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Seminar für Filmwissenschaft

Viktor Sidler: Kino der Dreissiger- und Vierzigerjahre

13. Vorlesung: Geschichte, Zensur, Gesellschaft – Russischer Film

In der heutigen Stunde beschäftige ich mich zunächst mit deutschem Filmen, die zwischen 1933 und 1945 in Deutschland verboten wurden und anschliessend wende ich mich dem russischen Film zu. Beschäftigung mit der Geschichte des Films ist zugleich auch eine Annäherung an die jeweilige historische gesellschaftspolitische Situation, aus der der Film erwächst. Daraus ergibt sich die Fragestellung nach Filmen, die sich in der einen oder anderen Weise als Spiegelung der Zeit verstehen. Ebenso aufschlussreich können jedoch Filme sein, die Inhalte und Formen aufweisen, welche nicht als Spiegelung umschrieben werden können, sondern zunächst einmal als reine Filmlandschaft – als Kinotraum – erscheinen in einer Zeit, deren Wirklichkeit nichts mit Traum, sondern – wie z. B. in Kriegszeiten – nur mit brutaler Existenz von Wirklichkeit zu tun hat. Hier liegt ein Untersuchungsfeld für alle Medien – nicht nur des Films – die eine erlebbare Alternative zum vorgefundenen Alltag sind.
In diesem Zusammenhang werden auch jene Filme wichtig, die produziert und für die Vorführung bereitgestellt, einer Zensur unterliegen, sodass sie wohl einen Produzenten und Realisator kannten, aber nie einen Rezipienten. Oder konkret auf ein anderes Feld übertragen: die Ausstellung "Entartete Kunst" (1937) sagt über das Kulturverständnis einer staatlichen Ordnungsmacht ebensoviel aus wie die offiziellen Aufträge, welche inhaltlich und formal eine bestimmte Sicht postulieren sollten.

Welche Filmlandschaften durften nicht begangen werden?
Diese Frage wird besonders dringlich, wenn ein Produktionssystem aufgebaut wird, das bis in die letzten Details staatlich kontrolliert wird, dessen Filme aber noch einer Schlusszensur unterworfen werden, die tatsächlich trotz perfektesten Überwachung noch Verbote zustande bringt. Tröstlicherweise würde dies heissen, dass trotz feinmaschiger polizeilicher und ideologischer Kontrolle Filme möglich wurden, deren Gefährlichkeit trotz aller Vorsicht während des Herstellungsprozesses nicht erfasst werden konnte.

An den internationalen Filmfestspielen in Berlin wurde 1978 eine Reihe von deutschen Filmen gezeigt, welche zwischen 1933 und 1945 von der deutschen Zensur verboten worden waren. Dabei stellte sich heraus, dass von den 27 verbotenen Filmen nur 6 Filme die gesetzlichen Voraussetzungen für ein Verbot abgaben und nicht den ideologischen Voraussetzungen des Systems entsprachen. Die Weimarer Republik kannte folgende gesetzliche Verbotsgründe: Gefährdung lebenswichtiger Staatsinteressen oder der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, Verletzung des religiösen Empfindens, verrohende oder entsittlichende Wirkung und Schädigung des deutschen Ansehens beziehungsweise der Beziehungen zum Ausland. Jetzt kam neu hinzu: Verletzung des nationalsozialistischen, des sittlichen und des künstlerischen Empfindens. Der letzte Punkt betraf die sogenannte "Geschmackszensur". Damit kommen wir in jene Bereiche, die uns auch im Zusammenhang mit dem russischen Film beschäftigen werden, nämlich, das filmästhetische Äusserungsformen staatlicher Kontrolle unterliegen.

Die nationalsozialistischen Machthaber sahen sich selbst als Hüter der Kultur und als ausgesprochene Kunstsachverständige.
Oder wie Goebbels es selbst umschrieb – am 19. Mai 1933:

«Für uns ist die Kunst eine ernste, grosse und heilige Sache ... Für uns ist die Kunst eine Herzenssache, eine Sache, zu der wir aus innersten Beweggründen getrieben werden, und wir wollen uns nicht damit begnügen, hin und wieder den guten Schein zu wahren, sondern mit den Kreisen des Künstlertums die Verbindung aufnehmen, dem Künstler Ratschläge geben und Wegweiser sein.»

Nun der Zürcher Regierungsrat weiss wenigstens bei Preisverteilungen auch, was literarisch dem Bürger frommt.

Greifen wir noch einmal die Feststellung auf: Obwohl die Filme den Produktionskriterien und den ideologischen Vorstellungen entsprachen, wurden sie verboten da die Verbotsbegründungen teilweise fehlen – weil die Verbote vielfach nicht aktenkundig sind, da sie telefonisch erfolgten – und der rechtlichen Grundlagen entbehren, sind die Verbote aus heutiger historischer Sicht nicht nachvollziehbar. Was bedeutet dies? Das heisst, dass Gedankengänge, Emotionen, Vorstellungsbilder, Ängste wirksam waren, die heute geschichtswissenschaftlich gesehen kaum mehr nachgezeichnet und nachvollzogen werden können, dennoch als geschichtlich relevante Wirklichkeit das politische und gesellschaftliche Leben bestimmten.

Auch das Unfassbare, Nichtnachvollziehbare ist Ausdruck der Geschichte und ist nicht als historische Exotik – als Unglücksfall der Geschichte – abzutun. So versuche ich noch einmal an die Frage heranzukommen, was bedeuteten diese Verbote?
Einmal, dass zwar eine Filmprüfungsstelle bestand, dass aber die meisten Rückstellungen, Schnittauflagen, Nachaufnahmen zwecks Änderung des Films und Verbote von Goebbels und Hitler oder von einem dieser beiden ausgesprochen wurden.
Die Kontrolle des Mediums lag – L’état c’est moi – beim König selbst.
Einige Verbote lassen sich noch durch die veränderte Kriegslage erklären. Doch die meisten Verbote treffen Unterhaltungsfilme, die sich durch nichts von anderen Filmen unterscheiden. So muss man annehmen, dass persönliche Gründe wirksam wurden, was auch eine Aussage über die Personen und die Zeitsituation abgibt. So wird BESATZUNG DORA (1943) des willfährigen Naziregisseurs Karl Ritter, der zugleich noch in Ungarn fiel, verboten, weil offensichtlich Goebbels eine Stinkwut auf Göring und seine kraftlos gewordene Luftwaffe hatte, umso mehr als die Luftwaffe den Film mit allen Mitteln unterstützte und Emmy Göring mitintegrierte.

