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Seminar für Filmwissenschaft

Viktor Sidler: Kino der Dreissiger- und Vierzigerjahre

Vorlesung 8

Am Ende der letzten Stunde sind wir in die Gangsterfilme zu Beginn der Dreissigerjahre eingestiegen. Wir stellten den amerikanischen Gangsterfilm als eine realistische Annäherung an einen gegebenen Stoff dem fantastischen Film und der musikalischen Filmkomödie gegenüber.

Dass die Diskussion um das filmische Realismus-Verständnis neu belebt wurde, hängt eng mit dem Einbruch des Tons in die vorhandene Stummfilmästhetik zusammen, die die Ausstrahlung des Bildes an sich mit der durch die Montage bewirkten Aussage der jeweiligen Sequenzeinheit zu einer folgerichtigen Erzählstruktur verband. Mit dem Ton löst sich die Verständlichkeit  der Erzählstruktur von der visuellen Aussage und integriert Rezeptionsgewohnheiten, die von Theater und Literatur seit langem bestimmt wurden.

Wir werden in der Folge uns noch mehrmals mit der Realismus Problematik auseinander setzen müssen, angefangen beim poetischen Realismus des französischen Films über den perfekten Illusionsrealismus des deutschen und italienischen Unterhaltungsfilms zur Zeit totalitärer Indoktrination bis hin zum sozialistischen Realismus, der sich als zwingende Antizipation kommunistischer Gesellschaftsverwirklichung empfand.

Als erstes Beispiel für die umrissene Problematik wenden wir uns dem amerikanischen Gangsterfilm zu Beginn der Dreissigerjahre zu und zwar müssen wir auf die Fragestellung formal und inhaltlich eingehen. Formal können wir feststellen, dass, kaum ist der Ton industriell in die Produktion integriert, das amerikanische Kino eine erstaunliche und gestalterische Wendigkeit entwickelt.

Der Anfang von [Howard] Hawks SCARFACE lässt in der formalen Bewältigung keine Wünsche mehr übrig: Das Travelling, das den Zuschauer zugleich mit einer subtilen Tonführung in die Welt der Gangster begleitet, ist – 1930 entstanden – bereits unübertrefflich. Umso dringlicher stellt sich die Frage, welche Inhalte, welche Ideologien – Vorstellungswelten, Träume, Projektionen und Mythen – uns im perfekten Neorealismus vermittelt werden.

Im Film SCARFACE werden wir schlagartig in die Welt der Gangster versetzt: Der Boss mit seinen Beratern – der Killer, von einem anderen, uns noch unbekanntem Boss geschickt, besteht sein Gesellenstück. Die Leiche liegt und das Travelling endet. Der Film geht in einer Zeitungsredaktion weiter, was uns den Hinweis gibt, dass die Journalisten die ersten und besten Geschichtenerzähler und Drehbuchschreiber für Gangsterfilme waren.

In [William A.] Wellmanns THE PUBLIC ENEMY wird der Gangsterfilm aus einem Sozialmilieu der kleinen Leute entwickelt: Zwei Kinder, dann Jugendliche, dann junge Männer wollen den Weg aus der sozialen Nichtigkeit herausfinden. Die Zeit der Prohibition verhilft ihnen zu einem kurzen Aufstieg. In Mervyn LeRoys LITTLE CAESAR ist eine Bar der Einstieg in die Geschichte einer Karriere eines kleinen Italieners, der zum Caesar seines Gangster-Reiches werden will.
Im Film I AM A FUGITIVE FROM A CHAIN GANG, ebenfalls von Mervyn LeRoy (1932), steht die Heimkehr aus dem Krieg am Anfang des Films, der den verzweifelten Kampf eines Mannes darstellt, der nicht von Unterwelt eingeholt werden will. Hier wird der Gangsterfilm zu einem Film über einen unmenschlichen Strafvollzug. Strafkolonieszenen sind – 1932 gedreht – von einem dokumentarischen Realismus, der erst im Neorealismus wieder möglich wird.

Einstiege, Hinführungen, Annäherungen an ein Thema – an eine Welt auch – underworld –, die für viele zu Beginn der Dreissigerjahre nicht der Selbstverständlichkeit entbehrt.

