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Der grosse
ökonomische Vorteil des Stummfilms war seine internationale
Auswertungsmöglichkeit. Bilder werden zwar nicht
überall gleich verstanden, da auch hinter jedem Bild eine kulturbedingte
Erfahrung steht. Dennoch ist ein Grundmuster visueller Verständigung vorhanden. Da die Sprache nur mit Zwischentiteln eingebracht wurde, mussten nur die
Zwischentitel übersetzt und neu in die Filme eingeschnitten werden. Der
Stummfilm kannte kaum Sprachgrenzen. Seine visuelle Sprache war universell. Das
war auch die Voraussetzung, dass vor dem Ersten Weltkrieg die französischen
Filme ein devisenbringender Exportartikel wurden und nach dem Ersten Weltkrieg
der amerikanische Film weltweit sich durchsetzen konnte, unabhängig von den
Sprachräumen.
Mit dem Sprechfilm wurde sofort die sprachliche Verständlichkeit und
Kommunikation aktuell.
Innerhalb weniger Monate stellten wegen des Ertrages der amerikanischen Filme
alle Kinos kritiklos auf Ton um.
Da Amerika den Tonfilm auf den Markt brachte, konnte man sich in London
zunächst die neuen Filme anschauen. Deshalb weilte auch René Clair in London.
Und bereits 1929 beginnen deutsche Regisseure wie Robison, Lupu Pick, Dupont (ATLANTIC
in englischer, französischer und in deutscher Version) in den kurzfristig entstandenen
englischen Tonstudios zu drehen.
Der Tonfilm als
Sprechfilm konnte in der bestehenden Struktur jedoch nur den amerikanischen
Markt und international gesehen den angelsächsischen Markt erschliessen. So
wurde der aus finanziellen Erwägungen heraus forcierte Tonfilm in der
internationalen Marktauswertung wieder in Frage gestellt. Vordringlichste Arbeit der Filmindustrie war somit, wie man verhindern kann,
dass der Tonfilm an den Sprachgrenzen scheitert und Kino wieder eine nationale
Angelegenheit wird.
Für diese Problematik ist bereits die Entwicklung über verschiedene
Zwischenformen bezeichnend.
Zunächst unterschied man zwischen Soundfilm
und Talkies. Soundfilme wollten
nichts anderes sein als musikuntermalte, vielleicht noch mit Geräuschen und Ambiancetönen
versehene Stummfilme. Diesen Filmen stand, falls die anderen Länder auch die
entsprechende Tonsysteme in ihre Kinos aufnehmen, einer internationalen
Auswertung nichts im Wege.
Hier lag auch die Hoffnung eines René Clair, wenn er in seinem Brief aus London
im Mai 1929 von einem Tonfilm ohne Dialog schreibt:
Aufschlussreich ist, wie Clair sich die Frage stellt, ob das Publikum wohl bereit ist, einen Tonfilm ohne Sprechfilm zu akzeptieren. Für die Hoffnung auf einen Tonfilm ohne Sprache lässt sich auch der junge Jean-Paul Sartre, damals Lehrer in Le Havre, zitieren, der ein faszinierter Kinogänger von Kindheit an war.
In einem Anflug von Melancholie verglich Pirandello den Film mit dem Pfau der Parabel. Von allen bewundert, breitete dieser Vogel sein prächtiges Gefieder aus, bis ihn der neidische Fuchs zu sinken bewog. Er öffnete den Schnabel und stieß einen gräßlichen Schrei aus. Weder Asop noch Pirandello berichten, wie die Geschichte ohne allen Zweifel weiterging: nämlich daß der Pfau nach dieser Erfahrung den Schnabel, ohne sich lange bitten zu lassen, wieder hielt. Ich glaube, auch der Film wird sein Recht auf Schweigen wieder geltend machen! (S. 106) |
Für jenes Recht auf Schweigen stehen auch die Part Talkies, die je nach Kino stumm oder mit Ton vorgeführt werden konnten. Wiederum wird deutlich, dass der Tonfilm, der filmtheoretisch als ein ästhetisches Problem und als eine Frage der Begriffsbestimmung – was ist Film – erscheint, in Wirklichkeit ein ökonomisches und industrielles Problem ist. Ob Stumm-, Ton- oder Sprechfilm, diese Frage musste auf der Produktionsebene gelöst werden. Mit dem ersten 100%-igen Sprechfilm, dem aus wenigen langen Einstellungen bestehenden LIGHTS OF NEW YORK von Bryan Fory, 1928 für Warner Brothers gedreht, kommen die “All Talkies“ oder “Full Talkies” auf.