Paul Martins PREUSSISCHE LIEBESGESCHICHTEN (1938) wird von Hitler verboten, weil Goebbels' Geliebte, die tschechische Schauspielerin Lida Baarova in dem Film die Hauptrolle innehatte, wobei pikanterweise der Stoff des Films der aktuellen Situation entsprach. Unter dem Druck Hitlers verzichtete Goebbels auf seine Geliebte, gleich wie der Kronprinz von Preussen im Film auf seine Geliebte aus Gründen der Staatsräson verzichtete.
Oder hinter dem Verbot von Helmut Käutners GROSSE FREIHEIT NR. 7 (1944) scheint neben Rivalitäten um die Uraufführungsorte, ob Hamburg, Danzig oder Königsberg, der ganz persönliche Hass Goebbels' auf den schönen Hans Albers und seine gigantischen Gagen eine Rolle gespielt au haben. Selbst Willy Zielkes filmgestalterisch bewundertes Bravourstück STAHLTIER (1935) wird verboten, weil der Film in die Rivalitätskämpfe zwischen der Reichseisenbahndirektion von Berlin und der von München geriet. Eine ganze Palette persönlicher Intrigen, Prestigevorstellungen und Herrschaftsansprüchen scheinen hinter Verboten zu stehen, die sich weder aktenkundig noch rechtlich begründet umschreiben lassen.

Doch manchmal steigen eigentümliche Verhaltensformen auf, die zur psychischen Lage mehr aussagen als positivistisch fassbare Quellen: Wenn z. B. in Carl Junghans ALTES HERZ GEHT AUF DIE REISE (1939) die Epileptikerin in eine Schwangere verwandelt wird, bricht plötzlich – auf der Zensurebene jene "panische Berührungsangst" vor allen Formen psychischer Abgründe durch, die auch das Euthanasie-Programm kennzeichnet. Denn kaum ein Thema war im nationalsozialistischen Film so sehr tabuisiert wie der Wahnsinn. (Wetzel, Zensur, S.19)
Aufschlussreich kann auch sein, was Reichsintendant Hippler über den französischen Film der Vorkriegszeit aussagt, wenn man einbezieht, dass unter den verbotenen Filmen sich Szenen pessimistischer Grundstimmung finden (Peter Pewas DER VERZAUBERTE TAG (1944), Kräutners GROSSE FREIHEIT NR. 7 (1944)).

«Frankreich hat in den letzten Jahren einige Filmwerke hervorgebracht, die sowohl nationale wie internationale Preise erzielte haben, aber wegen ihrer pessimistischen Grundhaltung bei Ausbruch des Krieges selbst von der absolut liberalistischen französischen Regierung verboten werden mussten, obgleich die Grundhaltung der Filme keineswegs etwa ins Politische hinein tendierte. Nebenbei sei vermerkt, dass Frankreich den Krieg verloren hat; gewiss nicht wegen dieser Filme, aber dass sie in dieser Art und in dieser Anzahl gemacht werden konnten, ist doch sicher auch ein gewisses Symptom für die allgemeinen Haltung, aus der sie entsprangen und auf die sie einwirkten.»
DAS LÄCHELN EINER SOMMERNACHT

Ich erinnere mich, wie die Zensur des Kantons Luzern um 1958 dem Filmklub Luzern Bergmanns Film DAS LÄCHELN EINER SOMMERNACHT mit der Begründung des "Nihilismus" verbot. Wir haben uns dann den Film im bernerischen Huttwil angeschaut. Deshalb hatte der Filmklub Luzern damals noch sehr viele Mitglieder.

Wenn im nationalsozialistischen Deutschland eine staatliche Organisation den gesamten filmischen Produktionsapparat kontrollierte, der zugleich noch der Willkür von zwei Herren anheimgegeben war, die ihre Kunst- und Kulturpolitik für das Volk trieben, wie wenn sie die Whiskyqualität bestimmen würden – Hawks SCARFACE war wahrlich nicht umsonst in Deutschland verboten –, lässt sich in Russland ein viel faszinierender Prozess verfolgen. Denn die Frage eines gesellschaftlich und politisch relevanten Filmes erscheint in Russland besonders vehement, weil im russisch-revolutionären Kulturschaffen diese Frage mit ästhetischen Forderungen verbunden wird. Was im nationalsozialistischen Film sich der in Form einer Geschmackszensur äussert und sich nach den Kriterien allgemeiner Verständlichkeit richtet, wird im russischen Film zur Frage einer entsprechenden Filmästhetik.
In Russland brachte die Revolution einen neuen durch die Ereignisse geprägten Film – den russischen Revolutionsfilm – hervor, der eine der revolutionären Thematik verpflichtete Ästhetik fand. Und diese Filmästhetik wird in den Dreissigerjahren der ideologischen Kritik unterworfen – d. h. die Revolutionsästhetik hatte sich aufgrund veränderter historischer Verhältnisse einer neuen Sicht der Wirklichkeit anzupassen, dem sogenannten sozialistischen Realismus: Der geforderte sozialistische Realismus bestand in erster Linie darin, über einen positiven individuellen Helden – einem Vorläufer von Stalins Personenkult – eine realistische Antizipation einer Wirklichkeit vorzunehmen, die nur im Kino als sozialistischer Eskapismus bestand.

Wenn Eisenstein selbst erklärte, Revolution sei eine Frage der Form und nicht nur des Inhalts, ist programmatisch umschrieben, dass das sozialistische Regime, das in den Dreissigerjahren seine Macht stabilisieren wollte, um die formale Bedeutung des Films weiss und sich deshalb besonders auch um die formale Struktur kümmert. Und es wird gerade Eisenstein sein, der des Formalismus bezichtigt wird und immer wieder, obwohl er sich anpassen will, in Produktionsschwierigkeiten gerät. Sein Kurzfilm BESCHINWIESE (Beschin lug, 1937) existiert heute nur noch in der nachträglich vorgenommenen Montage vom Abfallmaterial.

Ich möchte im Folgenden versuchen, die Entwicklung des russischen Films, gerade auch im Hinblick auf die gesellschaftspolitisch bedingte Funktionalität der jeweiligen Filmästhetik nachzuzeichnen, umso mehr als die Einführung des Tonfilms in Russland in eine bestimmte historische Situation fiel; die Revolution ging in die Phase staatspolitischer Stabilisierung über.

Halten wir hier kurz inne und überlegen wir uns, in welche geschichtliche Situation der Tonfilm anderswo einbrach. In Amerika war es die Depressionszeit, und der Tonfilm nahm Filmgattungen auf, die entweder die Zeit wiedergaben oder erlaubten, der Zeit zu entfliehen: einerseits Gangster- und Horrorfilme, anderseits Musik-, Tanz-, Gesangs-, Tarzan- und Südseefilme.
In Deutschland wurde die im Stummfilm noch eingebrachte Neue Sachlichkeit das Instrumentarium, das, perfekt gehandhabt, die Voraussetzung sowohl für realistisch-illusionistische Tendenzfilme als auch für alltagsbefreiende ablenkende Unterhaltungsfilme, für Kinoträume in schweren Seiten, abgab.