Was heisst Gangster werden: Es heisst einen Weg des Erfolges gehen, aber nicht den geraden Weg, weil dieser Weg nicht möglich ist. Auf der Hintertreppe hochkommen, doch oben auf der Terrasse neben jenen stehen, die durch grosse Türe, über die breite Treppe nach oben gekommen sind.
Gangsterfilme sind y wie Berkeleys Theaterkomödien mit den glanzvollen Revuen am Ende des Films und dem Heiratskuss, aber es ist ein Erfolg,
 der in den Sturz umkippt, – wie Präsident Hoover, der trotz seiner
 Ideologie des robusten Individualismus, der rücksichtslosen Durchsetzung
 individueller Geschäftsinteressen dem mehr dem Gemeinwohl mindestens äusserlich 
verpflichteten Roosevelt weichen musste.
Der Gangster stürzt – doch, trotz der moralischen Einleitung jeweils zu Beginn der Filme – bleibt der Gangster Mittelpunkt. Seine Karriere, sein Erfolg, seine Erfolgsgeschichte sind das Thema.

Der Sturz ist rasch, einsam, aber nicht ohne Grösse. Der Sturz wirkt am Ende des Films oft wie angehängt, damit der Film ein Ende findet und nicht beim Erfolg des Gangsters stecken, hängen bleibt. Noch findet sich nicht die Moralinspritze: Verbrechen lohnen sich nicht. Die «The crime doesn't pay»-These bleibt noch aus. Denn die Verbrechen machen sich bezahlt, wenn auch nur für kurze Zeit. Noch ist der Gangster Mittelpunkt und nicht der Polizist, der G-Mann, der FBI-Agent, der gangstergleich – nach 1934 – im Film mit den Gangster aufräumt, nachdem in Wirklichkeit mit der Tough Guys aufgeräumt worden war und nur noch die white collar criminals übrig geblieben sind. Im klassischen Gangsterfilm ist der Polizist eher erbärmlich, denn die Seidenhemden trägt der Gangster. Der amerikanische Lebenstraum wird vom Gangster verkörpert: Aufstieg, Karriere, Geld, Frau, Appartement, Zigarre, Rennpferd – alles was teuer ist.

Schauen wir die entsprechende Szene in SCARFACE an: Tony Camonte – Al Capone – besucht seinen Boss und analysiert, was er selbst werden möchte – ein Mann, dem die Welt gehört, der über all das verfügt, was very expensiv ist.
(Siehe die realen Gangster, siehe Joe und seine Badewanne)

Alles, was very expensiv ist, ist Statussymbol: den seidenen Hausmantel, die Zigarre (das Ritual des Anbietens), die Frau, die durch die indiskreten Blicke Tony Camontes nicht irritiert wird, das Appartement, die Boudoir-Stimmung auf französisch. Status-Symbol könnten auch sein: Autos, die gesellschaftliche Begleitung mit einem Tross von Männern, der Auftritt im Night Club, die Arrivée der Gäste (wie bei einem Filmfestival). Die eben gesehene Szene ist ernst zu nehmen: Hier wird der Traum des amerikanischen Selfmademan verwirklicht. Hier wird Erfolg vorgezeigt. Verschiedene Gangster pflegten den Luxus. Und mit dem Luxus verbanden sie auch die Betreuung der Armen in den Slums. Sie vergassen nicht ihr Ghetto, woher sie kamen. Z. B. Joe Adonis, der Boss der «Murder Incorporated», von dem Senator Kefauver in der Untersuchung über das Gangsterwesen sagte: «Der Mann mit den blutbefleckten Händen, der in allen drei Gebieten eine Vorherrschaft errungen hatte, die eine
 unheilige Dreieinigkeit in den Staaten Amerikas bildeten: Verbrechen, Politik 
und Geschäft.» Von 1933 an regierte Joe Adonis Brooklyn, denn ihm gehörten Politik, Justiz und Wirtschaft. Und dieser Adonis demonstrierte einen gerade theatralischen Luxus, besonders baute er Bar, Bad und Toilette zu prächtigen Räumen aus. Daneben machte er sich einen Namen mit seiner karitativen Arbeit in den Slums, die ihm seine Mutter besorgte.