Für Hollywood
stellt sich dabei sofort die Frage, inwiefern der Tonfilm als Sprechfilm für
den amerikanischen und für den angelsächsischen Markt Veränderungen bringt, die
sich nach den Strukturbereinigungen wieder auszahlen werden, aber dafür der
internationale Markt verloren geht und zugleich in Amerika keine nichtenglischen
Filme mehr gezeigt werden können.
Auf dem europäischen Markt ist die Situation noch gravierender. Einerseits
versuchen die internationalen Elektroindustrien unter dem Druck der
Verhältnisse mit eigenen Patenten und eigenen Entwicklungen und Produktionen
den von Amerika hervorkommenden Tonfilm aufzufangen und einen eigenen Ton- und
Klangfilm aufzubauen. Da die Sprachgrenzen noch enger gezogen sind, ist jedoch
eine Amortisierung des Films kaum mehr möglich.
Symbol des Tonfilms wird – im Gegensatz zum schönen Signet der R.K.O. – der Turmbau zu Babel.
Zuerst tauchen in Europa die amerikanischen “Talkies” – die Sensationen aus Hollywood – auf. Aber man will die Filme nicht nur sehen, sondern man will sie auch verstehen können.
Der französische Journalist Michel Gorel beschreibt im März 1930 eine vollkommen widersprüchliche Situation:
Wir sind in einer sonderbaren Situation. Einerseits dreht man keine Stummfilme mehr, anderseits wagen es die Kinobesitzer – wenigstens in Paris – nicht mehr, englisch gesprochene Filme zu zeigen. Es ist völlig logisch, dass diese Situation die schlimmsten Missbräuche, die schlimmsten Verwirrungen begünstigt. Man “sonorisiert” stumme Filme mit Hilfe von schlechten Schallplatten. Man zeigt Tonfilme stumm, (ohne Ton). Und schliesslich haben wir, weil gewisse Leute es allen recht machen wollen, eine wahre Blüte dieser “Part talkies” (teilweise gesprochenen Filmen), von denen die Amerikaner schon lange nichts mehr wissen wollen. (Leprohon S. 22) |
Da es jedoch an französischen Tonfilmen fehlte, sah man sich gezwungen, amerikanische Tonfilme vorzuführen. Gorel sieht dabei für gewisse Fälle eine annehmbare Lösung, die Filme sollten mit englischen Dialogen und französischen Untertiteln gezeigt werden, wie es z. B. in Paris für die Filme THE SINGING FOOL (1929) mit Al Jolson und SHOWBOAT von Harry Pollard (1929) mit Laura La Plata und Joseph Schildkraut der Fall gewesen war.
René Clair wiederum formuliert dies anders:
"Die Beschriftung ausländischer Filme, die den Beschauer zum Lesen zwingt,
statt dass er sieht und hört, ist ein Unding, und von der Synchronisation sagt
Jean Renoir mit Recht, ihr Erfinder wäre im Mittelalter auf den Scheiterhaufen
gekommen. Einem Körper eine fremde Stimme zu geben sei so schlimm wie Hexerei.”
Es waren wiederum die amerikanischen Gesellschaften, die an die Lösung des Problems herangingen, obwohl sie im Vergleich zu den europäischen Produzenten einen viel grösseren Absatzmarkt beliefern konnten. Denn über die Hälfte der Kinos in der Welt befand sich um 1928 in englischsprechenden Sprachgebieten (Die USA hatten circa 40'000 Kinos damals.).
Es ging darum,
die Original-Version unter Beibehaltung des Bildes sprachlich verständlich zu
machen.