In Russland spielte sich der Prozess noch prägnanter ab. Die Entwicklung des russischen Stummfilms wuchs in die Revolution hinein, wurde von der Revolution aufgenommen und als Selbstdarstellungsmittel der Revolution – als visuelles Mysterienspiel –, ein optisches Propagandainstrument für eine durch den Analphabetismus geprägte Kulturlandschaft. Was sich in anderen Ländern als Kino verstand, wurde in Russland zum Revolutionsfilm. Und dieser Revolutionsfilm fand auch eine eigene filmästhetische Formung. Eisenstein, Pudowkin, Kuleschow, Kosinzew und Trauberg aus der Avantgarde-Bewegung des exzentrischen Schauspielers, Dowschenenko und der Dokumentarfilmer Vertov entwickelten eine revolutionäre Ästhetik, die durch zwei Erscheinungsformen geprägt wurde:

  1. Das filmische Bild an sich wurde in seiner Gewalt, in seiner durch die Form geprägte Gewalttätigkeit erkannt.
  2. Statt einer auf Sukzession beruhenden epischen Erzählstruktur wurde das Prinzip der dialektischen Montage entwickelt; die auf Gegensätzen aufgebaute Bildfolge sollte aus der dialektischen Gegenüberstellung heraus den Zuschauer zu Erkenntnissen führen. Für Eisenstein wurde die Kamera zur Filmfaust – die den Zuschauer mit Hammerschlägen – d. h. mit einer Folge stoss- und aussagekräftigen Bildern – zu bearbeiten hatte.

Ende der Zwanzigerjahre, nach den Jahren des Umbruchs und des Bürgerkrieges tritt die russische Revolution in die Konsolidierungsphase, bei der es nicht mehr um die Veränderung der Verhältnisse geht, sondern um die Statuierung der Macht der Partei und um die Rückgewinnung des staatlichen Selbstverständnisses, auch wenn die ideologische Zielsetzung eine andere gewesen wäre: nämlich die Gewinnung einer kommunistischen Gesellschaft. Es werden unter Stalin jene Strukturen geschaffen, die personbezogen – Stalin – und national bezogen – russische Heimat – schliesslich ermöglichten, den vaterländischen Krieg durchzustehen.
Die gesellschaftspolitische Veränderung fand auch ihren Niederschlag in einer neuen kulturpolitischen Umschreibung, wie die Ausdrucksformen künstlerischer Gestaltung zu sein haben.
Die Revolutionsjahre hatten eine ungeheure Befreiung von allen gestalterischen Zwängen gebracht, eine geradezu chaotisch-anarchische Freude an kreativen Aufbrüchen – besonders im Bereich von Theater, Film und Literatur. Parteitage und Schriftstellerkongresse begannen Ende der Zwanzigerjahre Aufgabe, Methode und Zielsetzung künstlerischer Tätigkeit festzulegen. Es erfolgte konkret – 1934 – die Umschreibung, was als sozialistischer Realismus zu gelten habe. Statt der Forderung nach der Darstellung der Revolution als einer Bewegung revolutionärer Massen entstand die Forderung nach der Darstellung des individuellen revolutionären Helden, der als positiver Held dem russischen Menschen im Alltag und in seiner gesellschaftspolitischen Fantasie zum Vorbild werden sollte. Es ist der Weg vom revolutionsvitalen Film zum staatspolitisch richtigen Film, der schliesslich existieren wird, aber an Produktionszerfall praktisch abstirbt.

1952 werden in Russland noch fünf Spielfilme gedreht. Als Vergleich dazu folgende Zahlen: 1933 entstanden 48 Stumm- und 21 Tonfilme, 1934 53 Stumm- und 24 Tonfilme. Selbst 1937, als Shumjazki, der Direktor der Hauptverwaltung für Kinematografie, seine gigantischen Hollywood-Pläne für den sowjetischen Film nicht mehr erfüllen vermochte, kamen noch 25 Spielfilme in die Kinos – statt den gemäss Plansoll vorgesehenen 62.

Ich umschrieb eine Veränderung: die Veränderung von der revolutionären Aktion zur Statuierung einer staatlichen Macht, die mit den Feinden der Revolution, d. h. mit den Feinden des neuen Staates aufzuräumen hatte. Und in die Zeit der Veränderung fällt in Russland der allmähliche Übergang vom Stumm- zum Tonfilm. Im Gegensatz zu den anderen führenden Filmländern war dies ein jahrelanger Umstrukturierungsprozess.

In Russland war die Produktion von Filmen stets mit einer heftigen theoretischen Auseinandersetzung über die Frage verbunden, was Film und seine visuelle Gestaltung, seine gesellschaftspolitische Zielsetzung sei. So ist bezeichnend, dass in Russland, bevor es überhaupt einen Tonfilm gab, eine Theorie des Tonfilms erschien. Ohne auf praktische Beispiele zurückgreifen zu können, ohne konkrete Erfahrungen gesammelt zu haben, publizierten die drei russischen Regisseure Eisenstein, Pudowkin und Alexandrow am 20. Juli 1928 in der Moskauer Zeitschrift "Shisn iskusstwa" (Das Leben der Kunst) ihr "Manifest zum Tonfilm".
Programmatisch, klingt der Anfang:

«Der Traum vom Tonfilm ist Wirklichkeit geworden. Mit der Erschaffung eines brauchbaren Tonfilms haben die Amerikaner den ersten Schritt seiner substantiellen und schnellen Realisierung unternommen. Deutschland arbeitet intensiv in der gleichen Richtung. Die ganze Welt spricht von dem schweigenden Gegenstand, der sprechen gelernt hat.»

Doch den drei Regisseuren ist es klar, dass in der UdSSR noch auf längere Zeit wegen den technischen Schwierigkeiten der Tonfilm nicht verwirklicht werden kann, dass es aber dennoch darum gehe, sich theoretisch mit der Veränderung des filmischen Mediums auseinanderzusetzen, da die neue Erfindung den Film als Kunst, die filmische Form zu zerstören drohe:

«Eine falsche Auffassung von den Möglichkeiten innerhalb dieser neuen technischen Entdeckung konnte nicht nur die Entwicklung und Perfektionierung des Films als Kunst behindern, sondern sie droht auch alle seine gegenwärtigen formalen Leistungen zu zerstören.»

In der Folge definieren die drei Regisseure den bisherigen Film als ein Medium, das einen starken emotionalen Effekt auf die Menschen ausübt, und diese "mächtige Kraft" beruhe – und hier bricht das besonders von Eisenstein geprägte revolutionäre Verständnis der filmischen Form durch – diese "mächtige Kraft" beruht auf dem "elementaren und einzigen Mittel", das sich "Montage" nennt, was auch den Erfolg des sowjetischen Films in der Welt ausmache.
Daraus ergibt sich eine klare filmästhetische Wertung.