Joe Adonis: Auch das wäre eine Gangstergeschichte, die übrigens bis jetzt nicht verfilmt worden ist. Auf dem Höhepunkt seiner Macht – er kontrollierte die Zigaretten-Automaten, den Autohandel und über andere Gangs beteiligte er sich an Überfallen – genoss er die volle Unterstützung des New Yorker Bürgermeisterkandidaten Piorello La Guardia. Da machte er einen kleinen politischen Fehler. Er wechselte das Pferd und unterstützte bei den nächsten Wahlen den demokratischen Gegenkandidaten. La Guardia brachte ihn vor Gericht. Er wurde selbstverständlich gemäss seines Übernamens – er galt als der Unberührbare – freigesprochen. Adonis verliess dennoch 1938 New York und als der Prozess gegen die Murder AG einsetzte, liess er sich ins Gefängnis einliefern. Es wurden auch tatsächlich sämtliche Zeugen gegen die Murder AG während des Prozesses ermordet, und Joe Adonis besass das beste Alibi. Nach dem Prozess zahlte er die Kaution – 50 000 Dollar – und lebte hinfort unbehelligt als «Ehrenmann». Eine Gangstergeschichte. Eine Erfolgsgeschichte: eine Geschichte aus Business-Land.

Tony Camonte in Hawks SCARFACE macht auch Karriere. Er arbeitet als Killer für seinen Boss. Er räumt für seinen Boss auf, er säubert. Es ist nur eine Frage der Zeit, dass er auch seinen Boss aufräumt. Er legt sich eine Wohnung mit Panzerläden zu, geheimen Zu- und Weggang. Von seiner Wohnung aus sieht er eine Lichtreklame:


The World is Yours
Cook Tours
Wieso nicht eine Reisereklame wörtlich nehmen, wenn es möglich ist. sich die Welt anzueignen. Bereits in Sternbergs UNDERWORLD (1927) findet sich das Motiv der Lichtreklame. Dort sieht der Held die Reklame einer Immobiliengesellschaft: The City is Yours. – Es ist eine Geschäftsreklame. Was machen Gangster Anderes als Geschäfte. Wäre keine Prohibition, wäre das Geschäft legal. Wo liegt der Unterschied zwischen dem illegalen Alkoholgeschäft und dem legalen Immobilengeschäft. Was zählt, ist der Erfolg. Und Camonte hat Erfolg. Die Frau des Bosses besucht ihn in seiner Wohnung.

Schauen wir uns die Ergänzungsszene zur vorhergehenden Sequenz an: Tony Camonte hat es geschafft. So zeigt er der Frau seines Bosses sein Bett, seine Seidenhemde, sein Appartement. Für ihn ist es auch klar, dass die Frau des Bosses die Machtverhältnisse richtig einschätzend bald auch seine Frau sein wird.

SCARFACE war 1920 gedreht worden, aber wegen der Brutalität des Films erst 1932 in den Verleih gekommen. Besonders schienen die Schiessorgien Schwierigkeiten zu bereiten. Ich möchte folgendermassen vorgehen. Ich stelle Ihnen zunächst die historischen Hintergründe dar und anschliessend schauen wir uns die entsprechenden Szenen an.

Darstellung der Geschichte – Umsetzung in den Bildmythos. Doch wo beginnt die Fiktion? Jetzt! Wenn ich Sie über Geschichte zu informieren beginne.

