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Als wir in Wintersemester 1980/81 hier in diesem Zimmer uns mit dem Stummfilm beschäftigten, stand die Fortsetzung der Lehrveranstaltung noch nicht fest, obwohl im Vorlesungsverzeichnis zu lesen war: "Filmgeschichte I: Von den Anfängen des Films bis zum Tonfilm". Vier Semester später wenden wir uns dem abgebrochenen Thema "Filmgeschichte" wieder zu und zwar mit der Zielsetzung, uns mit der filmischen Entwicklung von den Anfängen des Tonfilms – um 1927 – bis zum italienischen Neorealismus auseinanderzusetzen. Grundthema wird sein, wie nach einer intensiven Entwicklung des Stummfilms der Ton das Medium Film neu bestimmt und zwar in seiner ästhetischen Ausgestaltung als auch in seiner industriellen und gesellschaftlichen Konsequenz.
Bevor wir uns der Thematik "Tonfilm" zuwenden, uns mit dem Übergang vom Stummfilm zum Tonfilm beschäftigen, um anschliessend zu verfolgen, welche Formen der Tonfilm annahm und welche Inhalte er dem veränderten Medium gemäss zu vermitteln trachtete, scheint es mir notwendig, uns selbst die Frage zu stellen, was heisst Tonfilm für uns heute? Die Umschreibung unserer heutigen Position ist notwendig, um die historische Sicht umso klarer, umso zeit-, produktions- und gesellschaftsgebundener erscheinen zu lassen.
Deshalb die Frage: Welche Vorstellungen, Filmerlebnisse assoziieren Sie – und auch ich – mit dem Begriff "Tonfilm"? Was bedeutet "Ton im Film" für Sie? Können Sie mir einen Film nennen, bei welchem Sie erlebten, erfuhren, was überhaupt ein Tonfilm heisst, was es bedeutet, dass das filmische Bild einen Ton – sagen wir einmal – dazu bekam. Ganz spontan.
Ich habe mir die Frage auch gestellt. Spontan und dann natürlich, wie ich mir hier die Notizen machte, weniger spontan, sondern eher forschend, mich auch in Erinnerungen verlierend, alte Filmerfahrungen, Erlebnisse, heraufbeschwörend, heraufholend. Ich muss gestehen, zunächst dachte ich an Antonioni – z. B. wie in ECCLISSE reale und erträumte Lebensräume auch Tonräume sind: die Börse, der Flug durch die Wolken, ein einsamer, sonnenbeschienener, kleiner Flugplatz, die imaginative Evasion nach Afrika, – wie eine Eisenstange erst zur Eisenstange wird, weil Schnüre im Wind an die Stange klirren. Ich dachte, dass in LA NOTTE Gefühle und Beziehungen in ihrer Hilflosigkeit als Geräusche oder gar als hörbare Stille im Raum hängen, oder wie in BLOW UP der Wind die Tat auf der Wiese tonlos – unhörbar – macht und in der atemlosen Stille des Nachforschens selbst das Knicken eines Astes sich wie das Entsichern eines Revolvers anhört. Der Ton ist nicht mehr Teil des filmisch Sichtbaren, sondern wird durch die Imagination des Zuschauers mitbestimmt. In den Filmen Antonionis wird der reale Ton in eine konkrete Musik transferiert – gleich wie die Bilder zur Abstraktion gerinnen, am grossartigsten vielleicht in der zwölfminütigen Schlusseinstellung in REPORTER, da sich zum grossen Schwenk und zur Evasionsfahrt der Kamera nach aussen und zur ihrer Heimkehr nach innen ein Ton einfindet, der eine Lebensbewegung und eine Lebensbeendung wie ein Hauch begleitet, kaum hörbar, doch erschreckend konkret – messerscharf in der Stunde des Todes.
Die Filme Antonionis sind für mich Tonfilme, da sie oft fast stumm, fast tonlos erscheinen und doch nicht stumm, ohne Ton sein könnten.
Tonfilm? Ich denke an einen Film von Marguerite Duras: INDIA SONG. Sie drehte diesen Film in einer leicht verfallenen Villa in der Nähe von Paris und spielte dazu einen Ton ein, der die Geschichte an den Mekong verlegte und Namen wie Rangoon, Calcutta, Mandalay magisch werden liess.
Experiment:
Vielleicht zunächst Ausschnitt aus INDIA SONG laufen lassen.
Was Sie hörten, war ein Ausschnitt aus INDIA SONG von Marguerite Duras. Die spitzen Schreie und das weiche Lied einer blinden Bettlerin evozieren, dass die Villa nicht in der Nähe von Paris liegt, sondern in der exotischen Vergangenheit von Marguerites Duras' Kindheit und Klavierstücke, Tangoklänge schaffen das Klima einer amour fou, die über Rituale – an die Oberfläche – geschwemmt wird.
Der Ton transformiert das Bild, aber er transformiert nicht nur das Bild, sondern macht in seiner erotisierenden Anwesenheit süchtig. Die abgründige Beschwörung einer amour fou durch Musikklänge, schwebende Sätze, hinfallende Worte, verlorene Schreie erzeugt Süchtigkeit – eine Süchtigkeit, der sich auch Marguerite Duras bewusst gewesen sein [wird], sonst hätte sie kaum die Tonpartitur bestehend aus Musik, Geräuschen, Sprache genommen und dazu einen Film gedreht und montiert, der nur noch aus den Örtlichkeiten der Villa ohne die dazugehörenden Menschen besteht: Aus INDIA SONG wurde "Son nom de Venise dans Calcutta désert".
