den Tausenden von Kinos einzusetzen, sollte der Tonfilm ein ganzes Symphonieorchester auf der Synchronplatte mitbringen. Zudem war die Musikbegleitung nicht mehr von den Zufälligkeiten der jeweiligen Filmvorführung abhängig, sondern konnte emotionell richtig gesteuert die Wirkung des Films erhöhen. Auch war damals Mode geworden, was ebenfalls finanziell sehr aufwendig war, Orchester, besonders Jazzorchester, mit Music-Hall-Attraktionen vor der Filmvorführung auftreten zu lassen.

Mit dem Tonfilm hofften die Warner Brothers auch diese zusätzlichen Ausgaben einsparen zu können. Grundidee war also, alles, was sich vor der Leinwand, ja sogar vor der Filmvorführung abspielt, als akustische Attraktion in die Leinwand zu legen. (Ich erinnere mich noch, wei ich als Jugendlicher in Marseille einen Film an der Cannabiere anschaute vor der eigentlichen Filmvorführung trat live eine Striptease-Tänzerin auf.)

Mit der "JAZZ SINGER"-Premiere waren Tonmöglichkeiten für den fiktionalen Film, den Spielfilm, aufgedeckt worden, zunächst einmal mit Musik- und Gesangsszenen, dann fanden sich aber auch Ansätze zu einem unmittelbaren Dialog.

Für den Dokumentarfilm entdeckte William Fox den Ton. Auch bei Willam Fox bilden finanzielle Schwierigkeiten den Hintergrund für ein Innovation. Fox interessierte sich für das Lichttonverfahren. 1927 ergänzte William Fox die bereits 1925 von Theodor W. Case und Earl Sponable erworbenen Patente mit dem von der schweizerischen Finanzgruppe verkauften Triergon-Verfahren, musste jedoch aus finanziellen Gründen die Patente an die bereits uns wohlbekannten American Telephone and Telegraph Company für notwendige Kredite abgeben, bekam aber dafür die Alleinrechte auf Western Electric Apparaten Tonwochenschauen aufzunehmen und zu verbreiten. Dieses ebenfalls von der Western Electric angebotene Tonsystem hiess Movietone und war ein Lichttonverfahren.

Bereits vor der Premiere von JAZZ SINGER erlebt William Fox im Sommer 1927 den Druchbruch seiner Wochenschau "Fox Movietone News" – Fox tönender Wochenschau. Er bringt eine Lindbergh-Dokumentation: ein Interview mit Lindbergh, ohne Zwischentitel, sodass der Zuschauer unmittelbar die Stimme jenes Mannes im Kino hören konnte, der mit seinem kleinen, weissen, wackligen Flugzeug "The Spirit of St. Louis" den Atlantik überquert hatte. Man sah nicht nur, sondern hörte auch den Start des Flugzeugs, das über den Rasen holperte, dann der rauschende Empfang in Manhattan, das in den weissen Konfetti versinkt, als würde die Stadt eingeschneit, und dann begrüsst der amerikanische Präsident den Helden der Nation: klar und deutlich. Zehn Minuten lang soll das Publikum im Kino Roxy stehend applaudiert haben. Die Verbindung von Bild und Ton schafft jene Authentizität, die dem Zuschauer das Gefühl gibt, er wäre selbst dabei. Fox entdeckt die dokumentarische Illusion.

Und da es nun um die Wirklichkeit geht, um die authentische Wahrheit, beginnen die Grossen der Welt für die Tonfilmkamera zu posieren. Neben Bernhard Shaw spricht Benito Mussolini in die Kamera und stellt in Caesaren Position sich selbst dar. Ende 1927 sind bereits um die 80 Aufnahmeteams – man fühlt sich an die Anfangszeit der Gebrüder Lumière erinnert – in aller Welt unterwegs, um als "Augen und Ohren der Welt" (The Eyes and the Ears of the World) die Welt visuelle und akustisch in den Kinosaal zu bringen.
Aufschlussreich ist, dass die damaligen Wochenschauaufnahmen nicht von einem Sprecher zugedeckt wurden, sodass tatsächlich die Bilder auch akustisch anwesend zu sein vermochen.
Denken Sie einmal an die Angst der schweizerischen Tagesschau, Aufnahmen zu zeigen, die nicht zugleich auch von einem Kommentator informativ beschwatzt werden (vgl. Ermordung Sadats: ZDF zeigt die Tat, insbesondere das Travelling, da der Kameramann in Deckung sprang, dazu den Originalton, die Schreie, die Schüsse; bei der schweiz. Tagesschau wurde drauflos informiert.) – Beschäftigung mit Filmgeschichte schliesst nicht aus, auch den gegenwärtigen Film, die gegenwärtigen visuellen Medien etwas näher anzuschauen.