Die Schiessorgien – Muster aller kommenden Gangsterfilme – sind historisch und beziehen sich auf das grosse Massaker von 1925, das schliesslich in die
 Abrechnung am St. Valentinstag 1927 einmündet. Der Hintergrund des Gangsterkrieges ist der Konkurrenzkampf zwischen dem Gang AI Capone und dem Gangster O'Banion. O’Banion war ein irischer Gangster, von dem es hiess, dass er Mörder aus Leidenschaft gewesen sei. Doch er war beliebt – ist dies nun Legende oder Geschichte – da er die Polizei verhöhnte, persönlich seine Taten ohne den Schutz der Mafia vollbrachte – ein Desperado im Dickicht der Städte und zugleich ein Robin Hood, der mit seinem Auto vollgestopft mit Lebensmitteln und Kleidern in die Slums fuhr. Denn er wollte nicht, dass – ich zitiere – «eine Organisation mit hohen Gehältern meine Gaben verteile. Mein Geld geht direkt an die, die es brauchen». (Vgl. HIGH SIERRA, die Operation von einem Gangster bezahlt, diese Geschichte geht auf O'Banion zurück) Hinter O'Banion, dem Berufkiller stand als Organisator ein Pole namens Hymie Weiss (Wajieschowski), der von Wellmann in THE PUBLIC ENEMY porträtiert wurde.

Weiss entwickelte auch die bekannte Exekutionsmethode, die man ebenfalls in SCARFACE und in vielen anderen Gangsterfilmen sehen kann und den Namen bekam: «Jemanden zu einer Spazierfahrt einladen». Ein Auto fährt dem Trottoir entlang, an jenem vorbei, den man einladen will, d. h. auf den Vordersitz des Autos setzen, mit ihm ein wenig in der Stadt herumfahren, von hinten erschiessen und ihn dann an der richtigen Stelle aus dem fahrenden Auto auf die Strasse fallen lassen will. Diese Art von Schocktherapie wurde mit «Abliefern» umschrieben.

Der von Jonny Torrio und AI Capone aufgebaute Friede in Chicago wurde von O'Banion gestört, indem er billiges Bier auf den Markt brachte. Zugleich trat eine neue Gang ins Geschäft ein: die Gebrüder Genna begannen einen Schnaps zu produzieren, der praktisch aus Industrie-Alkohol bestand, um den teueren, aber besseren O'Banion-Whisky auszuschalten. Damit war der Friede im Gangland Chicago endgültig hin. Torrio versuchte noch zu verhandeln. Doch O'Banion stahl den Sizilianern eine Whiskyladung von 30 000 Dollars, liess Torrio in einen Polizeihinterhalt geraten, sodass die Gebrüder Genna und Torrio beschlossen, O’Banion ausschalten, was in einem Blumenladen geschah – es hätte auch ein Restaurant oder beim Friseur oder beim Bowling sein können. Weiss, der Pole, übernahm nun die Führung der Gang und jagte Torrio durch ganz Amerika, der sich aus Sicherheitsgründen schuldig bekannte und ins Gefängnis einliefern liess, wobei er auf dem Wege ins Gefängnis schwer verletzt wurde. AI Capone blieb in Chicago und überlebte – knapp. Torrio kannte die Mörder, verschwieg ihre Namen und zog sich, nach der Haftentlassung, nach Italien zurück und übergab sein Reich, ohne irgendwelche Bedingungen an Al Capone: Brauereien, Flüsterkneipen, Bordelle, Spielkasinos. AI Capone erbte jedoch auch den Gangsterkrieg, der jetzt zu einer ethnischen Auseinandersetzung wurde. AI Capone versammelte um sich die Italiener, obwohl er sich selbst als Brooklyner sah und der Pole Weiss scharte um sich die Polen, Iren und Juden.

Im Mai 1925 begann der Kampf um die Vorherrschaft, in Chicago: Angelo Genna wird aus einem Auto heraus erschossen, in dem der ehemalige Gangster O'Banion unter der Führung von Weiss sass, dessen Killer von Gennas Leuten verwundet werden. Mike Genna wird von einem Polizisten erschossen. Tony Genna wird ermordet, ob von Leuten der O'Banion oder der AI-Capone-Gang bleibt offen. Und so geht es täglich weiter. Friseursalons, Blumenladen, Feuergarben speiende Autos. AI Capone liquidiert die ganze irische Gang. Nach einer kurzen Friedenszeit wird 1926 der Kampf wieder aufgenommen. Dann fällt Weiss, d. h. er wird vom AI Capone Gang «hingerichtet». Drucci und «Bugs» Moran übernehmen die O'Banion-Gang. AI Capone kontrolliert nun Chicago mit Ausnahme der O'Banion-Gebiete. Da unternimmt Moran, ein Mitglied der O'Banion-Gang Aktionen, die AI Capone gar nicht gefallen. Er überfällt Alkoholladungen der AI-Capone-Gang und leitet den Alkohol um. Schliesslich hat AI Capone von der unbefriedigten Situation genug und er lädt seine «Freunde» zu Verhandlungen am St. Valentinstag in eine Baracke ein. Die Leute AI Capones legen in Polizei-Uniform verkleidet die gesamte O'Banion-Gang um.
Vielleicht noch ein Hinweis zu den Maschinenpistolen, die eine fetischistische Rolle spielen: Für Pistolen, Revolver brauchte es einen Waffenschein, für die automatischen Maschinenpistolen nicht. (In der Schweiz braucht man auch keinen Waffenschein für eine Artilleriekanone, man darf sich nur nicht erwischen lassen.)