Die Örtlichkeiten, von den Menschen entblösst, um das magische ritualisierte Arrangement der Personen gebracht, liessen mir den Text endlich verständlich werden. Der süchtig machende Ton, durch das Bild enttraumatisiert, gewann an Plastizität und wurde konkret.
Und noch einen Film möchte ich nennen, in welchem der ton
existenziell wird.
Clemens Klopfensteins Film TRANSES, eine Reise
zunächst im Auto durch eine Landschaft, die im Schnee versinkt, in einem Zug,
der durch den Balkan einem nicht genannten Ziel, das auch kein Ziel sein kann, entgegen fährt. Dazu jenes Eisenbahngeräusch und dazwischen die
Laute von Zwischenhalten, die stets besagen, dass bald die Reise wieder weiter
geht.
Das sind für mich Tonfilme.
Diese Positionsbestimmung wollte ich vornehmen, bevor wir in
die filmgeschichtliche Perspektive einsteigen.
Gehen wir im Folgenden von einem historischen Ansatz aus:
Was hiess Tonfilm, als am 6. Oktober 1927 die Warner
Brothers mit THE JAZZ SINGER ihren Durchbruch erlebten und sich vom
drohenden Bankrott retten konnten. Harry Warner erzählt 1930 an einem Kongress
der Frauenliga in Washington, wie die Warners zu ihrem Vitaphonesystem gekommen
seien. Wegen des Kaufs einer Radiostation habe sein Bruder Sam den Kontakt mit
einem Ingenieur aufgenommen, der ihm von der Erfindung eines Tonfilms sprach.
Sam forderte seinen Bruder Harry auf, sich das Ganze einmal im Bell
Laboratorium anzuschauen, denn die Erfindung könnte für die musikalische
Begleitung des Films, die bis anhin immer noch live oder gar nicht erfolgte,
geeignet sein. Dies leuchtete Harry ein, denn für einen Sprechfilm, der die
Dialoge synchron wiedergegeben hätte, wäre er nicht einmal über die Strasse
gegangen, erzählt er. Dort in diesem Laboratorium sah Harry einen Filmstreifen
mit einem synchron spielenden Jazzorchester. Das schlug ein. Er kaufte das
System und begann Tonfilme zu produzieren. Den Warners ging es darum, für die
Musikbegleitung einen liveunabhängigen Ton zu finden.
Am Anfang des Tonfilms steht ein Produktionsproblem.
Ich werden Ihnen in den nächsten drei Vorlesungen anhand verschiedener Beispiele den Übergang vom Stummfilm zum Tonfilm zu veranschaulichen versuchen. Denn diese Übergangszeit, die sich, je nach Land um zwei, drei Jahre verschoben, zwischen 1927 und 1934 abspielt, ist für das Selbstverständnis der Filmästhetik und für die Produktionsstrukturen bis in den Zweiten Weltkrieg hinein entscheidend geworden.
Heute möchte ich zunächst an einigen Filmbeispielen Filmton vorführen, um an die Materie heranzukommen.
Bezeichnend war: kaum waren die ersten Tonfilme in Amerika
auf dem Markt erschienen und in London vorgeführt worden, setzte, bevor
überhaupt die europäischen Filmschaffenden die ersten Tonfilme herstellten,
eine intensive theoretische Auseinandersetzung mit dem Tonfilm und dessen
Möglichkeiten ein. Am prägnantesten in Russland, wo bereits am 20. Juli 1928, 8
Monate nach der New Yorker Premiere, ohne dass überhaupt nur die geringste
Möglichkeit bestanden hätte, einen Tonfilm in Russland zu produzieren, erschien
in der Moskauer Zeitschrift "Shisn
iskusstwa" (Das Leben der Kunst) ein "Manifest zum Tonfilm"
der Filmregisseure Eisenstein, Pudowkin und
Alexandrov.
In diesem Manifest herrscht eine Sorge: dass der Tonfilm die im russischen Revolutionsfilm
entwickelte dialektische Bildmontage auflösen würde. So wird mit äusserster
Schärfe der Synchronton abgelehnt, da er nur der Illusionswirkung diene und zum
verfilmten Theater hinführe. Da der Synchronton die bis anhin gültige Ästhetik
der filmischen Montage zerstöre, wird die programmatische Forderung nach der
Asynchronität, nach der kontrapunktischen Anwendung des Tons formuliert. Obwohl
Pudowkin dem Tonfilm nur im Bereich des Dokumentarfilms und für Bildungszwecke
eine Chance gab, drehte er 1932 in einer russisch-deutschen Koproduktion einen
der ersten russischen Tonfilme: DER DESERTEUR (DESERTIR).
Ich zeige Ihnen drei Sequenzen aus diesem Film:
Allen Sequenzen ist eigen, Ton als Montageelement zu
handhaben. Äusserst experimentierfreudig wird der Ton als Erweiterung der
Gestaltungs- und somit auch der Aussage- und Wirkungsmöglichkeiten des Films
eingesetzt.