Fox Movietone News im Sommer 1927 und Warners THE JAZZ SINGER hatten schlagartig die Erfolgsmöglichkeiten des Tonfilms aufgedeckt. Kurz vorher, noch 1927, hatten die Filmkonzerne ein "Gentlemen's agreement" abgeschlossen, sich auf keinen Fall auf irgendwelche Tonexperimente einzulassen. Metro-Goldwin-Mayer, Paramount, Universal und United Artists, wie die Hollywood-Giganten hiessen, stellten sich geschlossen gegen die beiden Aussenseiter Fox und Warner Brothers.
Sie waren nicht gewillt, jene Investitionen und Umgestaltungen vorzunehmen, die mit dem Ton verbunden waren. Denn mit der Einführung des Tonfilms müsste sich eine ganze Produktionsstruktur ändern, würden die Verträge mit den Stars hinfällig, die vielfach ohne Stimme waren, müssten neue Studios gebaut werden, die für Tonaufnahmen geeignet sind, müssten zehntausende von Musikern entlassen werden und Tausende von Kinos mit neuen Apparaten versehen werden. Was jedoch für die einen wie eine Katastrophe aussah und teilweise auch eine war, erschien anderen als die Möglichkeiten, die Filmproduktion als eine wichtige national und internationale Produktionsstätte in den Griff zu bekommen. 1928 wird die Vereinbarung gegen den Tonfilm aufgehoben. Sie war bereits überflüssig geworden.

Denn über die Einführung des Tones haben weder die Filmkonzerne mit ihrem Verleih und ihren Kinoketten noch die Filmschaffenden entschieden, sondern einzig und allein die Banken von Manhatten: die Verbindung der Wallstreet Finanzwelt mit der Telefon-, Telegraf- und Elektroindustrie. Endlich gelang es, die seit MItte der zwanziger Jahre sich anbahnende Entwicklung zu vollenden. Die Geldgeber übernehmen die Kontrolle über die filmischen Produktionsstätten. Die Rentabilität des Films war 1927 stark zurückgegangen. Die Einführung des Tonfilms war nur möglich mit HIlfe der Banken. Das grosse Geschäft bestand darin, als Geldgeber den Film zu retten und zugleich die Filmproduktion vom Geldgeber abhängig zu machen, der – nach ausgewiesenem Erfolg — schliesslich kassiert.
An die Oberfläche drang jedoch nur, dass die Elektroindustrie ihre Patente in die Auswertungsphase umsetzen will.
Feststellbar ist nur, wie aus dem Stummfilm ein Tonfilm wird. Das ist die Oberfläche: Die Veränderung der Leinwand. Auch wissen wir, dass Hollywood den Tonfilm nicht will.
Zugleich lässt sich beobachten, wie das Publikum nach der ersten freudigen Überraschung der geschwätzigen, unfilmischen langweiligen Filme müde wird, die mit der statischen Kamera und den langen Einstellungen wie abgefilmtes Theater wirken.

Im Mai 1929 führt die Los Angeles Times eine grossangelegte Meinungsumfrage durch. Ergebnis:

56 % behaupten, den Stummfilm dem Tonfilm vorzuziehen.
80 % sind gegen das Verschwinden des Stummfilms.
55 % sind gegen Filme mit musikalischer Synchronisation. Sie wünschen also weiterhin eine Live-Begleitung. So nostalgisch schon damals.
73 % sind gegen filme mit Sprechdialogen. Sie ziehen also den Zwischentitel vor.
51 % gestehen, dass sie überhaupt kein Interesse für den Sprechfilm – also für synchronisierte Dialoge – haben.

Und dennoch lagen Fox und die Warner Brothers richtig: Die für die Auswertung der Apparate haben sie ihre Unabhängigkeit aufgegeben.

Hinter der Oberfläche fand ein Finanzkampf statt – nämlich zwischen den beiden Finanzgewaltigen: Rockefeller und Morgan. Warners "Vitaphone" und Foxs "Movietone" waren beide Patentauswertungen der Western Electric, die der American Telephone and Telegraph Company gehörte, welche die entscheidenden Patente besessen hatte. Dahinter stand als mächtiger Kreditgeber Morgan. Der andere Konzern, der sich für die Auswertung der Tonfilmpatente interessierte, war die Radio Corporation of America, die mit der Chase National Bank verbunden dem Einflussbereich Rockefellers angehörte. Radio Corporation of America besass ein Tonfilmpatent "Photophone" der General Electric Company.

Gleich wie die Warner Brothers und William Fox mit den neuen Krediten sich Verleihfirmen und Kinoketten kauften (WB die Verleihfirma Vitagraph, Fox die Kinokette der West Coast Theatres), erwirbt die Radio Corporation of America die Verleihfirma "Film Booking Office of America" und die Kinokette der Keith Albee Orpheum. Aus dieser Verbindung entsteht ein neuer Filmkonzern: R.K.O. (Radio Keith Orpheum), der das Photophone-Tonsystem unter dem Produktionszeichen "Radio Pictures" auswertet: Ich nannte schon das letzte Mal das bezeichnende Signet: ein Sendeturm auf einem Globus Tonwellen aussendend.