Stellen wir die Szene, die ich Ihnen gleich zeigen werde, in einen weiteren geschichtlichen Rahmen. 1932 kommt ein 1930 gedrehter Gangsterfilm über Ereignisse aus dem Jahr 1927 in die amerikanischen Kinos. Es geht nicht mehr lange, und man wird in Europa Menschen auf die gleiche Weise an die Wand stellen und erschiessen, wie man es 1932 auf der Leinwand sehen konnte. In Amerika spricht man in der Öffentlichkeit von einer terroristischen Gesellschaft, die von den Gangstern verkörpert wird. In Europa ist die wirklich terroristische Gesellschaft – in der historischen Realität – ein Staat.

Ich möchte damit Hinweise geben, inwiefern ein bestimmtes gesellschaftliches, wirtschaftliches und politisches Klima visuelle Zeichen schafft, Farben und Formen für bestimmte machtpolitische Strukturen setzt, und inwiefern auch Filme als marktkonform erscheinen, weil sie der Zeitströmung angehören. Das amerikanische Kino der frühen Dreissigerjahre ist reich an visuellen Zeichen, die z. B. in der deutschen Geschichte – nicht Kino, nicht filmische Fiktion, sondern gesellschaftlich und staatlich gelebte Wirklichkeit werden. Das könnte heissen, dass auch die amerikanische Gesellschaft nicht ungefährliche Entwicklungen in sich trug, die durch den Präsidentschaftswechsel von Hoover zu Roosevelt abgeblockt wurden.

Schauen wir uns den privatwirtschaftlichen Krieg der Gangster an, wie er in SCARFACE unterhaltsam über die Leinwand tobt.

LITTLE CEASAR
THE PUBLIC ENEMY
Al Capone

Was sind Gangstergeschichten? Nichts anderes als Aufstiegsgeschichten: Success-Storys: Erfüllung der amerikanischen Wertvorstellungen. Auch Tony Camonte hat Erfolg. Sichtbares Zeichen dafür ist nicht nur die Macht, der Luxus, dass er wie die reichen Bürger ins Theater geht und Kultur pflegt, sondern er bekommt auch die Frau. Sie ist das sichtbare Zeichen seines Erfolges, sie trägt über die Accessoires den Reichtum zur Schau. Zugleich will er aber seine Schwester von der weiblichen Möglichkeit einer Karriere abschirmen, obwohl sie gleich ihrem Bruder darauf brennt, nach oben zu kommen. Auch sie will aus dem Klein-Italien-Mief heraus. Auch sie will Brooklyn, das Ghetto verlassen. Doch ihre Aufstiegschance besteht einzig in der Möglichkeit, ein Beutestück innerhalb der Welt der Tough Guys zu werden. Denn in der kleinen Italiener-Wohnung sucht kein Rockefeller und kein Morgan sein Aschenbrödel, dazu braucht es die grosse Welt – die von Gangstern bevölkert wird. Doch Tony Camonte hat kein Verständnis für die Wünsche seiner Schwester. Ich zeige Ihnen die Tanzszene, da die Schwester den Mitarbeiter Camontes gewinnen will und die Reaktion Camontes. Die Schwester, die Reine, Unschuldige, gehört der Familie an und hat nichts im Verbrecher Milieu zu suchen. In der Beziehung zur Schwester wird auch ein inzenstuöses Motiv sichtbar.