Die erste Sequenz liesse sich als eine Arbeitssymphonie
umschreiben. Jedes Bild, das eine bestimmte Arbeit umschliesst, besitzt einen
anderen Tonklang. In der Montage von Bild und Ton entsteht über die Tonfärbungen
eine konkrete Musik der Arbeit. Die Sequenz endet wie ein visuell-akustischer
Satz-Schluss: Eine grosse Blechplatte senkt sich, das Bild wird schwarz, als
würde der Zuschauer von der Platte zugedeckt und in die Schwärze des Bildes
hinein bricht der schrille Klang von Metall.
Die zweite Sequenz setzt den Ton ironisch kontrapunktisch. Zu einer leicht verstimmten Walzermusik, der Ton erscheint wie von einer alten Schallplatte verfremdet, fährt die Bourgeoisie in offenen Limousinen, vom Polizisten dirigentensicher geleitet durch die Stadt.
In das Strassenballett bricht die Wirklichkeit ein: Ein Mädchen bietet eine verbotene Zeitung an: "Die Wahrheit über den Streik". Es kommt zur Konfrontation mit der Polizei, gemäss der Bildstruktur in einer dialektischen Montage, – das Mädchen von links, der Polizist von rechts. Beschlagnahmung der Zeitung. Wieder ruft das Mädchen: "Die Wahrheit über den Streik". Die Stimme des Mädchens – also der Ton – setzt akustisch kontrapunktisch die Fortsetzung zur visuellen Wahrnehmung der Beschlagnahmung.
In der dritten Sequenz wird ein Arbeiter von einem Genossen um Hilfe angegangen. In der Folge setzt eine rhythmische Bild-Ton-Montage ein, welche die Bildschläge als Hell-dunkel-Provokation und den Ton wie Hammer-Schläge skandieren lässt. Das Bild blitzt in Kontrasten zu einem akustischen Stakkato auf, antreibend, vorwärtstreibend, dazwischen das Kreischen einer Bohrmaschine. Und aus allem hebt sich das Schiff mit den Arbeitern. Man nähert sich einem "cinéma pur", in welchem Bild und Ton gleichwertig eine visuell-akustische Erfahrung abfordern.
Was eine Bild-Ton-Montage vermag, möchte ich Ihnen anhand
des folgenden Beispiels zeigen. Uns ist das deutsche Wochenschaumaterial der
nationalsozialistischen Zeit bekannt und wir werden im Zusammenhang mit einer
späteren Vorlesung solche Bildmonumente noch zu sehen bekommen: kompakte
bedrohliche Aufmärsche, Machtgesten, Terrorrituale – ein ganzes Arsenal von
bedrohlichen, Angst einflössenden Bildern und Zeichen.
Charles Ridley
dreht einen zweieinhalbminütigen Propagandafilm als Auftaktprogramm für die
englischen Kinos, um 1942 vermute ich. Wie nimmt man Menschen denen Bilder Angst einflössen, mit
den gleichen Bildern die Angst?
Totenköpfe marschieren als eine kompakte, alles erdrückende Masse auf. Wenn sie jedoch zum rhythmischen Spielball der Montage gemacht werden, werden sie um ihre Terrorausstrahlung gebracht. Zur Operette wird, was als Horroroper gedacht war. Wie wird den Zuschauern die Angst genommen? Sehr einfach: bekanntes historisches Material hat sich dem Montagetisch anzupassen. Zudem bestimmt eine Musik, die in keiner Weise der realen Tonkulisse angehört, ein dokumentarisches, rhythmisch jedoch zerstückeltes Bild. Historische Figuren und Szenerien werden verfremdet.
Abel Gance, der stets einen Hang zum Totalkunstwerk hatte,
schrieb im Mai 1929 (Ciné-Miroir, Nr. 217, 31. Mai 1929, siehe La révolution du parlant, S. 82), dass
der gegenwärtige Tonfilm – oder Sprechfilm – in seiner grobschlächtigen Art zum
Misserfolg verurteilt sei, aber dass dennoch hier der Anfang einer Entwicklung
sich abzeichne, die die "akustischen Regungen der Natur mit den Regungen
des Lichtes" verbinden wird. Es handle sich nicht um eine Rückkehr zum
Theater. Auf der Bühne sprechen Menschen. Beim Tonfilm sprechen Bilder.
Was aus dieser magischen Bild-Sprache wurde, lässt sich an
einer Sequenz aus dem 1936 entstandenen Film UN GRAND AMOUR DE BEETHOVEN
ersehen. Es ist die Sequenz, in der Beethoven, gespielt von Harry Baur, sein Heiligenstädter
Testament schreibt. Umgeben vom brüllenden Sturm, schafft Beethoven taub
geworden, Titanen gleich, Napoleon gleich auf dem Schlachtfeld der Kunst, eine
orchesterbetäubende Musik. Natur, Sturm, Klavier, Spielgestus werden zu einer
symbiotischen Bild-Ton-Montage verbunden. Wolken als weiss aufleuchtende
Bildflächen blitzen als Tonschläge auf und kontrastieren mit windgepeitschten
schwarzen Blättern. Licht flackert auf den spielenden Händen und der Tastatur,
als bränne die Welt. Tonfilm wird als Bildmusik
verstanden. Die visuellen Impressionen und Evokationen vereinigen sich mit den
musikalischen Vibrationen, um mit Abel Gance zu sprechen, welche sich als
sinnliche Realität auch in den Spielgestus umsetzen.