Schauen wir uns kurz den Aktionsradius an. 1927 war nur die Morgangruppe am Werk. Der Durchbruch des Tonfilms war den Warner Brothers und der Fox Films Corporation in der Zusammenarbeit mit der Western Electric gelungen.
Im Mai 1928 schliessen Paramount, MGM, United Artists und einige Wochen später die Universal mit der Western Electric Lizenzverträge und die grossen Studios gehen zur Produktion von Tonfilmen über. Im gleichen Monat entsteht vorn der Rockefeller Gruppe getragen das Studio R.K.O. Und dann schliessen sich die beiden Konzerne – Radio Corporation of America und Western Electric, hinter der, wie Sie bereits wissen, die American Telephone and Telegraph Company steht, zusammen, nachdem sie sich auf dem amerikanischen Markt bekämpft haben, um gemeinsam den europäischen Markt zu gewissen.
Denn dort waren inzwischen mächtige Widersacher entstanden, die einen von Amerika unabhängigen Tonfilm lancierten: auf der Basis von deutschen und holländischen Patenten "Tobis, Klangwelt und Küchenmeister".
Im Frühling 1930 einigte man sich in der sogenannten Pariser Übereinkunft auf dem Prinzip der "Interchangeability" – auf dem Prinzip der Austauschbarkeit.
Die Unterzeichner des Pariser Abkommens gewährten sich gegenseitig volle Freizügigkeit, der Tonfilm sollte auf allen Apparaten, von welchem Patent auch immer, abspielbar, vorführbar sein.
Man fühlt sich an den Kampf der Videogewaltigen unserer Tage erinnert, die mit einer Starrköpfigkeit sondergleichen versuchen, verschiedene Systeme auf dem Markt zu behalten, in der Hoffnung, dass ein System schliesslich das Weltmonopol errichtet. Die 80er Jahre: die Zeit der Videoimperialisten.

Doch wie sah nun dieser neue Film aus, der die Rentabilität der Filmproduktion wieder steigerte. Denn 1929 brachten von vier Filmen drei Tonfilme die höchsten Einnahme in Amerika. An der Spitze THE JAZZ SINGER. Um nachzuvollziehen, wie gross – mit ganz wenigen Ausnahmen – das Gefälle zwischen dem amerikanischen Stummfilm in diesen Jahren und dem anbrechenden Tonfilm war, müssen wir uns die damaligen Stummfilme Hollywoods vergegenwärtigen.

Es ist die grosse Zeit des amerikanischen Stummfilms: DeMille und Henry King drehen brillante Unterhaltungsfilme. Actionfilme, Märchenfilme und Abenteuerfilme werden von Stars wie Douglas Fairbanks, John Barrymore und Rudolph Valentino getragen. Die grossen Komiker – Chaplin, Keaton, Langdon – schaffen ihre Meisterwerke (THE GOLDRUSH, THE CIRCUS, THE GENERAL) und mit Fred Niblo BEN HUR (1925) und DeMilles KING OF KINGS (1927) lebt noch einmal der Monumentalfilm auf.
Erich von Stroheim provoziert mit seinem superrealistischen, sarkastischen THE WEDDING MARCH (1928), während Joseph von Sternbarg mit seinen ersten Filmen UNDERWORLD, THE DOCKS OF NEW YORK die Hollywood-Kulissen in Stimmung versinken lässt. Frank Borzage steigert mit SEVENTH HEAVEN (1927) Melodrama ins Irreale, und King Vidor schafft mit dem Antikriegsfilm THE BIG PARADE (1925) und dem realistisch-sozialkritischen Meisterwerk THE CROWD (1928) eine Bildintensität, die sowohl das grosse Gemälde als auch die feine Beobachtung des Alltags zu bewältigen vermag. King Vidor dreht auch – an der Schwelle zum Tonfilm – den Schwanengesang auf den Stammfilm: SHOW PEOPLE (1928) ist die wehmütige Komödie über Filmarbeit in einer Zeit, da noch kein Tonfilm drohte. In einem einzigen grossen Schwenk gleitet er noch einmal über alle jene Stars, die im Stummfilm mit ihrer Ausstrahlung gross und reich geworden, die Stimme nicht finden und auch bildlich verstummen – verschwinden – werden.
Es ist auch die grosse Zeit europäischer Regisseure in Hollywood. Noch sind es nicht die Emigranten, die in Amerika Arbeit suchen müssen, sondern die "Goldsucher", von Hollywood geholt, die mit dem gigantischen Produktionsapparat Hollywoods dem Kino geben, was des Kinos ist. Lubitsch dreht hinreissende Komödien, brillierende Champagner-Filme. SO THIS IS PARIS und es ist Paris, so hinreissend, wie es nur in der Vorstellungswelt des Hollywood-Kinos sein kann, voller Tanz, Musik und Lebensfreude, und dies ohne Ton, denn der Ton fliesst über das Bild und den Rhythmus der Montage in den Zuschauer hinein: ein Augenschmaus für visuelle Gourmets. Murnau dreht den deutschen Blut- und Bodenfilm in Amerika SUNRISE und wendet sich wie Van Dyke und Flaherty exotischen Filmträumen zu: TABU, seinem letzten Film. Sjöström, der Schwede, wird Seastrom und dreht den amerikanischen Naturfilm THE WIND, während Mauritz Stiller die Garbo nach Hollywood bringt, den grossen Star, der tatsächlich auch eine Stimme hat, und ein Star bleibt.