«Für die weitere Entwicklung des Films werden daher nur solche Momente von Bedeutung sein, die mittels der Methoden der Montage den Zuschauer ansprechen. Untersucht man jede neue Entdeckung von diesem Gesichtspunkt aus, dann ist es leicht zu zeigen, wie bedeutungslos Farbe und stereoskopischer Film im Vergleich mit der grossen Wichtigkeit des Tons sind.»

Von diesem Ansatz ausgehend sehen die drei Regisseure ebenso deutlich die mögliche Fehlentwicklung des Tonfilms, nämlich einerseits die Reduzierung des Tons auf die Möglichkeit synchroner Anwendung, zum Bild die akustische Entsprechung gesetzt, deren Zielsetzung einzig die Illusionswirkung ist, anderseits dass der Tonfilm nichts anderes als verfilmtes Theater wird.

Aus der scharfen Ablehnung des Synchrontons, weil er die bisher gültige Ästhetik der filmischen Montage  zerstören würde, ergibt sich die Forderung nach der Asynchronität, nach der kontrapunktischen Anwendung des Tons. Da die drei Regisseure in der Anwendung der Zwischentitel einen Engpass sehen und auch um die Grenzen der visuellen Montagetechnik wissen, begrüssen sie den Tonfilm als eine Erweiterung der Gestaltungs- und damit der Aussage- und Wirkungsmöglichkeiten des Films. Bezeichnend für das Tonverständnis von Eisenstein, Pudowkin und Alexandrow ist, dass sie nicht das Trauma der nationalen Einengung und damit der Reduzierung des Marktes erleben, wie dies im westeuropäischen Kino der Fall war, sondern den Tonfilm als Möglichkeit sehen "eine filmisch gestaltete Idee weltweit zu verbreiten."

«Der Ton wird, wenn er als neues Montage-Element verstanden wird (als ein vom visuellen Bild getrennter Faktor), zwangsläufig gewaltige Möglichkeiten zum Ausdruck und zur Lösung der kompliziertesten Aufgaben mit sich bringen, die wir jetzt, mit den Mitteln einer mangelhaften Filmmethode, nämlich der ausschliesslichen Arbeit mit visuellen Bildern, nicht lösen können. […] Eine derartige Methode würde sich nicht, wie das Abfilmen von Dramen, auf einen nationalen Markt beschränken müssen, sondern wird wie niemals zuvor die Möglichkeit bieten, eine filmisch gestaltete Idee weltweit zu verbreiten.»

Zwei Jahre nach dem Manifest – 1930 – wurde in Leningrad das erste Tonkino eröffnet. Wie immer in der sowjetischen Kulturpolitik findet auch gleich die ideologische Regelung und Absicherung statt. Auf dem Kongress der ARRK (Assoziation der Mitarbeiter der revolutionären Kinematografie) wird anfangs 1929 die Allgemeingültigkeit der Asynchronität postuliert (Toeplitz II, S. 231). Und ebenso bezeichnend ist die Ansprache des Dramaturgen des Leningrades Studios Sowkino anlässlich der Eröffnung des ersten Tonfilmkinos in Leningrad:

«Jetzt steht vor uns in aller Grösse die Frage der Erbschaft des ausländischen Tonfilms. Man schlägt uns vor, die naturalistischen Tendenzen des ausländischen Tonfilms zu übernehmen. Aber es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass unser Tonfilm einen vollkommen anderen, selbstständigen Weg gehen wird.» (zit. nach Toeplitz II, S. 230, dort genaue Angabe)

Der andere Weg hiess zunächst einmal, anhand des Dokumentarfilms mit dem Ton zu experimentieren. Die Dokumentarfilmer erhofften vom Ton eine erhöhte Authentizitätswirkung des Bildes. Dabei ging man davon aus, Geräusche und Laute niemals in der Natur aufzunehmen, sondern in den Tonstudios artifiziell herzustellen.
Bereits in einem 1929 erschienen theoretischen Artikel von Ippolit Sokolov "Möglichkeiten des Tonfilms" stand zu lesen, was auch entsprechend beherzigt wurde: "Unorganisierte Geräusche unserer Strassen und Häuser führen zu einer wahren Kakofonie, zu einem Katzenkonzert." (zit. nach Toeplitz II, S. 235)

Dass der Dokumentarfilm im Moment, da der Tonfilm in Erscheinung trat, eine solche Rolle zu spielen begann, hängt mit der kulturpolitischen Entwicklung in Russland zusammen.

Die Jahre 1930 und 1931 bilden die Zeit des Agitpropfilms (Propagandafilms) und des Politproswetfilms (Kulturpolitischen Films), nachdem 1929 die "kommerzielle Leinwand", d. h. die Ausrichtung der Produktionsgesellschaften nach Kassenerfolgen kritisiert worden war. Die Künstlerverbände (RAPP und AKKR) unterstützen ideologisch diese Entwicklung, weil sie an der Wirkung der Fakten und revolutionärer Slogans glaubten. Die Doktrin der ARRK lautete: "Der Agitpropfilm, der Instruktions-, der Lehr- und der populärwissenschaftliche Film – das ist die Basis der sowjetischen Filmproduktion". So wurde anfangs 1931 beschlossen, dass nur noch 25% der Filmproduktion Spielfilme sein dürfen (vgl. Italien).

Der grosse Tonexperimentator des Dokumentarfilms wurde Dziga Vertov, der sich, bereits bevor er zum Film kam, mit experimentellen Ausdrucksformen des Tons auseinandergesetzt hatte. 1929 – also wiederum vor der technischen Kenntnis des Tonfilms – publizierte Vertov in seinem Manifest "Aus dem Alphabet der Kinoki" seine Thesen "Vom Kino-Auge zum Radio-Ohr".
Da schreibt Vertov vom "Radio-Auge": also von der Verbindung von Ton und Bild und zugleich träumt Vertov von einem Dokumentarfilm, der alle Sinne ausspricht. Das "Ungestellte" – das nicht inszenierte Leben sollte in seiner vollen sinnlichen Direktheit auf den Zuchauer treffen.

«Die technischen und praktischen Arbeiten der Kinoki-Radioki haben schon längst die momentanen technischen Möglichkeiten überholt und warten nur auf die technische Basis für die Verbindung des Laut-Kinos mit dem plastischen Sehen. Die letzten technischen Erfindungen auf diesem Gebiet liefern dem "Radio-Auge", d. h. in die Hände der Lautdokumentarischen Kinoschrift, die mächtigste Waffe für den Kampf um das "Ungestellte".
Neuntens: Von der Montage der schaubaren und auf dem Filmband aufgezeichneten Fakten (Kino-Auge) – zu der Montage der schaubar-hörbaren und dem Radio übergebenen Fakten (Radio-Auge) – zu der Montage gleichzeitig schaubar-hörbar-riechbaren und tastbarer Fakten – zu der die menschlichen Gedanken überrumpelnden Aufnahme, und endlich Zehntens: Zu den Versuchen einer direkten Organisation der Gedanken (d. h. auch der Handlungen) der gesamten Menschheit.»