Aus dem schöpferischen Urgetüm fliesst dann eine bukolische
Heiterkeit, die uns auch heute noch zu erheitern vermag.
Bei Abel Gance
fand sich ein äusserst forciertes Tonfilmverständnis im Sinne einer Bildmusik. Die "vibrations sonores
de la nature" haben sich mit der "vibration lumineuse" zu
verbinden. Der Ausschnitt aus Pudowkins DER DESERTEUR zeigte, dass
auch in der Verbindung mit Ton ein "cinéma pur" wirksam sein kann.
Die visuelle Aussagekraft und die akustische Gegenwart schaffen eine solche
eindrückliche Präsenz, dass es einer inhaltlichen Bestimmung nicht mehr bedarf.
So ist es nicht verwunderlich, dass zu Beginn des Tonfilms sich Beispiele
finden lassen, die Bild und Ton, insbesondere Bild und Musik als eine
eigenständige, nur vom Medium her bestimmte Erfahrung verstehen wollen.
So möchte ich die zweite Stunde mit einem Beispiel von Oskar
Fischinger eröffnen: KOMPOSITION IN BLAU, 1934 entstanden. Es ist zugleich
einer der ersten Farbfilme. Denn es geht darum, für wenige Minuten eine
Totalität sinnlicher Wahrnehmung zu erzielen, die einzig und allein eine
visuell-akustische zu sein hat. Bezeichnend ist auch, wie Fischinger durch den
Bezug der Farbflächen zueinander Raum in die Bildfläche zu projizieren vermag.
Nach diesen Materialien möchte ich in die Filmgeschichte
einsteigen. Mit der ersten öffentlichen Vorführung von etwas zehn kleinen,
zwei- bis dreiminütigen Filmen im Grand Café am Boulevard des Capucines in
Paris durch die Gebrüder Lumière am 28. Dezember 1895 wird historisch der
Beginn von Film und Kino festgelegt.
In gleicher Weise gilt, obwohl es schon vorher
Tonfilm-Verfahren gegeben hat, die Premiere von Alan Croslands THE JAZZ SINGER
am 6. Oktober 1927 in New York als
der Anfang des Tonfilms. Beide öffentlichen Ereignisse stehen als Zäsuren für
eine Veränderung. Aus der toten Fotografie wurden die lebenden Bilder und rund
dreissig Jahre später erhielten die Bilder ihre akustische Synchronität.
Wie 1927 die Premiere von THE JAZZ SINGER stattfand, war aus den kleinen Streifen der Gebrüder Lumière inzwischen das Medium Film geworden, das mit einer eigenen dem Stummfilm gemässen Ästhetik versehen, visuelle Inhalte zu vermitteln vermochte. Und aus der bescheidenen Vorführung im Grand Café war die Institution Kino geworden, hinter der eine der mächtigsten, kapitalintensivsten und in einigen Ländern auch exportorientierten Industrien stand.
Was 1927 in New York als publikumssichere Sensation
einschlug, hat jedoch eine ideelle und industrielle Vorgeschichte.
Am Ende des 19. Jahrhunderts standen zwei Erfindungen fest:
der Phonograph und der Kinematograph. Das Aufzeichnen von
Tönen auf Schallplatten und deren Wiedergabe ohne Verstärker und andererseits
das Aufzeichnen von Bildern auf Film und deren Wiedergabe in der Weise, dass
vom Zuschauer eine kontinuierliche Bewegung wahrgenommen wird.
Und vom Anfang an stand ebenfalls fest, diese beiden Erfindungen
zu vereinen. 1895 erschien von W. K. L. Dickson,
dem Mitarbeiter Edisons, eine Broschüre, in der eine wundersame Geschichte zu
lesen war:
Am 6. November 1889
habe in Menlo Park, dem Edison Laboratorium,
die Premiere des ersten Sprechfilms stattgefunden. Damals sei Edison von einer
Europareise zurückgekehrt und wie er ins Labor eingetreten sei, habe von der
Leinwand ihn Dickson begrüsst, der den Hut gezogen und zugleich von der
Leinwand her gesagt habe: "Guten Tag, Herr Edison. Ich freue mich, Sie wiederzusehen,
und hoffe, dass Ihnen der Kinetophonograph gefällt." (Toeplitz II, S. 8)
Damit wäre der erste Film ein Tonfilm gewesen. Auch wenn die
schöne Geschichte nur eine Legende ist, wie man heute annimmt, so besagt die
Legende, dass der Traum vom Film ein Tonfilm gewesen wäre, die Verbindung von
Bewegung (Kineto) und Ton (Phono) zum Kinetophonographen. Wir müssen
einbeziehen, dass das ausgehende 19. Jahrhundert von technischen und
wissenschaftlichen Träumen erfüllt war. So fand sich denn auch an der Weltausstellung
von 1900 in Paris alles, was in Zukunft noch auf den filmindustriellen Markt
kommen sollte: Tonfilm, plastischer Film, Farbfilm, Breit- und Grossleinwand,
Cinerama-Totalkino (eine Ballonfahrt von Paris nach Brüssel). Die Frage war
nur, welche Erfindungen die Industrie in ihre Produktion aufnimmt. Bezeichnend
für filmindustrielle Entwicklung ist, dass stets ökonomische Krisen der
Filmindustrie dazu führten, eine bereits bestehende Erfindung industriell zu
verwerten: Ton/Farbe/Breitleinwand, Grossleinwand.