Typisch für die Gangsterfilme ist, wie die Familienstrukturen, der gesellschaftliche Mikrokosmos und die von der gesellschaftlichen Umwelt gelösten menschlichen Beziehungen in die Erfolgsgeschichten hinein spielen. Oft sind es Liebesbeziehungen, Intimbezüge zwischen den Personen, Freundschaften, die den Untergang des Gangsters einleiten, auslösen.
In diesem Job, in diesem Business, gibt es keine Liebe, keine Zuneigung, keine emotionelle Schwäche. Tony Camonte wird zum Verhängnis, dass er glaubt, seine Schwester habe sich in seinen Berater verliebt, und so läuft er Amok. In LITTLE CAESAR vermag Rico nicht auf seinen alten Freund Joe zu schiessen. In Wellmanns THE PUBLIC ENEMY findet sich ein vielschichtiges Beziehungsfeld zwischen den Personen als Hintergrund zum vordergründigen kriminellen Geschehen, Mutter und der kleine Gangster Tom in enger Beziehung zueinander, dann das Freundespaar Tom und Matt, die über die Prohibition ins Geschäft einsteigen. Diesen Liebesbezügen stehen Tom und Mike als feindliche Brüder, als Kain und Abel gegenüber. Mike, der reich dekoriert vom Weltkrieg zurückkommt und Tom, der sich seine nicht akzeptierten Auszeichnungen als Killer geholt hat. Da finden sich Dialoge, die in ihrem Aussagegehalt aufhorchen lassen und aufzeigen, wie in die Gangsterfilme Stimmungen einverarbeitet werden, die nicht der gängigen Vorstellung von einem amerikanischen Kino entsprechen. So, wenn Mike, mit seinen Medaillen versehen, sich am Familientisch weigert, Bier zu trinken, weil im Fass nicht Bier sei, sondern Bier und Blut, Blut von Männern, die das Bier besorgten, und dass Tom, sein böser Bruder, ein Mörder sei, und Tom darauf antwortet: «Du hast Dich überhaupt nicht verändert. Sag mal, du selbst, bist gar nicht so gut. Du hast getötet, und es hat dir gefallen. Du hast deine Auszeichnungen nicht bekommen, um mit den Deutschen Händchen zu halten».

Wir könnten unsere Arbeit hier auch als «Auffinden von Filmmustern» umschreiben. Eine Filmgattung wird durch bestimmte Szenen geprägt, die Teil der Gattung selbst, zugleich aber auch «soziale Muster» sind. Solche Muster waren bis anhin: Verschiedene Möglichkeiten des Einstiegs in das Thema der Gangsterfilme als Erfolgsgeschichten und damit Spiegelung von gesellschaftlichen Vorstellungen und Werten. Die Verstrickung in familiäre Strukturen und emotionelle Beziehungen, die im Widerspruch zum Job stehen. Was jedoch den Gangsterfilm von den anderen Erfolgsgeschichten mit Happy End abhebt, ist, dass zum Aufstieg des Gangsters auch sein Fall gehört. Ich gehe von der Endszene in SCARFACE aus. Der Gangster stirbt einsam. Das gehört zu seiner Freiheit. Er stirbt angesichts der Übermacht der Polizei, des Killers im Auftrag des Staates. Dass Gangster und Polizei austauschbar sein können, gehört zur latenten Subversion des Gangsterfilms. Der einsame Tod des Gangsters kann heroische Züge bekommen, sodass die im Gangsterfilm stets vorhandene Ambivalenz des Zuschauers eher zugunsten des Gangsters am Ende des Films – zu tragen kommt. Die Endszene von SCARFACE ist modellartig.