Für Vertov bedeutet die Filmtechnik nicht Beschränkung oder Einengung, sondern das Instrument, noch direkter an die Authentizität der Fakten zu gelangen. Und so schafft er mit DONBASS-SYMPHONIE (1930) einen Film, der den synthetischen Studioton hinter sich lässt und den Direktton als vitales Gestaltungsmittel einbezieht.

Um 1931 setzt eine erneute Wende ein, die wiederum die gegenseitige Verstrickung von Partei, Kulturpolitik und ästhetischer Ausdrucksform aufzeigt. Sojusfilm wagt sich im Gegensatz zu den revolutionären Künstlerverbänden zu stellen – zu ARRK und RAPP –, welche jegliche künstlerische Äusserung rein politischen Gesichtspunkten unterwerfen wollen. Sojusfilm weist zaghaft darauf hin, dass die Filme wieder unterhaltsamer werden und mehr Spielfilme produziert werden sollten. Die Partei nimmt diese Ideen auf und löst die ideologisch ausgerichteten Künstlerorganisationen, welche hinter dem "Kassemachern" einen Verrat am Adel der Kunst erblicken, auf. (Toeplitz II, S. 237)

Gleichzeitig kommen neue Spielfilme, die bereits den Bruch mit den Agitpropfilmen vollzogen haben. Es sind Regisseure aus der filmischen Avantgarde wie Juli Raisman, der sich vom Expressionismus beeinflussen liess, Sergej Jutkewitsch und Kosinzev und Trauberg, die aus der FEKS, der Fabrik des exzentrischen Schauspielers, stammten. Diese Regisseure suchen neue Formen und versuchen, aus den Schablonen des Agitpropfilms auszubrechen.

Raismans Film heisst DIE ERDE DÜRSTET (1931). In diesem Film findet sich eine Sequenz, in der die Jugendbrigade ein Bachbett baut. Am Ende des Films sprudelt das Wasser von den Bergen ins Tal. Drei Jahre später nimmt King Vidor in jenem amerikanischen Film, der den gesellschaftlichen Zukunftsglauben des New Deal spiegelt, in OUR DAILY BREAD diese Idee wieder auf. Am Ende von Vidors Film jagt die Kamera mit dem sprudelnden Wasser zu Tale mit, das sich unter dem Jubel der Menschen auf die ausgedörrten Felder ergiesst. Und auch in 1934 dreht der polnische Regisseur Aleksander Ford den Film SABRA. In diesem Film findet sich wiederum die gleiche Wassersequenz. (Toeplitz II, S. 238)

Aufbruchstimmungen scheinen ähnliche oder gleiche Bildtopoi hervorzubringen. Wasser, das hoch oben in den Bergen gewonnen, in einem durch Menschenhand in kollektiver Arbeit geschaffenen Wassergraben zu Tale stürzt und sich auf die ausgedörrten Felder ergiesst, damit eine neue Zeit begänne. Fünf Jahresplan in der UdSSR und New Deal in den Vereinigten Staaten von Amerika.

1931, im gleichen Jahr, wie sich die kulturpolitische Wende anbahnt und neue ungewohnte  Filme in die Kinos kommen, wie z. B. Kosinzevs und Traubergs ALLEIN (Odna), in dem Leningrad als Traumwelt erscheint, wird am 1. Juni der erste russische Tonfilm aufgeführt: Nikolai Ekks DER WEG INS LEBEN (Putjowka w Shisn).
Auf diesen Film möchte ich näher eingehen. Es ist ein Film über die Besprisornys, jene obdachlosen, elternlosen, herumstrolchenden Jugendlichen, die seit dem Bürgerkrieg und dem grossen Hunger, vielfach in kriminellen Banden organisiert, zu einem schwer zu lösenden Problem geworden waren. Der Film stellt zunächst sozial und psychologisch klar umrissen diese Jugendlichen, ihre "Arbeits"- und Lebensweise dar. Das eigentliche Thema des Films ist jedoch, wie die "Verlorenen" über selbstverwaltete Arbeitslagern – in einem ehemaligen Kloster in einer gottverlassenen Sibirienlandschaft – und mit Hilfe aussergewöhnlicher Erziehungsmethoden – statt Gefängnis Ausbildungsstätten und Arbeitsbrigaden – zu guten Sowjetbürgern geformt werden. Hintergrund des Films bilden die für die Zeit ungewöhnlichen Erziehungsmethoden Anton Makarenkos, der als erster zu Beginn der Zwanzigerjahre Wohngemeinschaften für kriminelle Jugendliche aufbaute.

Seit 1923 versuchte man die Resozialisierung der "Verlorenen", doch 1931, als der Film in die Kinos kam, gab es immer noch 8000 Besprisornys, welche als "wilde Kinder" – heute würde man sie Rocker nennen – mit ihrem gesetzlosen Verhalten, Diebstählen, Überfällen die sozialistische Gesellschaft verunsicherten. So war Ekks Film nicht nur als Tonfilm eine Sensation – der Film lief über ein Jahr in Moskau –, sondern lebte von einer unmittelbaren Aktualität, die in einem dramatischen Spielfilm umgesetzt die Zuschauer ansprach.


Nikolai Ekk ist eine der eigenartigsten Erscheinungen des russischen Films. Zunächst Schüler, Schauspieler und Regisseur bei Meyerhold, kam er zum Film, weil ihn die Technik faszinierte. Gleich wie Ekk den ersten Tonfilm realisiert, drehte er später den ersten sowjetischen Farbfilm GROUNIA KORNOKOVA, stellte er die erste sowjetische Shakespeare-Verfilmung her, verwirklichte er nach dem Krieg den ersten sowjetischen Farb-Televisionsfilm und führte 1968 den ersten stereoskopischen Film ohne Brille vor. Er lancierte, hatte Erfolg – DER WEG ZUM LEBEN wurde ein Welterfolg –, dann wandte er sich einer neuen filmtechnischen Forschung zu.