Von 1896 an setzt die Arbeit um einen Tonfilm, entweder mit
synchron-begleitenden Schallplatten oder mit einem auf dem Filmband selbst
aufgezeichneten Lichtton ein. In immer wieder neuen Wellen versuchte die
Industrie Tonfilmmöglichkeiten einzubringen und auf dem Markt zu lancieren. Dabei
müssen wir einbeziehen, dass der Stummfilm nie ganz stumm war, auch wenn gerade
in der Übergangszeit vom Stumm- zum Tonfilm die Gegner des Tonfilms, besonders
die Gegner des Sprechfilms von der "Stille" der Bilder schwärmen.
Die Filme wurden live mit Musik begleitet, am Klavier, an
der Kinoorgel oder, in grossen Sälen, mit ganzen Orchestern. Es gab bis 1914
Kommentatoren, die ebenfalls live im Kino die Handlung erklärten, teilweise die
Rollen sprachen, mit der Kinoleinwand ein Hörspiel verbanden. In Japan lässt
sich diese Erscheinung bis zum Tonfilm verfolgen, da die Stummfilme mehr als in
Europa und Amerika in Verbindung mit der Theatertradition standen.
In Russland gab es zwischen 1909 und 1917 sogenannte Sprechfilme. Ein Schauspieler oder gar
eine Theatergruppe reiste mit einem Film durchs Land, und die einzelnen Rollen
wurden synchron während der Filmvorführung gesprochen.
Diese Methode wurde besonders bei literarischen Verfilmungen
angewandt. Der russische Revolutionsfilm führte mit einigen, teilweise bereits
sehr langen Filmen diese "Kinodeklamationen" bis 1923 weiter. In
Amerika soll Zukor 1911 ein [?] mit Schauspielern hinter der Leinwand
aufgeführt haben.
Während man an der technischen Möglichkeit des Tonfilms
arbeitete, gab es geradezu krude Versuche, den vorgeführten Stummfilm mit
synchron spielenden Orchestern und Theaterbegleitung tönend zu machen. Umso mehr stellt sich [die] Frage, weshalb
der Tonfilm erst 1927 seinen Durchbruch erlebte.
Um 1900 findet sich eine erste intensive Auseinandersetzung mit den technischen
Möglichkeiten des Tonfilms. Eine Anzahl Patente sollen Erfindungen schützen,
die unter Namen wie Graphonokon, Phonorama, Cinématorama parlant,
Ciné-gramo-Théâtre, Phono-Cinéma-Theater und Chronophone, die industrielle
Auswertung suchen. Die Hintergründe des Scheiterns waren zunächst technischer
Art, da es nicht gelang, eine befriedigende Tonaufnahme und Tonwiedergabe zu
erreichen.
Möglicherweise war auch die Faszination, die der bestehende Stummfilm
mit seinen bewegten Bildern auslöste, so gross, dass das Bedürfnis nach einem
synchronen Ton nicht bestand.
Dennoch wurde weiter gearbeitet, und von 1905 werden bis zum
Kriegsausbruch sowohl synchrone Schallplattensysteme als auch Tonaufzeichnungen
auf dem Film entwickelt, und es scheint zwischen 1908 und 1914 eine ganz
beachtliche Zahl von kleinen Tonfilmen auf der Basis von synchronlaufenden
Schallplatten gegeben haben, so besonders in Frankreich, Deutschland, England
und auch in Russland.
Doch wieder erfolgte kein Durchbruch: Der Ton konnte für die
Kinosäle nicht genügend verstärkt werden. Dabei machte man ganz verrückte
Dinge, so liess man z. B. gleichzeitig mehrere Schallplatten laufen
(Apollo-Theater in Berlin) [?]. Das andere war: Die Filmproduktion ging zu
längeren Filmen, zu Mehraktern über, was mit synchronen Schallplatten nicht zu
meistern war.
Dann brach der Krieg aus, und der Krieg brachte im Zusammenhang mit der kriegsnotwendigen Entwicklung der Radiophonie die entscheidende technische Wendung. Doch inzwischen hat auch der Stummfilm eine Wendung erfahren. 1914 war der Traum vom Tonfilm ausgeträumt, dafür kommt es zur Entwicklung der filmischen Erzählstrukturen ohne Synchronton. Es entsteht eine in sich geschlossene Ästhetik des Stummfilms. Unabhängig von irgendwelchen akustischen Möglichkeiten werden die filmischen Gestaltungsmittel, Kamerabewegungen, Lichtführung, Schnitt und Montage entdeckt und wirksam eingesetzt.
Man kann sich die Frage stellen, was wäre geschehen, wenn
der Tonfilm tatsächlich um 1915 möglich geworden wäre. Welche Erzählstruktur
hätte Griffith entwickelt, wie hätte Eisensteins Montage ausgesehen und Abel
Gances NAPOLEON? Oder Murnaus DER LETZTE MANN und die
Filme Stroheims. Die Tatsache ist, dass im Moment, wie visuell erzählerische
Formen für lange Filme entwickelt werden, der Traum vom Tonfilm ausgeträumt
ist. Dennoch arbeiteten die Wissenschafter, Forscher, Ingenieure und
Industriellen am Tonfilm, besonders nach der Bereitstellung der technischen
Erkenntnis aus dem Weltkrieg, weiter.