Um den internationalen Markt nicht zu verlieren, zeichneten sich zwei
Möglichkeiten ab:
1. In
Hollywood selbst mit europäischen Schauspielern Filmfassungen für die Sprachen
Europas zu drehen
oder
2. in
Europa Produktionsfilialen zu gründen, die den europäischen Markt mit
sprachkonformen Filmen beliefern.
Mit Ausnahme der Paramount wählten die amerikanischen Gesellschaften die erste Möglichkeit. Das führte zu einem neuen europäischen Exodus nach Hollywood. Wer glaubte, Rang und Namen zu haben, schiffte sich nach Amerika ein, um in Hollywood für Europa Filme zu drehen. Wie schon am Ende der Stummfilmzeit konnte auf diese Weise Hollywood die europäischen Studios um die fähigsten Filmleute bringen. So sollte sich zugleich die europäische Konkurrenz weltweit ausschalten lassen.
Die “Paramount”
ging einen anderen Weg. Robert T. Kane bekam 1929 den Auftrag, die Studios von
St. Maurice, bei Paris, in eine amerikanische Filmproduktionsstätte für
europäische Tonfilmfassungen umzufunktionieren. Für 50 Millionen Dollar
entstand in wenigen Monaten bei Paris eine gigantische Produktionsstätte, die
der italienische Filmhistoriker Nino Frank (Cinema dell'arte, 1951) “Babel sur
Seine” nennt. Von allen Ländern kamen nun Regisseure, Schauspieler und
Techniker nach St. Maurice und der gleiche Film wurde im gleichen Dekor in zehn
verschiedenen Sprachen abgedreht. UN TROU DANS LE MUR von Yves Mirande brachte
es im März 1930 gar auf dreizehn verschiedene Sprachfassungen. In einem Jahr
entstanden auf diese Weise 90 Langspielfilme und 50 Kurzfilme, und alle
sprachlich in der entsprechenden nationalen Fassung mit nationalen
Schauspielern.
Nach zwei Jahren – 1931 – war Hollywoods Babel sur Seine vorbei. Die
Produktionsart war zu teuer geworden.
Auch in Hollywood
sah man 1931 von der Weiterführung nationaler Filmfassungen ab. Es musste etwas
Neues gefunden werden.
Im Übergang vom
Stumm- zum Tonfilm erwiesen sich die Schauspieler als das grösste Problem. Viele,
auch die berühmtesten Stars, waren wohl photogen, aber nicht phonogen. Für
grosse Geldsummen versuchten Broadway-Schauspieler den Film-Schauspielern
Sprache, Sprechen und Stimme beizubringen. Meistens vergeblich. Zugleich sahen
die Broadway-Schauspieler ihre grosse Chance, dank ihrer Stimme vom billigen
Theater zum teuren Film zu wechseln.
Edwin Hopkins sah eine Möglichkeit,
die teuren, berühmten und beliebten Stummfilmstars für die Produktion zu
erhalten, indem man ihnen fremde Stimmen gab. Das System nannte er “Dupping”.
Damit hatte die Nachsynchronisation eine neue Möglichkeit gefunden. Die
Schauspieler-Gewerkschaft verbot sofort diese Methode, stummen Schauspielern
fremde Stimmen zu leihen. Mit wenigen Ausnahmen sah Hollywood bald von diesem
System ab. In Europa jedoch fand das System eine unerwartete Aufnahme.
Dr. Jakob Karol, der in “Babel sur Seine”
die Herstellung deutschsprachiger Fassung geleitet hat, übernimmt die Idee der
Nachsynchronisation und funktioniert sie zu jenem System um, das heute noch die
sprachlich gültige Veränderung der Original-Version ist. Man spricht einen
übersetzten Dialog ein, der zum Lippenspiel zu passen hat. Was im Stummfilm der
Zwischentitel war, der sich sprachlich verändern liess, sollte nun die
sprachliche Nachsynchronisation sein.
Statt vom gleichen Film mehrere nationale Fassungen zu drehen, was sich als zu
teuer erwiesen hatte, gab es wieder einen
Film, der sich beliebig fremdsprachig synchronisieren liess. Und der Film wurde
wieder exportierbar.