Der erste russische Tonfilm ist in verschiedener Beziehung bemerkenswert. Als ein ausgesprochen dialektischer Film lebt er von Gegenüberstellungen. Die Dialektik weist sich jedoch nicht als eine Dialektik der Montage aus, sondern ist Teil einer durchgehenden Erzählstruktur, die sich von der Montagetechnik des russischen Stummfilms gelöst hat. Die szenischen Gegenüberstellungen münden in eine apotheotische Widmung des Films an den ersten Jugendkommissar der Sowjetunion Dzerjinsky ein, der am Ende des Films als strahlende Plastikbüste im Sinne des bereits in dieser Zeit praktizierte Personenkults erscheint. Zudem wird der Film durch ein Gedicht eingeklammert, als würde der ganze Film, was aber nicht dem filmischen Stil entspricht, als Poesie – und somit als Kunst erklärt.
Ein Künstler der Sowjetunion trägt zu Beginn und am Ende des Film ein Gedicht vor, das in schöner Sprache das Elend der verwahrlosten Jugend und die Überwindung der Schwierigkeiten durch die sozialistische Gesellschaft besingt. Die Quintessens des Erfolges im winterlichen Arbeitslager lautet: "Die Sowjetunion, überzeugt von der Macht der Gemeinschaftsarbeit, die freiwillig auf sich genommen wird, gibt den jungen Leuten ihre Lebenskarte." Die Lösung lautet: "Freiheit! Arbeit für alle!" Der Fluch der Assoziationen. Über dem Torbogen zu Auschwitz steht: "Arbeit macht frei".

Eingebettet in diesen lehrhaften didaktischen Rahmen, in diese sozialistische Aufbauästhetik, vollzieht sich eine Erzählstruktur, die verschiedene Ebenen aufweist.

  1. eine dokumentarische: die Selbstdarstellung der Gruppe, die Razzia
  2. eine idealisierende: Darstellung der Arbeit als eine Symphonie, die ideale Familie in verklärendem Glanz
  3. die filmische Ebene, welche einige hinreissende Sequenzen aufweist: so die Darstellung der Banditenhöhle, die Unterwelt-Romantik mit ihrer visuellen und akustischen Faszination des Bösen und Lasterhaften. Die Zerstörung der Maschinen durch die Jugendlichen und andere Szenen mehr.

1. Zur dokumentarischen Ebene:
Die Lebens- und Arbeitsweise der Besprisornys wirkt wie eine dokumentarische Selbstdarstellung der Jugendlichen. Ekk wählte sie aus dem Arbeitslager von Lyouberets aus: Laiendarsteller, als würde es sich um einen Film des italienischen Neorealismus handeln. (Quelle: Perpignanpapier, Jai Leyda, S. 329f.)
Eine nüchterne Fotografie, grau in grau, gibt glanzlos in einem veristischen Stil das Elend der Jugendlichen wieder, wie sie an den Bahnhöfen herumhangen, auf ihre Opfer warten, wie sie eingefangen, von den Bürgern fast gelyncht, von Polizeikommissaren gejagt, in schwarzen Höhlen aufgestöberte und eingesammelt werden. Wie Kriegsdokumente wirken die fiktiven Selbstdarstellungen.

2. Dem gegenüber findet sich eine idealisierende Darstellung: Gleich einem Reklamebild erscheinen die Aufnahmen einer glücklichen russischen Familie, bevor das Schicksal zuschlägt, die Mutter stirbt, der Vater zum Säufer und der Sohn zum jugendlichen Kriminellen wird. Zur idealistischen Ebene gehören auch die pathetischen, musikalisch rhythmisch aufgebauten Arbeitssequenzen. Hier wirkt die Montagetechnik des Stummfilms nach, gleichwie in den didaktischen Zwischentiteln

3. Faszinierend ist jedoch, was ich als die filmische Ebene bezeichnen möchte, Ekks unmittelbare Freude an der formalen Umsetzung des gegebenen Inhalts in eine visuelle und akustische Filmgegenwart. Unbeeindruckt von irgendwelchen Tonfilmmanifesten, apodiktisch aufgestellten Regeln und Gesetzen, wie ein Tonfilm zu sein habe, arbeitet Ekk mit Geräuschen, Musik, Liedern, Stimmen im Off, Dialogen und mit Bildern, die von der Tonpartitur getragen werden.
Filmisch besonders aufschlussreiche Sequenzen finden sich im zweiten Teil des Films. Dem Aufbauwerk erwächst ein Widersacher. Shigan, der ehemalige Anführer der Jugendbande, lässt sich nicht in den Umerziehungsprozess eingliedern und errichtet in der Nähe der Arbeitsstätte in einer Waldhütte eine Lasterhöhle, in der sich die Unverbesserlichen zu Gesang, Weib und Vodka treffen. Mit einer expressiven Fotografie und einer Bildgestaltung, die an den kontraststarken deutschen Film der Zwanzigerjahre erinnert, und mit einer auf schwermütigen Gesängen aufgebauten Tonpartitur entsteht eine visuelle und akustische Faszination des Bösen, Lasterhaften, Sündigen, wie wenn es im Sinne von Georges Batailles "Les larmes de l'eros" gälte, die Welt des Teufels gleich mittelalterlichen Bildern und Plastiken besonders attraktiv zu gestalten.

Hell-dunkel-Kontraste, geschminkte Gesichter des Lasters, eine heftige auf Schwenk aufgebaute Kamera, hingebungsvolle Musik, der antirevolutionäre Slogan "Weiber und Vodka, die Banditenhöhle mit Enthusiasmus inszeniert und gespielt, sodass Toeplitz in seiner Filmgeschichte leicht pikiert und ideologisch irritiert von einer Unterwelt-Romantik spricht, die erst noch durch eine sehr konsumträchtige, eingängige Musik unterstützt werde:

«Die melodramatische Tendenz des Regisseurs schlug sich in der falschen Romantik nieder, mit der die Banditenwelt dargestellt wurde. Es geht natürlich nicht um etwaige Beschönigung von Menschen und Milieu, sondern darum, dass die Exotik dieses Milieus, die fremdartige Atmosphäre, in der diese jungen Obdachlosen leben, sehr stark hervorgehoben wurde (von der Musik noch zusätzlich unterstrichen). Ausserdem scheint die Handlungsweise der Rowdys und Banditen von einem gewissen Fatalismus geprägt zu sein, und Shigans Verbrechen ist psychologisch unbegründet.»

Ich glaube vielmehr, Ekk gab sich der Filmfaszination hin. Er drehte Szenen wie die Zerstörung der Maschinen, die Revolte der Jugendlichen, die ihre Blechteller in die Luft werfen – als wäre es ein filmisches Zitat von Vigos ZÉRO DE CONDUITE –, oder den Gun-Fight zwischen dem Banditen Shigan und dem nun geläuterten Mustafa mit einem visuellen Verv, der sich ideologischer Fixierung entzieht.

Wenn Mustafa singend auf einer Tresine durch die Mondnacht fährt und sein Gesang immer stärker wird, wie mehr er sich der tödlichen Auseinandersetzung mit Shigan nähert und wenn zugleich die nächtlichen Geräusche der Natur und der metallige Klang von Shigans Sabotage an den Eisenbahnschienen dazu montiert eine reiche Skala von heiteren, darstellenden und bedrohlichen Tönen ergeben, ersteht beim ersten russischen Tonfilm eine akustische Partitur, die ein ungebrochenes vitales Verhältnis zur neuen Technik zeigt, das fernab jeglicher Theatralik sich ganz einer filmischen Wirkung anvertraut. Oder: Man fühlt sich an einen amerikanischen Wildwestfilm erinnert, wenn die schwarze Lokomotive, in eine weisse Rauchwolke gehüllt, mit dem toten Mustafa vorne aufgebahrt in die gespannt wartende Menge einfährt, deren Jubel jäh abbricht und nur der Pfiff der Lokomotive im Raum stehen bleibt.