Und in diesen vitalen, alle Filmgattungen umfassenden, von grossen Stars getragenen Stummfilm, der mit einer äusserst beweglichen Kamera und einer auf Rhythmus geschnittenen emotionell ausgerichteten Montage zu erzählen vermochte, bricht ein Tonfilm ein, der die starre, auf die Szene – die Inszenierung ausgerichtete Kamera wieder brachte und die Montage wieder – aus Gründen der Synchronität – auf Szeneneinheiten verkürzte.
Die Kamera schaut – eingebaut in eine geräuschsichere Kabine – bewegungslos einem nicht endenden Theater-Dialog zu, der natürlich ein Zeichen wiedergewonnener Kunst ist. Die Schauspieler, welche aus Gründen der Verständlichkeit frontal zum Zuschauer zu agieren haben, bewegen sich innerhalb der Inszenierung von einem in Blumen, Girlanden, Vasen und Lampen versteckten Mikrofon zu einem anderen in Blumen, Girlanden, Vasen und Lampen versteckten Mikrofon, wohlweislich während des toten akustischen Winkels schweigend. Die Toningenieure übernahmen technisch steril die Regie und die Regisseure konnten zuschauen, was von der Inszenierung noch übrig blieb. Der Zwang zum Direktton liess nicht nur jegliche Bewegung und Möglichkeit zu einer lebendigen Montage erstarren, obwohl man teilweise bis zu fünf Kameras einsetzte, um verschiedene Blickwinkel zu bekommen, sondern der Zwang zum Direktton liess die Studios in einer geisterhaften Stille unter gleissenden, aber geräuschlosen Glühlampen statt lärmentden Bogenlampen versinken.

Ein solcher Inszenierungsstil, der einzig auf die Tonaufnahme ausgerichtet war, konnte nur noch auf bestimmte Filmgattungen, falls dieser Begriff in diesem Zusammenhang überhaupt noch möglich ist, Anwendung finden.
So entstanden in dieser  Zeit die Teacup-Dramen, die der Unbeweglichkeit von Kamera und Mikrofon entsprachen. Vielfach waren es Theatererfolge vom Broadway, sog. Konversationsstücke, in denen man am Tisch sitzen, Tee trinken und Zigaretten anzünden konnte.

Eine andere Möglichkeit war die statische, visuell-akustische Aufnahme von Musik, Gesang und Tanznummern, wobei sich die Bewegung auf die Inszenierung beschränkte. Als Beispiel: Alan Croslands, 1929 für die Warner Brothers gedrehter Revuefilm ON WITH THE SHOW wurde lanciert als: "All-talking, all-singing, all-dancing, 100% all color". (Blaues Lexikon, S. 107)

Die Teacup-Dramen und Filmrevuen mit ihrer starren Kamera und ihrem starren Mikrofon werden in dem Moment aufgebrochen, wie der Zwang zum Direktton wegfällt.
Von 1930 an werden die filmischen Gestaltungsmittel wieder zurückgewonnen. Die Kamera wird wieder beweglich, die Unabhängigkeit von Bild- und Tonaufnahmen erlauben über Tonmontagen natürliche Geräusche zu verwenden und die langweiligen tonbedingten Inszenierungsformen aufzubrechen.
Aus den Teacup-Dramen werden c, eigentliche Melodramen und nach dem Börsenkrach, der jedoch zunächst keine Auswirkungen auf die Filmindustrie hatte, zeichnet sich eine Hinwendung zu "aktuellen" Filmstoffen ab. Diese "realistische" Tendenz, die dem im Tonfilm innewohnenden realistischen Ansatz entspricht, führt zur Gewinnung und Weiterführung neuer Themen und Filmgattungen, konkret zu den Gangsterfilmen der frühen dreissiger Jahre hin. Es entstehen jene Filme, die als Klassiker des Gangsterfilms in die Filmgeschichte eingehen werden. Sie werden uns noch beschäftigen.
Die zurückgewonnene Unabhängigkeit der Kamera verändert auch jene Filmgattung, die den Tonfilm zum Durchbruch verholfen hatte. Die Revuefilme sehen zwar in ihrem Handlungsteil immer noch wie Broadway-Aufführungen aus, die Musik, Gesang- und Tanznummern werden jedoch unter der Choreographie Berkeleys, die sowohl die Inszenierung als auch die Kameraführung umfasst, zu visuell-akustischen Kabinettsstücken ornamentaler Arrangements.

Die All-Talkies oder Full-Talkies – die 100-prozentigen Sprechfilme, deren erstes Beispiel der aus wenigen langen Einstellungen bestehender Film LIGHTS OF NEW YORK von Bryan Fory, 1928, für WB war, konnten filmische erst wirksam werden, wie die Kamera als ein Gestaltungsmittel wieder wahrgenommen wurde.
Wir werden anhand von Hawks SCARFACE (1932) diesen Aus- und Aufbruchprozess verfolgen.

Von 1930 an setzte also eine Veränderung des Tonfilms ein. Diese Veränderung war entscheidend, denn um 1929/1930 gab es noch andere Versuche, dem Film eine andere Gestalt zu geben. Der Tonfilm schien nur ein Auftakt zur Erweiterung und Expansion visueller und akustischer Medien zu sein. Fox Film Corporation brachte den Kolossalfilm auf den Markt und Paramount den "Magnafilm". 7 Breitleinwandfilme wurden zwischen 1929 und 1931 gedreht und zwar in allen möglichen Formaten und von allen grossen Studios. Fox und MGM 70-mm-Filme, Paramount und First National 65 mm und R.K.O. 63 mm - statt die gewohnten 35-mm-Filme. Und 1930 begann die Radio Corporation of America täglich eine Stunde Fernsehen zu senden.
1952 wird sich in Amerika das Fernsehen durchsetzen und 1953 erscheint der erste Cinemascope-Film THE ROBE der Twentieth Century, Fox.