Tony Gamonte hat sich nach seinem Mord an seinem Freund in seine Wohnung zurückgezogen. Die Schwester taucht, in schwarz gekleidet, als Rächerin auf. Sie will ihren Bruder erschiessen, weil er ihr den Freund abgeknallt hat. Aber in dem Augenblick, wie die Bedrohung von aussen einsetzt, wie die Polizei auffährt, erweisen sich die Familienbanden als stärker. Bruder und Schwester nehmen gemeinsam den Kampf gegen die Polizei auf. Und wiederum ist bezeichnend: wie die Schwester getroffen zusammenbricht, wendet Tony Camonte in einem ungeheuren – ich würde sagen – Liebesschmerz, seiner schwesterlichen Geliebten zu. Dieser emotionelle Fehler verschafft der Polizei die Möglichkeit zum Angriff. Bei den Gangsterfilmen sind oft die letzten paar Einstellungen von einer seltenen visuellen Wucht – einer visuellen Wut. Auch hier: Jeder Spielgestus von Paul Muni, dem Darsteller von Tony Camonte, erhält Bedeutung. Er geht der Polizei entgegen, und bis zum letzten Moment glaubt er, die Freiheit zu gewinnen. Freiheit heisst, auf keinem Fall sich in Handschellen abführen lassen. Das Motiv findet sich auch in LITTLE CAESAR. Was macht Tony Camonte. Er durchbricht den Polizeikordon und wird erschossen. Erschossen werden ist die noch verbliebene Freiheit. Und die Kamera schwenkt auf die Reklamelichter: «The world is Yours». Wem gehört die Welt? Hawks sah übrigens ein anderes Ende für diesen Film vor. Der Film hätte mit einer Schiesserei zwischen den Gangstergruppen enden sollen. Dies verbot ihm der Hays Code. Und so setzt sich am Ende der Staat durch.

Ich habe es bereits angedeutet: Während die klassischen Gangsterfilme, welche die Zwanzigerjahre als thematischen Hintergrund haben, in den Kinos liefen, hatte sich im Gangsterwesen eine Veränderung abgespielt. Einerseits liquidierte die Polizei die aus der Zeit des «Gang-War» übrig gebliebenen Gangster (1934) oder brachte sie vorübergehend ins Gefängnis, anderseits domestizierten sich die schiesswütigen Aussenseiter aus den ethnischen Ghettos und wurden zum «Verbrecher mit weissem Kragen», sie wurden salonfähig: Der Prototyp des neuen Gangsters wurde Charles Lucky Luciano, der in der «Nacht der Sizilianischen Vesper».

Auch die Zeit veränderte sich. 1933 wird Roosevelt zum Präsidenten gewählt. New Deal hiess nicht nur der Versuch, die hoffnungslose soziale Situation zu verändern, sondern bedeutete in erster Linie den Glauben, dass sich etwas verändern lässt. In Hawks SCARFACE ging es um die Identifikation mit einem Gangster, der den Traum vom Erfolg in einer Zeit verwirklichte, in der er nur auf illegalem Wege zu verwirklichen war. Jetzt entstand wenigstens wieder die Hoffnung, dass sich auf legalem Weg auch leben lässt. So veränderten sich auch die Gangsterfilme.

Parodien und Komödien werden im Gangstermilieu angesiedelt. Bezeichnend dafür ist ein Film wie  THE LITTLE GIANT, 1933, von Roy del Ruth. Edgar Robinson, Gangsterdarsteller aus LITTLE CAESAR, spielt eine Doppelrolle: Ein kleiner Angestellter gerät in turbulente Schwierigkeiten, weil er die Physiognomie eines gefürchteten, aus dem Gefängnis ausgebrochenen Gangsters hat. Doch der kleine Unscheinbare, Hilflose wird zum Helden wider Willen. Er lernt sogar mit einer Maschinenpistole umzugehen, auch wenn er dabei in Ohnmacht fällt. Die grossen Gangster-Schauspieler beginnen nun FBI-Agenten, G-Man zu verkörpern, während die kleinen Schauspieler die Rollen der Gangster übernehmen, denn jetzt wird der Polizist Mittelpunkt, der – ebenso schiesswütig wie ein Gangster – mit den Gangstern aufräumt. Doch der Polizist kämpft für eine gute Sache, für Law and Order. «Verbrechen lohnen sich nicht», wird zur Devise der neuen New Deal – Gangsterfilme und der FBI Agent wird zum «Public Hero Number One». Statt Success-Storys wird der Weg zum elektrischen Stuhl Thema der Filme, oder es finden Bekehrungen statt. So spielt z. B. Ronald Reagan in HELL’S KITCHEN von Lewis Seiler (1939) einen geläuterten Ex-Sträfling, der mit Pfadfinder-Methoden und Härte die Jugendlichen auf den richtigen Weg bringt.