Ekks DER WEG INS LEBEN war der vitale Beginn des russischen Tonfilms. Die Umstellung vom Stummfilm auf den Tonfilm erfolgte jedoch sehr langsam und mühsam, da sich die Industrie nicht in der Lage sah, die entsprechenden Apparate zu liefern. 1951 kamen auf 112 Spiel- und Trickfilme 10 Tonfilme. In der ganzen Sowjetunion fanden sich in dieser Zeit 66 Tonfilmkinos, obwohl das Plansoll für 1931 3000 Tonfilmeinrichtungen vorgesehen hatte. Erst 1934 wurde die Produktion von Stummfilmen eingestellt.

Guy de Maupassant: Boule de suif

Zwischen 1931 und 1934 wurden noch 300 Stummfilme produziert, darunter Meisterwerke wie Nikolai Schengelajas historisches Gemälde über die Kämpfe von Baku im Jahre 1918: SECHSUNDZWANZIG KOMISSARE, 1933, und Michail Romms Verfilmung der Maupassant Novelle "Boule de suif" unter dem Titel PYSCHKA (Fettklösschen), Romms Film ist von einer brillanten Bildgestaltung, die über Gesten, Nah- und Grossaufnahmen Handlung und Figuren genau und plastisch analysiert. Der Film war als Tonfilm konzipiert, aber der Debütant durfte seinen Film nur stumm drehen.

Und 1935 kommt die fantastischste Komödie des russischen Stummfilms ins Kino: Alexander Medwedkins Filmspass DAS GLÜCK (STSCHASTJE).
Die Geschichte des unglückseligen Chmyr
seines Pferdes – Frau Anna
seines dicken Nachbarn Foka
und auch des Popen,
der Nonne
und anderer Schreckgespenster
gewidmet dem letzten Kolchosen Faulpelz / Was ist das Glück?

Medwedkin war der Leiter eines jener Kinozüge, welche als Produktions- und Vorführstätte durchs Land fuhren, aus der unmittelbaren Begegnung mit den Menschen Filme drehten, an Ort und Stelle entwickelten und wieder vorführten – genau gleich wie man heute mit Video arbeitet –, um unmittelbar politisches Kino herzustellen. Der Film DAS GLÜCK war eine komödiantische Satire, die von einem russischen Bauern namens Chmyr erzählt, der über viele Hindernisse hinweg den Weg zur neuen sozialistischen Gesellschaftsordnung findet. Wie schwierig es jedoch die sowjetische Gesellschaft mit diesem clownesken, ideensprühenden Film bereits hatte, zeigt sich darin, dass Eisensteins begeisterte Kritik nie veröffentlicht werden durfte.

2 STSCHASTJE/DAS GLÜCK

Medwedkin war der Leiter eines jener Kinozüge, welche als Produktions- und Vorführstätte durchs Land fuhren, aus der unmittelbaren Begegnung mit den Menschen Filme drehten, an Ort und Stelle entwickelten und wieder vorführten – genau gleich wie man heute mit Video arbeitet –, um unmittelbar politisches Kino herzustellen. Der Film DAS GLÜCK war eine komödiantische Satire, die von einem russischen Bauern namens Chmyr erzählt, der über viele Hindernisse hinweg den Weg zur neuen sozialistischen Gesellschaftsordnung findet. Wie schwierig es jedoch die sowjetische Gesellschaft mit diesem clownesken, ideensprühenden Film bereits hatte, zeigt sich darin, dass Eisensteins begeisterte Kritik nie veröffentlicht werden durfte.

Auch die Weiterentwicklung des Tonfilms verlief nicht ohne ideologische Schwierigkeiten. Einerseits wird besonders in den Jahren 1933, 1934 intensiv experimentiert und über den sozialistischen Realismus diskutiert, ohne bereits feste Regeln und Dogmen aufzustellen. Formal und inhaltlich engagierte Filme entstehen wie Friedrich Ermlers von aktueller Thematik geprägter, auf einen natürlichen Dialog ausgerichteter Film DER GEGENPLAN (1932), Pudowkins Tonexperiment DER DESERTEUR (Desertir, 1933), dessen ästhetische Grundlage das Manifest von 1928 ist, und Erwin Piscators Versuch, sein politisch episches Theater auf den Film zu übertragen: DER AUFSTAND DER FISCHER (Wosstanije rybakow, 1933). Das wohl verrückteste Tonexperimente führte Kuleschow in seinem Film DER GROSSE TRÖSTER ODER ROSA TINTE nach einer Novelle von O. Henry durch (Toeplitz, S. 256). Um die marionettengleiche Übereinstimmung von Bild und Musik zu erzielen, mussten die Schauspieler auf der Basis der Musik spielen oder ihre Bewegungen gemäss eines Metronoms ausführen, sodass der Komponist anschliessend eine dem Spielrhythmus entsprechende Musik komponieren konnte.

Anderseits wird die Diskrepanz zwischen dem Publikumserfolg eines Films und der offiziellen Kritik an diesem Film immer grösser. Die Filmkritik ist ausgesprochen ideologisch ausgerichtet, strenggläubig orthodox. Sie versucht den Filmschaffenden beizubringen, was unter einem revolutionären Film zu verstehen sei. Die intellektuellen Revolutionäre kennen keinen Spass. Die Revolution ist eine todernste Sache geworden. Deshalb wird der Film nur unter dem Aspekt von Belehrung und Agitation gesehen, auch wenn er noch so langweilig und ohne Unterhaltungswert erscheint. Innerhalb der russischen Regisseuren finden sich zwei Richtungen. Die einen wollen einen parteikonformen Film, einen Agitprop-Film nach vorgeformten Schemen. Sie wollen den politischen Film und bekämpfen die filmische Unterhaltung, die gerade mit der Einführung des Tones – spektakuläre Geräusche, Musik und Gesang eine zusätzliche Attraktion erhalten würde.
Die andere Richtung will dem Film Spielraum geben, ohne dass das politische Gedankengut verraten wird. Die Filme sollten vom Publikum geliebt werden, sie sollten unterhaltsam sein, sodass man gerne ins Kino geht. Die Filme sollten auch auf das Leben jener Menschen eingehen, die ins Kino kommen, und ihre Probleme aufnehmen. Es sollten Filme mit Helden des Alltags sein ohne jene Schablonenfiguren des politischen Films, in welchem der Mensch zum politischen Slogan erstarrt.