Dass die Schweiz bis in die Fünfzigerjahre von nachsynchronisierten Fassungen verschont blieb, hängt mit dem Nationalsozialismus zusammen. Im Sinne einer geistigen Landesverteidigung wollte man in der Schweiz nicht Filme spielen, die im deutschen Reich synchronisiert wurden. Das hatte auch zur Folge, dass das Filmangebot in der Schweiz international reich blieb. Denn mit der viel billigeren Methode der Untertitelung hatten auch Filme eine Verleihchance, die aus finanziellen Überlegungen niemals nachsynchronisiert worden wären. Dem schweizerischen Fernsehen gebührt die Ehre, den Eidgenossen die nachsynchronisierten Filme schmackhaft zu machen. Der Verleih, besonders der italienischsprachige hat nachgezogen.
Wir verfolgten in
den letzten beiden Vorlesungen, wie hinter dem Durchbruch des Tonfilms in Amerika
die Verbindung der beiden Finanzgruppen Morgan und Rockefeller mit der
Elektroindustrie steht, und dass William Fox Wochenschau “Fox Movietone
News” im Mai 1927 und Warner Brothers THE JAZZ SINGER im Oktober 1927 nur die
äusseren Merkmale, die Zeichen einer veränderten Leinwand für Prozesse der
Wirtschaft- und Industriegeschichte sind.
Wir verfolgten auch, wie in Europa eine theoretische Auseinandersetzung mit dem
Tonfilm einsetzt, bevor überhaupt die entsprechenden Produktionsbedingungen
geschaffen sind. René Clairs Briefe aus London im Jahre 1929 und seine
Konfrontation mit Pagnol und dessen “Cinématurgie de Paris” legten zwei Aspekte
bloss: erstens, dass nicht die Filmschaffenden über die Form des Tonfilms
entscheiden, sondern die Filmindustrie, und zweitens, dass mit dem Sprechfilm
die “Film d’art”-Bewegung des Jahres 1907 wieder zum Zuge kommt, die glaubt,
Film sei dann als Kunst zu umschreiben, wenn Theater und Literatur sich des
Kinos annehmen würden.
1929 ist in Amerika der Tonfilm eine Tatsache, die Vereinbarung der Hollywood Giganten gegen den Tonfilm ist hinfällig geworden, und es setzt in allen Studios die Tonfilmproduktion ein. Gleichzeitig zeichnen sich bereits Veränderungen des Tonfilms ab. Der Zwang zum Direktton löst sich allmählich auf und damit werden die Voraussetzung für einen Tonfilm geschaffen, dessen Erzählstruktur visuelle und akustische Gestaltungsmittel in gleicher Weise zu umfassen vermag.
Ich möchte im Folgenden noch einige Reaktionen auf den Tonfilm aufgreifen. Denn die Reaktionen umschreiben das Klima dieser Umbruchszeit, zeigen Positionen und Handlungsweisen auf und spiegeln die Widersprüchlichkeiten.
Noch 1931 antwortete Louis Lumière, der 1895 mit seinen Vorführungen dem Film zum Durchbruch verholfen hatte, einem Pariser Korrespondenten des Neuen Wiener Journals:
Die Ton- und Sprechfilme sind etwas vollkommen Neues. Sie sind sehr interessante Erfindungen, aber ich glaube nicht, dass sie noch lange in der Mode sein werden. Zunächst einmal, die vollkommene Synchronisation von Bild und Ton ist unmöglich, und der Film soll und darf nicht ein Theater werden. |
Und dann geht Louis Lumière auf die visuelle und akustische Rezeption ein. Er glaubt nicht an die plastischen Möglichkeiten des Tons im Gegensatz zur räumlichen perspektivischen Erfahrung des Bildes.