In seinem Buch Vom Stummfilm zum Tonfilm schreibt René Clair:

Anläßlich seiner Europareise 1928 bestätigte Jesse L. Lasky, Präsident der amerikanischen ,Famous Players'-Gesellschaft, offiziell die aus Hollywood kommenden Gerüchte, nach denen es mit dem Stummfilm zu Ende gehe. Die ersten Ton- und Sprechfilme hätten wie Bomben eingeschlagen und die neue Spezies würde sich binnen kurzem die Weltleinwand erobern. Mir und Gleichgesinnten war es apokalyptisch zumute. (S. 89)
René Clair

Für René Clair, der sich mit seinen Stummfilmen ganz einer auf Bewegung und optischen Einfällen beruhenden Visualität hingegeben hatte, war das Apokalyptische die Drohung, dass nach einer fantasievollen Entwicklung der filmischen Gestaltungsmittel und visueller Erzählstrukturen wegen des Tons, insbesondere wegen der Sprache, das verfilmte Theater die Leinwand erobern würde.
Clair hat Film definiert als das, "was nicht erzählt werden kann. Aber versucht dies den Leuten begreiflich zu machen (euch, mir, den anderen), die durch dreissig Jahrhunderte von Geschwätz kaputt gemacht wurden, – durch Poesie, Theater, Roman. Man müsste den Leuten den Blick des Wilden Leuten zurückgeben."

Dès sa jeunesse [?] Feuillade, il proclama: ‹Ce qui est cinéma, c'est ce qui ne peut être raconté. Mais aller faire comprendre cela à des gens (vous, moi, les autres) déformés par quelque trente siècles de bavardages: poésie, théâtre, roman. Il faudrait leur rendre le regard du sauvage!›

Auf die Apokalypse reagierte René Clair zunächst einmal theoretisch, indem er über die Möglichkeiten des Tonfilms schrieb, bevor im Film überhaupt ein Tonfilm gedreht werden konnte. Und kaum war der Tonfilm in Frankreich produktionsfähig, drehte er seinen ersten Tonfilm SOUS LES TOITS DE PARIS (1930) und zwar auf jenem System, das bei der Pariser Einigungskonferenz von den Amerikanern anerkannt worden war: dem deutschen Tobis-System, das als Tobis Sonores von der französischen Filmproduktion übernommen wurde, sodass von Anfang an in Frankreich jene Produktionsgesellschaft führend war, die als Tobis Klangfilm in Konkurrenz zu Ufa den deutschen Tonfilm zu bestimmen begann.

Ich möchte Ihnen im Folgenden einige Szenen aus René Clairs SOUS LES TOITS DE PARIS zeigen, einerseits als Auftakt zur Beschäftigung mit René Clair, anderseits um Ihnen ein ausgesprochen typisches Beispiel für die Umbruchsituation zu zeigen. Denn Clairs Film steht zwischen dem Stummfilm und dem kommenden Tonfilm. Er pendelt gleichsam hin und her. Zugleich spiegelt der Film Clairs Willen, mit dem neuen Medium filmisch und nicht theatralisch fertig zu werden, d. h. den Ton in voller Experimentierfreudigkeit als ein neues Gestaltungsmittel zu entdecken und auszuprobieren, was sich alles machen lässt.

Anhand von Clairs Film lassen sich auch die Phasen nachvollziehen, die die Entwicklung des Tonfilms in Amerika bestimmten. Es ist, als würde Clair 1930 – aus europäischer Distanz – zusammenfassen, was sich zwischen 1927 und 1930 in Amerika abgespielt hat.

  1. Ganze Sequenzen sind noch als Stummfilm konzipiert. Die Musik wird als Untermalung eingesetzt, als – Kinomusik, wie sie der Stummfilm kannte. Die Musik erhält jedoch emotionelle und somit auch eine dramaturgische Bedeutung – so z. B. in der Eingangssequenz, in welcher der Held des Films, ein Strassensänger, gespielt von Albert Préjean, nach einer irrtümlichen Verhaftung in sein Zimmer zurückkehrt und dabei feststellen muss, dass seine Freundin ihn – unter dem Druck eines Ganoven – verlassen hat. Zu Erinnerungsbildern, Überresten des Vergangenen – Photo, Pantoffeln – schwingt eine Musik ein, die Schmerz, Einsamkeit, Verlorensein umschreibt. Die Musik wird dramaturgischer Stimmungs- und Emotionsträger.
    Die Musik kann aber auch Teil der Handlung werden, wenn sie als die reale Musik des Spielortes erscheint, – z. B. wenn zu einer Musik an einem Ball getanzt wird. Dann wird die Musik Handlungsträger.
  2. Gegenüber den stummfilmartigen Szenen, die auch schauspielerisch noch ganz dem Mimischen verpflichtet sind, werden klar die Dialogpartien abgesetzt.
    Die Dialogpartien erscheinen wie eingeschnitten, dazwischen gesetzt.
    Auffallend ist, dass die Dialoge Hintergrundgeräusch haben, z. B. improvisierte Akkordeon-Klänge, sodass die Raumstimmung erhalten bleibt, oder Bahngeräusche. Hier finden sich die Anfänge von Tonmischungen.
  3. Bezeichnend für die Dialogbewältigung ist, dass sich immer wieder Dialoge finden, die man nicht hören, nicht verstehen kann, da sie sich hinter Glastüren abspielen oder von der Tanzmusik zugedeckt werden. Es sind nicht Stummfilmszenen, sondern der Zuschauer bleibt real vom Sprechdialog ausgeschlossen, weil er das Gespräch tatsächlich nicht hören, sondern nur sehen kann.
  4. Bereits in der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Tonfilm hat Clair versucht, den Ton nicht nur als akustische Synchronisierung zu verstehen, sondern als ein Gestaltungsmittel, das die filmischen Möglichkeiten zu erweitern vermag.
    Clair experimentiert und versucht zu entdecken, was Ton im Film sein könnte.
    So versucht Clair mit Ton bereits Raum zu schaffen, Oertlichkeiten zu umreissen, z. B. wenn die Ballmusik auch draussen auf der Strasse leicht hörbar ist, sodass der Zuschauer  weiss, dass der Held sich dem Tanzlokal nähert.