Was in Hollywood, in den westlichen Filmländern als eine wirtschaftliche Frage, als eine Produktionsfrage erscheint, wird in der UdSSR eine ideologische Frage. Sie wurde besonders aktuell, als 1934 die ersten Musikfilme auftauchten: Igor Sawtschenkos DIE ZIEHHARMONIKA (Garmon) und Grigori Alexandrows LUSTIGE BURSCHEN.

LUSTIGE BURSCHEN

Sawtschenko propagierte bewusst ein neues Genre: die Operette.
"Was wir brauchen, ist ein fröhliches Lachen und nicht nur ein Höhnisches und Satirisches. Wir haben uns daran gewöhnt, negative Gestalten auszulachen, bringen es aber nicht fertig, den positiven Helden ein Lächeln zu schenken. Und hat der Zuschauer eine didaktische moralisierende Komödie gesehen, verlässt er das Kino gähnend."
Die musikalische Komödie des 23 Jährigen Ukrainers Igor Sawtschenko war ein leicht hingeworfener Streifen, der in einer Rekordzeit von 8 Monaten von einer Komsomol-Brigade hergestellt worden war. Im Vergleich dazu brauchten damalige Filme Jahre für die Vorbereitung und für die Produktion.

Das Thema des Films ist, eingebettet in Musik, Gesang und Tanz und gespielt von hübschen Mädchen und lustigen Burschen, die Geschichte von Timoschka, der im Dorf nicht nur der beste Arbeiter, sondern auch der beste, von den Mädchen umschwärmte  Ziehharmonikaspieler ist. Das hat zur Folge, dass er zum Präsidenten des lokalen Sowjet gewählt wird. Als ein Delegierter des Volkes, hat er nun Projekte zu studieren. Dabei verliert die Beziehung zum Volk, er vergräbt seine Harmonika im Heu, denn als Planender braucht er dieses frivole, die Jugend zu Gesang und Tanz verführende Instrument nicht mehr. Das Dorf nun, um seine Musik und Freude gebracht, wird von jungen Kulaken heimgesucht, die ihrerseits mit ihrer Ziehharmonika, mit ihrer Musik das Dorf aus dem Gleichgewicht bringen und es der Arbeit entfremden. Doch Timoschka kehrt ins Dorf zurück, gräbt seine Harmonika wieder aus und in einem grossen Versöhnungstanz unter den Klängen seiner magischen Ziehharmonika, im schwebenden Slow Motion gedreht, wird die Ruhe wieder hergestellt. Und wie in einem Film der weltweiten Kino-Traumfabrik bekommt auch Timoschka am Ende des Films – als Happy End – seine Schöne mit der Zahnlücke.

Ebenfalls 1934 kommt ein anderer Film in die Kinos von Moskau und Leningrad und wird trotz der negativen Kritiken zu einem riesigen Kinoerfolg: Gregori Alexandrows hinreissende Musikkomödie LUSTIGE BURSCHEN, die von der orthodoxen Kritik abgetan wurde "als ein Produkt der süsslichen Ideologie der Verfechter von Lachen und Unterhaltung um jeden Preis."

Wie schwierig das Lachen ideologisch geworden war, geht auch aus der Rechtfertigung des Films hervor, wie sie z. B. vom Kritiker Narinjani versucht wurde: "Eine gute Komödie soll man nicht verdammen, nur weil sie eine Groteske ist." Schliesslich musste die Filmkritik der Prawda einschreiten und im Sinne eines Ausgleichs das Amerikanische am Film verurteilen und zugleich die optimistische Propaganda von Lebensfreude und fröhlicher Musik loben.
Alexandrow war mit Eisenstein in Amerika gewesen, und was er tatsächlich wollte, war, einen musikalischen, grotesk-verrückten Unterhaltungsfilm voller Einfälle zu kreieren. Dies gelang ihm auch. Bereits der Anfang des Films ist hinreissend. Über Wiesen und Stege, durch Höfe und Dörfer folgt die Kamera in einem nicht enden wollenden Travelling dem Hirten Kostia Potechin, der, begleitet von seinen musizierenden Kumpanen, auf einer Flöte spielend, auf einer Brücke steppend, einen Gartenzaun in ein Xylophon verwandelnd daher musiziert, dass es eine Freude ist. In einer einzigen Kamerafahrt werden Landschaft, Menschen und Musik erfasst. Dann lässt er seine Kühe, Rinder, Schafe, Ziegen und Schweine – seine Schottinnen, Holländerinnen, Professoren und Sekretäre zum Appell antreten. Am palmenumflorten Strand begegnet einer attraktiven Schönen mit ihrer Mutter, die ihn, da sie den kleinen russischen Hirten für einen ausländischen Musiker halten in ihre Villa à la Monte Carlo einladen. Am Abend geht er dorthin. Seine ganze Herde zieht mit. Und wie er in der Villa auf Geheiss seiner Gastgeberin auf seiner magischen Flöte zu spielen beginnt, brechen die Kühe, Rinder, Schafe, Ziegen und Schweine  gewalttätig in die Villa ein und fallen in buñuelsche Manier über das Souper her, fressen und saufen sich voll, sodass die Kuh im Bett landet und die ohnmächtig gewordene Dame des Hauses neben der Kuh – im Bett landet und das Ferkel, champagnerbeschwipst, zwischen den Silberplatten torkelt. In der Villa bricht, von der Musik angelockt, ein animalisches Chaos aus. In dieser grotesk-exzentrischen Art gehen die Abenteuer des Helden weiter, wobei noch die Geschichte des wunderbar singenden Dienstmädchens Anjuta einbezogen wird. Statt des erwarteten Dirigenten aus Paraguay dirigiert er gleich einem amerikanischen Grotesktänzer ein Symphonieorchester, das berkeleyartig aus Harfen besteht und landet schliesslich bei einer Jazzkappelle, die sich "Eintracht" nennt, jedoch in Slapstick-Manier, als wäre Sennett zusammen mit Fields und den Marx Brothers nach Moskau verfrachtet worden, die totale Zerstörung anrichtet.
Hier wird der Film zum Dokument der Moskauer Jazz-Kapelle Utjossows, der auf Paul Whiteman und Benny Goodman aufbauend, zu Beginn der Dreissigerjahre einen russischen Jazz entwickelte. Im Film stammt die Musik – auch der Jazz – von Isaak Dunajewski, der in der Folge zu einem der bekanntesten Filmkomponisten wurde.

Das nächste Mal wende ich mich den russischen Kinohelden zu: Tschapejev, Maxim, Lenin und Stalin. Doch zuvor zeige ich Ihnen noch ein paar Bilder aus WESJOLYE REBJATA/LUSTIGE BURSCHEN (1934) von Gregori Alexandrow und dazu ein russischer Tango aus dieser Zeit.

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