In den Komödien verlieren die Gangster ihren Schrecken. Aus dem Gangsterfilm wird ein Antigangsterfilm. Fast einsam steht 1939 Raoul Walshs THE ROARING TWENTIES da, der wie ein gross angelegtes Zitat des klassischen Gangsterfilms noch einmal knapp hingeworfen, die Zeit der Zwanzigerjahre erstehen lässt. Doch in Ansätzen wird Kommendes vorbereitet. Bogart beginnt einen Gangstertyp zu umreissen, der als «Verlierer» erscheint, aber in den Grundzügen jenen freudlosen Sadisten, den Gezeichneten vorbereitet, der kalt zynisch zur Figur des schwarzen Films wird. Dann der Krieg, und besonders nach dem Überfall auf Pearl Harbor, 1941, 
verändern sich wiederum die Strukturen des Gangsterfilms. Er gleitet in den
 amerikanischen Film noir, in die «schwarze Serie» hinüber.

Es lässt sich folgender Bogen spannen: Aus den Gangster-Tragödien zu Beginn der Dreissigerjahre, die ihre Fixierung in der Realität der Zwanzigerjahre haben, werden Gangster-Komödien und «The crime don't Pay»-Moralin-Filme, in denen der Polizist, der zum Wohle der Gesellschaft agiert. Die glückhafte, hoffnungsvolle Erholung im New Deal bricht in die «schwarze Serie» um, die mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zusammenfällt und im amerikanischen Nachkriegsfilm mit hervorragenden Filmen weiter wirkte.

Doch unser Thema war gewesen: der klassische Gangsterfilm, der im New Deal keinen Platz mehr fand. Im Vorfeld zu den Wahlen im Jahr 1933 drehte die Fleischer Factory einen eigenen Beitrag: BETTY BOOP FOR PRESIDENT. Schauen wir uns einmal an, wie Betty Boop die Veränderungen der amerikanischen Gesellschaft sieht. Auch die Gangster werden in Betty Boops «New Deal»-Programm aufgenommen.

5 BETTY BOOP FOR PRESIDENT

Eine Filmgattung profitierte nicht vom Tonfilm: der Wildwestfilm. Wohl lassen sich Ansätze finden. Doch zu Beginn der Dreissigerjahre verdrängten der Horror- und der Gangsterfilm den Western. Er lebte in Serien weiter, in B-Filmen, besonders in der Form der singenden Cowboys, bis dann 1939 ein Durchbruch von Wildwestfilmen einsetzte. Als Ergänzung zu BETTY BOOP möchte ich Ihnen noch eine andere Dame vorführen, die 1940 in Edward Clines MY LITTLE CHICKADEE in Begleitung von W. C. Fields mit Indianern, die einen Zug angreifen, souverän fertig wird: Mae West, die höchstens im Kampf einen Fingernagel bricht. Der Film ist zugleich die Verfremdung eines Filmgenres. Die Filmgattungen sind Ende der Dreissigerjahre so sehr stabilisiert, dass sie auch gebrochen werden können.

Mit diesem Filmbeispiel steigen wir aus dem amerikanischen Film aus und wenden wir uns wieder dem europäischen Film zu. Wir werden uns im Februar wieder in Hollywood einfinden. Wir werden uns das nächste Mal mit dem französischen Film der Dreissigerjahre beschäftigen.

Filmografie zu ganz oder in Ausschnitten gezeigten Filmen:

SCARFACE, Howard Hawks, USA  1932, © 2003 Universal Studios – DVD

BETTY BOOP FOR PRESIDENT, Dave Fleischer, USA 1932

MY LITTLE CHICKADEE (Mein kleiner Gockel), Edward Cline, USA 1940, © 2006 Universal Pictures – DVD

Weiterführende Informationen

Title

Teaser text