Nur hatte sich inzwischen grundsätzlich etwas verändert.
Weder die Filmindustrie noch die Filmschaffenden wollten den Tonfilm noch, und
das Publikum schien von den Möglichkeiten des Tonfilms keine Ahnung mehr zu
haben.
Aber eine
Voraussetzung hatte sich bereits angebahnt. Bevor der Tonfilm aktuell wurde,
kam ein anderes akustische Medium in dieser Zeit auf: das Radio. Um 1925 bricht
in Amerika das Radiofieber aus. Die
Filmindustrie schien die Konkurrenz wahrzunehmen, denn in dieser Zeit werden
erneute Versuche mit Farbfilm lanciert und man denkt daran, die Leinwand zu
vergrössern. Was jedoch die Filmindustrie nicht wollte, war der Tonfilm.
Der enge Zusammenhang zwischen Radio und Film zeigt sich
auch später noch. Orson Welles bekommt seinen gigantischen Vertrag für
"Citizen Kane" dank einer Radiosendung "Krieg der Welten",
mit der er Panik auszulösen vermochte.
Dennoch arbeiteten überall Forscher am Tonfilm, der Franzose
Eugène Lauste in England, der
Schwede Sven Berglund, der Amerikaner Lee de Forest und die deutsche Gruppe
Hans Vogt, Joseph Engl und Joseph Masolle, die das System Triergon
entwickelte, auf das ich gleich zurückkommen werde. Und überall fanden
Vorführungen statt, doch die Filmwelt wollte nichts vom Ton wissen.
(so schreibt der französ. Filmjournalist Robert Florey 1921 im Cinémagazine einen
vehementen Artikel gegen den Tonfilm "De l'inutilité du cinéma
parlant". Später wird der gleiche Florey die ersten Tonfilme der Paramount
drehen. – Im Gegensatz zu Florey hat Griffith im gleichen Jahr eine Vertonung
seines Films DREAMSTREET versucht, die jedoch erfolglos blieb. Er
selbst hat zum Film eine Einleitung gesprochen.
Das vielleicht pikanteste Beispiel damaliger
Industriegeschichte ist das Schicksal des Triergon-Verfahrens,
in das auch die Schweiz verwickelt wurde. Beinahe wäre nämlich eine
schweizerische Gesellschaft Träger des Lichttonverfahrens geworden.
Die bereits genannten drei deutschen Ingenieure Vogt, Engl und Masolle
entwickelten unter dem Namen Triergon
ein Tonsystem, das auf der Aufzeichnung auf dem Filmband beruhte. Zwischen 1922
und 1925 wurden mehrere Tonfilm-Vorführungen mit diesem System, so z. B. im
Berliner "Alhambra" durchgeführt (siehe Film demnächst, Nr. 14, Juni 1982). Die Triergon-Gruppe hat
auch in Zürich ihre Erfindung gezeigt. Am 21. Nov. 1923 zeigte der Zürcher
Kinopionier Jean Speck im Kino Bellevue den "sprechenden Film". Nach
drei Wochen war der Zauber vorbei.
Die Ufa erwarb die Lizenz auf die seit 1919 bestehenden Triergon-Patente, verkaufte jedoch 1926 diesen Schatz der Zukunft, wenn man so formulieren kann, an eine Schweizer Finanzgruppe der Herren Heusser, Staub, Hebberlein und Ikle, welche den Goldschatz an William Fox weiterveräusserte. Auf der Basis dieses Patentes entwickelte der Elektro Konzern Western Electric ein Nadeltonverfahren, das 1927 als "Movietone" – ein Lichttonverfahren – Fox Tönender Wochenschau zum Weltruhm verhalf. Die Ufa kaufte drei Jahre später das Verfahren zurück, das dann als Tobis Klangfilm den deutschen Tonfilm ausmachte. Und die Schweizer Gruppe, die den Goldschatz in den Händen hatte, schloss sich dem Tobis-Konzern an. (Vgl. Toeplitz II, S. 15, 25, 26, dazu auch Leprohon II, S. 119)
Damit sind wir mit unserer Filmgeschichte wieder einmal mehr
– ich denke an die erste Vorlesung hier – mitten in der Industrie- und
Wirtschaftsgeschichte angelangt. Und der Durchbruch des Tonfilms ist denn auch
ein Teil der Wirtschaftsgeschichte. Die Radio-, Telefon- und Elektro-Industrie
versuchte von 1925 an die Anwendung und Auswertung der bestehenden Systeme: das
Vitaphone-System, das auf
Schallplatten und das Movietonesystem,
das auf dem Lichttonverfahren beruhte.
Die Wende kam, als ein Filmproduzent aus der Ablehnungsfront
ausbrach. Wieder einmal mehr, bereits zum dritten Mal standen die Warner
Brothers, Sam, Harry, Albert und Jack, vor dem Bankrott. Einmal waren sie durch
den Filmhund Tin Tin Tin gerettet worden, der einer der grössten Filmstars
wurde. Diesmal sollt es der Ton sein.