Am erstaunlichsten ist die Schlägereiszene, die bereits eine ganze Tonpartitur aufweist. Einerseits setzt Clair Lautlosigkeit, um das Bedrohliche herauszuarbeiten, dann ganz knappe Dialoge. Die Aufnahmen sind wie Nachtbilder von Brassai. Wie die Schlägerei losgeht, hört man die Umweltgeräusche, den nahen Bahnhof, eine Lokomotive, die durchpustet. Heute würde man die Schläge hören, wie es an den Kinnladen knallt. Clair setzt die Geräusche, welche die Schlägerei zudecken. Dann lösen Autohupe und Motorengeräusch, visuell ein Autoscheinwerfen die Szene auf: in der Dunkelheit haben sieh die beiden  Freunde, verprügelt. In dem Moment kippt die Handlung in die Komödie um: die Polizei greift mit den bekannten Pfeiftönen ein, was die übliche Kino-Verfolgungsjagd auslöst. Der Kintopp holt den Tonfilm wieder ein.

Der Film, der als "cent pour cent parlant et chantant francais" lanciert wurde, war in Paris kein Erfolg, wurde dann in Berlin – 1930 noch – als "der schönste Film der Welt" propagiert und wurde in wenigen Monaten zu einem Welterfolg: New York, London, Tokyo, Shanghai, Moskau, Buenos Aires.

René Clair ist für die Analyse der Umbruchzeit besonders geeignet. Er schreibt und theoretisiert über den Tonfilm, schlägt sich mit Pagnol herum, der "im Sprechfilm den Jungbrunnen des Theaters" erblickt und deshalb Film als Vollendung des Theaters propagiert, Clair dreht selbst Filme, die zunächst die Umbruchsituation spiegeln wie der eben gezeigte Film SOUS LES TOITS DE PARIS und Filme, die eine vitale Visualität haben und zugleich an der Theaterkrankheit – an der von Clair so vehement bekämpften Geschwätzigkeit der Dialoge leidet.

Was jedoch René Clair schon früh erkannte, war, dass nicht die Tatsache des Tonfilms die Filmästhetik zerstöre, sondern was die Nababs, die Filmgewaltigen, aus dem Tonfilm machen:

Mr. Lasky kündigt die Sprechfilm-Ära an. Na, schön! Wir ziehen 
uns nicht in den Schmollwinkel zurück, weil es eine Errungenschaft mehr gibt. Auch wollen wir gar nicht gegen den Fortschritt Partei  ergreifen. Thiers vermochte trotz aller Polemik nichts gegen das Aufkommen der Eisenbahm. Es ist aber gar nicht der Tonfilm, den wir bekämpfen, sondern das, was die Industriellen unweigerlich aus ihm machen werden. (S. 90)

In einem Brief aus London, Mai 1929, wo René Clair viele Tonfilme sich anschaute, geht er den Zusammenhängen zwischen Filmindustrie und dem neuen Medium nach. Wenn die Gesellschaften glauben, sie produzieren ihre Talkies nur, weil das Publikum den Narren am Tonfilm gefressen habe, so entgegnet René Clair:

Wenn das Publikum «aber des neuen Spielzeugs überdrüssig würde, unterwürfen sich die geschmeidigen Industriellen diesmal seinen Wünschen nicht so schnell. Der Tonfilm ist nämlich inzwischen zu einem Mammut-Unternehmen angeschwollen. Bankkonzerne und Elektrizitätstrusts haben sich mit seinem Schicksal verbunden, und es sind so viele Milliarden in dem Projekt investiert, daß nun jedes zum Erfolg führende Mittel recht ist. Der Tonfilm ist ein Fait accompli, und die Skeptiker, die seiner Herrschaft kurze Dauer prophezeihen, werden sein Ende nicht mehr erleben. (S. 94)

Und so sieht René Clair für die Filmschaffenden nur eine Möglichkeit, nämlich das tönende Spiel zu akzeptieren.
"Wir Stummfilmgetreuen wollen uns der tönenden Invasion nicht länger verschließen. Machen wir gute Miene zum tönenden Spiel. Fassen wir den Stier bei den Hörnern."