Der Film kann
eine Landschaft mit winzigen menschlichen Gestalten in der Ferne und den Teil
eines Gesichts in sechsfacher Vergrösserung darstellen; die Stimme aber bleibt
immer normal und sie kann nicht im gleichen Masse ihre Proportionen verändern;
sie verliert ihren natürlichen Klang in einem Lautsprecher. Das Auge kann die
unwirkliche Vergrösserung (die Irrealität eines vergrösserten Körpers)
ertragen, während das Ohr eine vergleichbare Fantasie nicht erträgt. Deshalb sage ich: Der Tonfilm geht einen
normalen Weg, und gleichzeitig geht er den falschen Weg, aus dem einfachen
Grund, weil die Schwierigkeiten der Sprache ihn einschränken. Die Ansicht des Vaters des Films: Louis Lumière (Pour vous, no 114, 22/1/31) |
Alexandre Korda, der in den Dreissigerjahren dem englischen Film zu internationalem Ansehen verhalf, [sah] im Tonfilm eine Rezeptionsmöglichkeit, die den Zuschauer im Gegensatz zum Theater von der Anordnung eines Sitzplatzes und somit auch seiner sozialen Zugehörigkeit unabhängig macht.
Im Film
registriert das Auge der Kamera und das Ohr des Mikrophons die unmerklichste
Nuance, die leichteste Modulation. Und darin besteht das Wunder des doppelten
Apparates der Bildaufnahmen und der Tonaufnahmen: jeder Zuschauer, welchen
Platz er auch immer inne hat, wird das Bild genau so sehen wie das Objektiv es
gesehen hat, aus gleicher Distanz und aus dem gleichen Winkel. Alexandre Korda (Le Courrier Cinématographique, no 41, 10/10/31) |
Die Reaktionen auf den Tonfilm sind eng mit den eigenen Möglichkeiten der Betroffenen verbunden. In einem Gladys Hall von der Zeitschrift Motion Picture Magazine im Sommer 1929 gewährten Interview sagt Chaplin: «Die 'Talkies'. Die können schreiben, dass ich sie hasse. Sie verderben die älteste Kunst der Welt, die Kunst der Pantomime. Sie vernichten die grosse Schönheit der Stille.» Chaplin reduziert den Stummfilm auf die Pantomime – d. h. auf sich, als hätte es gar keine Entwicklung filmischer Gestaltung gegeben.
Er fährt weiter:
Der Sprechfilm greift die Traditionen der Pantomime an, die wir mit grosser Mühe für die Leinwand gewonnen haben, und woran man die Filmkunst messen soll. |
Chaplin sieht sich als Mass der Dinge.
Der Tonfilm vernichtet die ganze Technik, die wir uns angeeignet haben. Geschichte und Bewegung ordnen sich dem Wort unter, um eine genaue Wiedergabe des Tons zu ermöglichen, die den Vorstellungen des Zuschauers entspricht. Die Schauspieler wissen, dass das Objektiv nicht Worte sondern Gedanken aufnimmt. Gedanken und Gefühle. Die Schauspieler haben das Alphabet der Bewegung, die Poesie der Geste gelernt. Jetzt beginnt die Geste dort, wo das Wort endet. Die stärksten Gefühle sind stumm, animalisch, grotesk und von einer unaussprechlichen Schönheit. |
Das Interview ist
eine einzige Anklage, vergleichbar jener Abrechnung, als Chaplin 1947 Hollywood
verliess und erklärte, Hollywood habe nicht mehr mit Film zu tun, sondern nur
noch mit “Big Business”, dem auch Orson Welles zum Opfer gefallen sei.
Dieses Interview wirkte in Hollywood explosiv, besonders auf jene, die als
Regisseure, als Schauspieler, die jetzt vielfach vom Theater am Broadway kamen,
als Tänzer und Sänger im Tonfilm eine neue Karriere sahen.
Al Jolson, der nach THE JAZZ SINGER – auf dem Hintergrund seines unterwarteten
Erfolges – bereits 1928 für die Warner Brothers einen neuen Erfolgsfilm
abgedreht hat, THE SINGING FOOL, versuchte Chaplin zu beruhigen. Chaplin
antwortete nicht. Er blieb buchstäblich stumm. In THE LIGHTS OF THE CITY und in
THE MODERN TIMES liess er sich auf Tonversuche ein und dann sprach auch Chaplin
– im Film DER GROSSE DIKTATOR.
Es liesse sich
eine ganze Montage von Aussagen zusammenstellen: Die einen fühlen sich von den
neuen Möglichkeiten angesprochen, andere resignieren oder nehmen, wie in Europa,
das neue Medium auf und versuchen damit fertig zu werden.