Seit 1925 besass die Bell Telephone Company, die dem
amerikanischen Konzern American Telephone and Telegraph Company gehörte, ein
Tonverfahren mit synchron laufenden Schallplatten, welche für eine
grossangelegte Marktauswertung geeignet schien. Ein gewisser Major Nathan
Levinson stellte die Verbindung zwischen der Western Electric und den Warner
Brothers her. Major Nathan Levinson hatte bereits für die Warners eine Radiostation in Hollywood eingerichtet.
Es scheint mir bezeichnend, dass jene Filmproduktionsgesellschaft, die dem Tonfilm
zum Durchbruch verhelfen wird, sich zunächst dem Medium Radio zuwandte. Sam war
offensichtlich vom Medium Radio begeistert. Bezeichnend ebenso ist, dass eine
andere 1926 entstandene Filmgesellschaft RKO
Radio Pictures incorporated als Vorspannzeichen einen Sendeturm auf einem
Globus mit ausstrahlenden Tonwellen setzte. Film hiess mit der weltweiten Verbreitung
von Radiowellen assoziieren.
Am 25. Juni 1925
wurde zwischen Western Electric und Warner Bros. der Auswertungsvertrag
abgeschlossen und dem Verfahren der Name "Vitaphone" gegeben.
Anschliessend galt es, die erste Tonpremiere sorgfältig und finanziell
aufwendig vorzubereiten: Eine Eröffnungsansprache von Will Hays, dem
Präsidenten der Motion Pictures Producers and Distributors Association
(Produzenten- und Verleiherverband) wurde visuell-akustisch aufgenommen. Der
bereits abgedrehte Stummfilm DON JUAN mit John Barrymore wurde mit
einer von Henry Hadley komponierten
und von den New Yorker Philharmonie gespielten Musik versehen. Die
Synchronisation soll 110'000 Dollar gekostet haben. Am 6. August 1926 fand die Premiere statt. Anschliessend war das
Warner Theatre wochenlang ausverkauft. Hollywood jedoch dachte nicht daran, den
Stummfilm aufzugeben. Nur William Fox erwarb die Rechte des Lichttonverfahrens Movietone
und bereitete die dokumentarische Verwertung des Tons vor. Die Warners stellten
einen weiteren mit synchronlaufenden Schallplatten versehenen Film her: OLD SAN FRANCISCO (1927). Hollywood regte sich immer noch nicht. Zu
viele Tonfilmsysteme waren bereits nach kurzer Zeit wieder verschwunden.
Am 6. Oktober 1927
findet in New York im Warner Theatre die Premiere jenes Films statt, der dem
Tonfilm zum Durchbruch verhalf: Alan Croslands THE JAZZ SINGER mit
dem Broadway Star Al Jolson, einem jüdischen Emigranten, der in der
Schminkmaste eines Negers für den Film nicht nur Jazzsongs, sondern auch
hebräische Lieder sang.
Es stellt sich die Frage, weshalb dieser Film den von der
Filmindustrie, den Filmschaffenden, Verleihern und Kinobesitzern verteidigten
Stummfilm liquidierte.
THE JAZZ SINGER ist, was durchaus als ein
Zeichen für die Zukunft gesetzt werden kann, ein eskapistischer Film, ein
"cinéma d'évasion", der mit Musik, Tanz und Gesang und mit exotischen
Bildern aus der Welt des jüdischen Ghettos und des Theaters in eine akustische
Traumwelt entführte.
Die Geschichte ist – wie die Lieder – rührend, sentimental
ergreifend: Ein jüdischer Junge, dessen Vater Rabbi und Cantor ist, bricht aus
dem musikbewegten Ghetto aus und singt ebenso intensiv wie sein Vater die
Gebete, jedoch Hüfte schwingend in den Cafés die Musik seiner Zeit. Unter dem
grossen Schmerz der Mutter wird der aufsässige, musikalische Junge vom
intoleranten, autoritären Vater verstossen. Der Junge wird ein bekannter
Jazzsänger, aus dem kleinen Juden Jacki Rabinowitz der vitale Amerikaner Jack
Robin. Statt in der Synagoge wie sein Vater singt er in den Revuetheatern und
Music Halls, wo die Girls ihre Beine schwingen. Der Religion wird das Spektakel
entgegengesetzt, dem Juden der geschminkte Neger, der Synagoge das Theater. Auf
diesem kontrastreichen Hintergrund bricht der Konflikt aus.
Statt des sterbenden Vaters soll der Sohn in der Synagoge
singen und dafür auf sein Theater verzichten. Der Konflikt löst sich auf, indem
der Sohn, um das Herz seiner Mutter nicht zu brechen, in der Synagoge das
jüdische Gebet "Kol Nidre" singt, doch die Mutter erkennt, der Sohn
gehört nicht mehr der Synagoge, sondern der Welt an. Amerika ist gross und
weit. So singt Jack für seinen Gott und zugleich bleibt er der Jazzsinger. Sein
Gebet ist dem Jazz gleich, den er als Weisser in der Maske des Negers singt.
Der Inhalt gibt nicht nur eine präzise Schilderung ethnischer Gruppen wieder, sondern spiegelt trotz der eskapistischen Erzählstruktur nachvollziehbare Mentalitäten. Dieses soziale Umfeld und auch die Beziehung zwischen Mutter und Sohn, welche die Züge eines Liebespaares unter dem Terror eines übermächtigen Vaters aufweist, wäre durchaus einer sozialgeschichtlichen Interpretation wert, umso mehr, als der erste Tonfilm gesellschaftliche und emotionelle Muster blosslegt, die – mangels eines konkreten Tons, in unserem Falle einer milieuspezifischen Musik – dem Stummfilm a priori verschlossen waren. Damit wird bereits mit dem ersten erfolgreichen Tonfilm die noch durchaus unbewusste Funktion des Tones – nämlich Teil sozialakustischer Umschreibung zu sein – fassbar.