Es gilt aber nicht nur, den Stier bei den Hörnern zu fassen gegenüber der Filmindustrie, sondern die Zerstörung des Films erlebt Clair ebenso sehr durch seine Schriftsteller- und Theaterkollegen, die glauben, den Film über Literatur, Dialoge
und Theaternähe wieder der Kunst zuzuführen. Wie schon 1907 mit der sog. "Film d'Art"-Bewegung ist es wiederum die Zunft der Poeten, die den Film zu zerstören trachten.
So schreibt Clair:

Heute ist die Lage aber viel ernster. Der Tonfilm kann seine Grammatik nur finden, seinen Weg nur machen, wenn man ihn mit Theater und Literatur vollkommen verschont. Sonst wird er Kunst aus zweiter Hand. Er ist nun einmal nicht Sache der in den Usancen ihrer Berufe befangenen Dramaturgen und Schriftsteller. Diese sind für den Film verloren. Eine neue Ausdrucksform braucht neue Leute. Und die werden nicht – es sei denn durch Zufall – aus den Reihen der Theaterleute und Literaten.

Doch der Poetenverein sieht es anders:

Es gibt also einen sogenannten Poetenverein, und der Revue
 Comoedia entnehme ich, daß bei seinem letzten Bankett auch vom
 Film die Rede war. Ein Redner sagte zu diesem Thema: 'Der Film
 ist unsere Domäne; es wird Zeit, daß wir ihn annektieren!' Da ant
wortete eine Stimme: 'Was geht uns der Film an, er hat mit Kunst
 nichts zu tun!'
Dieser Vorfall hätte an sich nichts Bemerkenswertes, wäre es nicht schon mehrfach zu ähnlichen Vorfällen gekommen. […] Der Reihe nach erklären uns Bühnenautoren, Schriftsteller und Mitglieder der Dichtervereine,  der Zeitpunkt ihrer Filmherrschaft sei gekommen und sie seien bereit, gemeinsam mit den Filmindustriellen und ihrem Gefolge, den Regisseuren zu arbeiten, für den Tonfilm zu arbeiten. (S. 107)

Und dann wendet sich Clair gegen Pagnol, der nach der erfolgreichen Verfilmung von "Marius" und "Topaze" ins Tonfilmlager gewechselt und das Theater als erledigt bezeichnet hat. Das neue Medium für den Bühnenautor sei der Film. Dazu Clair:

Es scheint über Pagnols Fassungskraft zu gehen, daß er in zwei Monaten mit einem Film mehr verdiente als mit seinen Stücken in einem Jahr. Er fühlt sich plötzlich unwiderstehlich zur Leinwand hingezogen, von der er behauptet, sie könne einpacken, wenn sich die dramatischen Autoren nicht bald für sie interessierten. José Germain, Kistemaekers und Konsorten schlossen sich der Pagnolschen Erklärung an und belehren uns dahingehend, daß der Film bis heute nichts Nennenswertes geleistet habe und dies auch nicht tun werde, solange nicht Theater-, Roman-, Alexandriner- oder sonstige Autoren – nur nicht die Filmautoren – sich seiner erbarmten. (S. 107)

1934 erscheint Pagnols "Cinématurgie de Paris", in welcher der Autor von "Topaze" und "Marius" folgende Ansichten verkündet:

  1. Der Stummfilm war die Kunst, die Pantomime zu drucken, zu fixieren und zu verbreiten.
  2. Wie die Erfindung der Buchdruckkunst einen grossen Einfluss auf die Literatur hatte, übte die Erfindung des Stummfilmes einen grossen Einfluss, auf die Pantomime aus.
  3. Der gesprochene Film ist die Kunst, das Theater zu drucken, zu fixieren und zu verbreiten.
  4. Der gesprochene Film, der dem Theater neue Möglichkeiten bringt, muss das Theater wieder-erfinden.

Wir können dieses Gesetz anders ausdrücken:
"Jeder gesprochene Film, den man ohne Ton projizieren kann und der dabei trotzdem verständlich bleibt, ist ein sehr schlechter Tonfilm."
Und hier ein zweites Prinzip :
"Jeder Film, der ein Theaterstück auf der Leinwand zeigt, und der dem Theaterstück nichts beifügt, ist ein sehr schlechter Tonfilm."

Das war zu viel für René Clair:

Das Bestürzendste an Pagnols Exkursen und denen seiner Kumpane ist ihre Sicherheit und vollkommene Ignoranz. Sie scheinen von der Vergangenheit des Films ebensowenig etwas zu ahnen wie vom heutigen Film. Sie scheinen sein Wesen völlig mißzuverstehen. Pagnol schreibt wörtlich: ,Der Stummfilm war gedruckte und vervielfältigte Pantomime; der Tonfilm ist gedrucktes und vervielfältigtes Theater'. Um zu erkennen, was das für ein Unsinn ist, braucht man sich nur einen der besseren Stummfilme nach 1920 anzusehen. Außer sporadisch bei Chaplin wird da die Pantomime wirklich nicht bemüht. (S. 121)

Und Clair empfiehlt Pagnol gelegentlich ins Kino zu gehen:

Ich selbst bemühe mich seit zehn Jahren um den Filmberuf und halte mich noch immer für ein ausgemachtes Greenhorn. Jedesmal wenn ich einen neuen Streifen drehe, glaube ich zum erstenmal zu filmen. Ich wünschte Pagnol in aller Freundschaft, er empfände die Leinwand als das Mysterium, das sie noch immer ist.

Mit solcher Vehemenz wurde der Kampf zwischen Clair, der einen Film ohne Theater wollte, und Pagnol, der im Film glaubte, die Vollendung des Theaters zu finden, geführt. Später – 1950 – hat Clair festgestellt, dass Pagnol selbst sein Credo verraten habe, dass seine Filme – wie LA FEMME DU BOULANGER, ANGELE nichts mehr mit Theater zu tun haben.