René Clair erzählt von seinem Freund Alexandre Arnoux, der Chefredaktor der
Zeitung Pour vous war:
Alexandre Arnoux war es auch gewesen, der im Oktober 1928, nachdem er wie René Clair und Jean Epstein nach London gegangen war, um sich die neuen Filme anzuschauen, eine hinreissende Apotheose auf den Stummfilm schrieb, und dem gegenüber den Tonfilm als eine “barbarische Erfindung” bezeichnete, die alles zerstört.
Und nun kommt eine barbarische Erfindung und zerstört alles. Man möge mir meine Bitterkeit, meine Ungerechtigkeit verzeihen. So viel gearbeitet, so viel erhofft zu haben, um schliesslich zu einer so ausgedienten, abgenutzten Form wie das Theater zurückzukehren, sich wieder der Tyrannei des Wortes und des Geräusches zu unterwerfen, die noch durch einen mechanischen Vermittler verschärft wird! (Leprohon S. 16) |
In dieser Situation, die den Tonfilm nur noch als einen barbarischen Einbruch in eine bestehende Filmkultur erleben lässt, läuft in London ein Film an: THE BROADWAY MELODY von Harry Beaumont (1893–1966), der 1928 bereits einen noch Stummen Tanzfilm OUR DANCING DAUGHTER mit der jungen Barbara Stanwyck gedreht hat.
Im Mai 1929 schreibt René Clair von oberem Film:
London, im Mai
1929: Brodway [sic!] Melody ist in London zur Zeit Tagesgespräch. Es ist ein
neuer amerikanischer, mit allen seit drei Jahren entwickelten technischen
Schikanen arbeitender Film. Wer nur einen Schimmer von der Kompliziertheit der
Tonaufnahme hat, wird diesen Streifen meisterlich finden. […] Die Schauspieler
sind beweglich, gehen umher, laufen, sprechen/brüllen, seufzen, und das
Aufnahmegerät fängt Bewegungen und Stimmen mit einer Wendigkeit ein, daß man an
ein Blendwerk der Hölle glauben könnte, wüßte man nicht, daß die Laboratorien
und die minutiös arbeitende Industrie noch ganz anderes fertigbringen werden. Aus
diesem Streifen ist der Zufall verbannt, und seine Handwerker arbeiten mit der
Präzision von Ingenieuren. Jene, die noch immer meinen, beim Drehen eines Filmes
improvisieren zu müssen – sie nennen das die intuitive Methode –, sollten sich
ein Beispiel an ihnen nehmen. Mit Broadway Melody hat der Tonfilm zum erstenmal eine eigene Form gefunden. Das ist nicht Film und nicht Theater, sondern ein neues Genre. Der erste Tonfilm, der sich aller Möglichkeiten der Kamera bedient. Das Objektiv ist beweglich, und die Aufnahmen sind abwechslungsreich wie im guten Stummfilm. |
Auch Marcel
Carné, der in dieser Zeit NOGENT, ELDORADO DU DIMANCHE dreht, schwärmt von THE
BROADWAY MELODY. In einem am 12. Juli 1929 im Cinémagazine erschienen Artikel
unter dem Titel “La caméra, personage du drame” beschreibt er die im Stummfilm
entwickelte Beweglichkeit der
Kamera. Murnau habe über das Travelling die Kamera zu einer handelnden Person
im Drama selbst gemacht. Und Abel Gance sei in seinem NAPOLEON-Film zur tragbaren
Kamera übergegangen, sodass der Zuschauer über den subjektiven Blick der Kamera
selbst zum Schauspieler wird, - nicht mehr von aussen zuschaut, sondern selbst
über die intensive Teilnahme der Kamera an der Handlung teilnimmt.