Ich möchte im Folgenden die Tonstruktur von Croslands
THE JAZZ SINGER analysieren. Der Film beginnt als Stummfilm mit Musikbegleitung, genau
wie es die Warner Brothers vorgesehen hatten: Der Tonfilm macht die
Live-Musikbegleitung überflüssig. Zwischentitel verbinden die einzelnen
Einstellungen, eine damals übliche, durchaus dialogische Konzeption, wie sie z.
B. von Stroheim in dieser Zeit in THE WEDDING MARCH (1927) so bravourös
gehandhabt wurde, dass man glaubte, den kommenden Tonfilm mit direkt
gesprochenen Dialogen vorauszuhören.
Dann erfolgt in Croslands Film ein erster unerwarteter
Einbruch: Wie der Knabe zu singen beginnt, setzt ein synchroner Direktton ein:
Geradezu schlagartig wird die Unmittelbarkeit des Gesangs fassbar.
Nach der Gesangsnummer wird der Ton wieder zur
Musikuntermalung, die im Laufe des Films immer mehr als Kinomusik das Geschehen
nicht nur akustisch begleitet, sondern gefühlsträchtig die Dramaturgie
mitbestimmt. Es ist durchaus reizvoll zu verfolgen, wie durch die neue
Möglichkeit, die Musikbegleitung präzis der jeweiligen Szene anzupassen, die
Kinomusik auch eine inhaltliche Funktion erhält.
Der Erfolg dieser Szene muss ungeheuerlich gewesen sein. Wie die Zuschauer erlebten, dass in der Nahaufnahme der gesprochene, übrigens sehr improvisiert wirkende, natürlich gesprochene Text synchron aus dem Munde kam, gerieten sie in Ekstase. Stundenlang standen die Menschen Schlange vor dem Warner Theatre.
Was sich vorfindet, ist ein musikuntermalter Stummfilm, in
welchem die Dialoge mit Zwischentiteln wiedergegeben werden. Eingebaut in die
Story ertönen die einzelnen Vokalnummern Al Jolsons und des Gesangs in der
Synagoge, besonders des Cantors Rosenblatt, als synchroner Direktton.
Dann geschah etwas Unerwartetes: Während Al Jolson am
Klavier Irving Berlins berühmtes Lied "Blue Skies" seiner Mutter
vorzuspielen beginnt, spricht er für die Zuschauer lippensynchron seh- und
zugleich hörbar die Mutter an: Did you like that, Ma", und dann setzt eine
[?].5 Sekunden dauernde Sprechszene,
ungemein direkt, intensiv, vital gesprochen. [?] singt Jack der Mutter sein
Lied vor, das er für sie ausgelesen hat. Die Türe öffnet sich, der Vater tritt
ein, sieht die Szene und schreit "Stop". Dann geht der Film als
musikalisch untermalter, mit Zwischentiteln versehener Stummfilm weiter.
Am Tage nach der Premiere schreibt Variety, die bekannte Theater- und Filmzeitschrift am Broadway, von der "ungeheuren Verführungswirkung" von Croslands Tonfilm. In der gleichen Nummer wird der Tod Sam Warners mitgeteilt, der am Tage vor der Premiere 41-jährig gestorben war. Es ist jener Warner, der seine Brüder überzeugt hatte, das Vitaphone-System anzukaufen. Keiner der Brüder war an der Premiere anwesend.
Zum Ausklang zeige ich Ihnen einen kleinen Film von [Norman] McLaran, dem grossen kanadischen Filmexperimentator, der sich immer wieder mit visuellen und akustischen Strukturen auseinandergesetzt hat. CAPRICES EN COURLEURES: ein Spiel von Musik, Farbe und Ton, also kein Sprechfilm, sondern die Leinwand wird als ein visuell-akustisches Erlebnis genommen – der Film versteht sich als eine sehbare, hörbare Evokation. Die Leinwand will ästhetischer Eskapismus sein.
INDIA SONG, Marguerite Duras, F 1974, Farbe – 1:1.33 – 120 Min. – © [ohne Jahr] Benoît Jacob Vidéo – DVD (Code 2)
DESERTIR/DER DESERTEUR, Wsewolod Pudowkin, Sowjetunion 1933,s/w – 1:1.33 – 106 Min. – © 2002 Image Entertainment – DVD (Code 1)
GERMANY CALLING, Charles Ridley, GB 1941
UN GRAND AMOUR DE BEETHOVEN, Abel Gance, Frankreich 1937, s/w – 1:1.33 (4:3) – 117 Min. – © 2000 Image Entertainment – DVD (Code 1)
KOMPOSITION IN BLAU, Oskar Fischinger, Deutschland 1935
THE JAZZ SINGER, Alan Crosland, US 1927, s/w – 1:1.33 (4:3) – 96 Min. – © 2007 Warner Home Video – DVD (Code 0)
CAPRICES EN COURLEURES, Norman McLaran, Canada 1949