Und 1945 schrieb Pagnol:

Ohne es zuzugeben, haben wir uns gegenseitig überzeugt. Clair hat Sprechfilme gedreht, und ich versuche mich in der Bildkreation. Wenn unsere Differenzen noch lange anhalten – dauern sie so lange wie unsere Freundschaft, kann ich für nichts einstehen – werde ich eines Tages Stummfilme drehen und er wird beim Rundfunk brillieren.

Engagiert und leidenschaftlich kämpfte René Clair in seiner theoretischen Auseinander
setzung um einen Tonfilm, der sich nicht als Literatur versteht und nicht zum
 verfilmten Theater wird. Wie schwierig es aber war, in der Spannung zwischen Stummfilm und der Drohung des verfilmten Theaters einen eigenständigen Film zu schaffen, zeigt sich an den Filmen Clairs
 selbst.

Ich zeige Ihnen ein paar Sequenzen aus QUATORZE JUILLET, 1934 entstanden, also im gleichen Jahr, wie die gehörige Auseinandersetzung mit Pagnol stattfand. Der Vorspann, den ich nicht zeige, ist eine Apotheose auf den Tonfilm respektive Klangfilm. Mehrmals wird das Tonsystem, die Tonproduktionsgesellschaft herausgestrichen: Sonores, Tobis-Klangfilm, Tobis. Desgleichen kommt am Ende des Films noch einmal das Zeichen "Tobis", damit alle wissen: Das ist ein Tonfilm – von Tobis-Klangfilm. Desgleichen geht nach dem Ende des Films der Ton noch [?] Minuten weiter. Die Musik des Films begleitet die Zuschauer nach Aussen.

Der Film selbst wird wie ein Stummfilm eröffnet. Ein Lampion wird weggezogen, und die Kamera schwebt zu Musikklängen in den Schauplatz ein, tastet die Wohnungen, die Personen des kommenden Films ab. Paris-Montmartre entsteht als perfekte Kinoarchitektur von Meerson im weissgrauen Studiolicht, als wäre der Himmel von Hochnebel überzogen.

Dann setzt der reale Ton ein: Kindergeschrei, die Hupe eines Autos, ob der der Bub selbst erschrickt. Nach diesem filmischen, musikalischen Auftakt sinkt der Film zum Landtheater ab. Zwei Frauen als Abwarts- und Hausfrauenkarikatur bringen ihren Theaterdialog ein. Auch der Dialog zwischen dem Liebespaar in spe ist nach Theaterschema und mit Theatergesten aufgebaut.

Ein weiteres Beispiel aus QUATORZE JUILLET mag die Schwierigkeit illustrieren, filmische Sensibilität in den Tonfilm hinüber zu retten. Zunächst erfolgt eine Parallelmontage, in der über Bild und eine dazugehörige Musik, ohne Wort, die volle Aussage stattfindet. Der "14. Juillet Bal" des Volkes und parallel dazu ein Nobel-Dancing. Hinreissend ist, wie die Kamera aus dem Dancing langsam wegfährt, als würde sie sich aus dem langweiligen gähnanfälligen Lokal wegstehlen. Sie fährt hinaus an die frische Luft. Aber dann setzt die Lärmsequenz zweier Taxifahrer ein. Es mag ganz lustig sein, wenn in dadaistischer Unverständlichkeit sich zwei Taxifahrer gegenseitig beschimpfen. Aber gäbe es den Ton nicht, wäre Clair kaum auf so billige Toneffekte gekommen. Der Toneffekt ermüdet rasch und ist, auch wenn die Szene sehr französisch anmutet, nicht sehr fantasievoll. Mit der Figur des Alten, der durch alle frühen Filme Clairs besoffen, leicht depp, doch sehr human, irrt, rettet sich Clair von einem Spielgag zum anderen.

Vaudeville-Theater breitet sich. Clair verfilmt zwar kein Theaterstück, doch kaum ist der Dialog da, scheinen die Gesetze des Theaters die filmische Realität aufzulösen. René Clair scheint mir ungemein aufschlussreich zu sein: Er liebte den Film und verschloss sich nicht dem Tonfilm. Diese Situation spiegeln seine frühen Filme. Hinreissende auf Bildrhythmik aufgebaute, in sich geschlossene Sequenzen, kleine Kabinettstücke filmischer Visualität lösen sich mit Szenen ab, die wie auf Bretter wirken, welche die Welt bedeuten sollen. Aber der Film braucht keine Bühne, denn die Kamera, und somit auch der Zuschauer, ist überall. Zwar sitzt auch der Kinogänger schliesslich in einem Saal, aber die Leinwand ist ein grosses Loch hinaus in jene Welt, die mit jedem Bild, mit jedem Ton auf die Leinwand eingebracht wird.

Filmografie zu ganz oder in Ausschnitten gezeigten Filmen:

SOUS LES TOITS DE PARIS (Unter den Dächern von Paris / Under the Roofs of Paris), René Clair, Frankreich 1930, s/w – 1:1.33 – 92 Min. – © 2002 The Criterion Collection – DVD (Code 1)

QUATORZE JUILLET (Der 14. Juli), René Clair, Frankreich 1932, s/w – 1:1.33 – 86 Min. – © 2011 Video Dimensions – DVD (Code 1)

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