Carné fährt fort:
Und heute, nach so vielen Anstrengungen, um einen wirklich visuellen Film zu
schaffen, kommt der gesprochene Film und zerstört all das Erreichte. Um die
Talkies zu drehen, wird die Kamera in einer resonanzfreien Kabine
gefangengehalten. Heisst das, dass wir in die heroische Frühzeit des Kinos
zurückgefallen sind? Wir können es nicht glauben. Wir lieben die Talkies zu sehr, obwohl wir in Frankreich nur sehr wenig davon wissen, weil die verwirrte Kinoindustrie zögert, eine Einrichtung, die relativ viel kostet, aufzubauen. Man muss jedoch von neuem die Kamera befreien und schnell handeln. (Quelle: Anthologie du cinéma S. 235) |
Im Bezug auf den Tonfilm schreibt Carné:
Griesgrämige Geister haben bereits gesagt, dass der gesprochene Film nie etwas
anderes als gefilmtes Theater sein
werde. Diesen gilt es, ein formelles Dementi entgegenzustellen. Deshalb darf
die Kamera nicht mehr gefangengehalten werden, sie muss ihre ausserordentliche
Beweglichkeit einer am Drama beteiligten
Person wiedererlangen. Zweifellos wird dies schwierig sein, aber da man
schon verschiedene technische Kühnheiten in THE BROADWAY MELODY findet – und
das bereits wenige Monate nach der Erfindung der Talkies – sind alle Hoffnungen
berechtigt. Die Zukunft gehört den Filmschaffenden. |
Und so versuchen
denn auch im Sinne einer Zukunft die Filmschaffenden, zunächst theoretisch,
dann auch mit eigenen Filmen einen Ton zu finden, der sich nicht gegen die
Visualität des Films wendet.
René Clair sieht sich die amerikanischen Filme in London genau an und entdeckt,
dass z. B. der Off-Ton erstaunliche Wirkungen zu erzielen vermag und bemerkt:
"Vielleicht ist diese erste sich aus dem Chaos lösende Regel eines der
technischen Axiome von morgen." (Clair S. 99)
Oder er entdeckt in Harry Pillards SHOW BOAT eine Szene, die weder im Stummfilm noch auf dem Theater möglich gewesen wäre.
[E]in Schauspieler und eine Schauspielerin stehen auf einer Schmiere und deklamieren mit feierlicher Stimme ihren Text. Leise gestehen sie sich dabei ihre Liebe und verabreden ein Rendezvous nach der Vorstellung. Das nichtsahnende Theaterpublikum ist zu Tränen gerührt, und hinter den Kulissen imitiert der Theaterdirektor Nachtigallengesang. – Aus dem Hin und Her von gespreizter Rezitation und ehrlichem Geflüster, aus dem Wechsel von Total- und Nahaufnahme holt der Regisseur eine Wirkung heraus, die weder Stummfilm noch Theater hätten erreichen können. |
Clair erkennt auch, dass Töne ausgewählt werden müssen wie Bilder. Zu Beginn des Tonfilms "bediente man sich der genauen Tonklaviatur, die das Mikrophon wiedergab. Bald merkte man jedoch, dass die simple Kopie der Wirklichkeit einen ganz unwirklichen Eindruck vermittelte und Töne ebenso sorgfältig gewählt sein wollen wie Bilder. Führt man in einer lauten Strasse eine konzentrierte Unterhaltung, achtet weder das Auge auf die Form noch das Ohr auf die Geräusche der vorüberfahrenden Wagen." (S. 95, Clair)
Dieser Selektionsvorstellung, wie sie René Clair entwickelte und die Übertragung visueller Bildmontage in den Bereich der Tonmontage ist, möchte ich Carl Dreyers Idee einer ungebrochenen akustischen Wirklichkeit gegenüberstellen. In seinem Aufsatz «Der wirkliche Tonfilm» (1933) schreibt Dreyer, von dem Sie gestern VAMPIR sahen:
1933 entwickelt
Dreyer Ideen, die Bild und Ton im neorealistischen Sinn verstehen.
"Der Film muss auf die Strasse zurückkehren – ja mehr als das: er muss hinein
in die Häuser, hinein in die Wohnungen." Und so gilt es auch die akustische
Sterilität aufzubrechen im Sinne einer unmittelbaren, nichtselektiven
Wiedergabe der ganzen Tonskala, die eine Szene umgibt. Neorealismus, Nouvelle
Vague, Cinéma direct – der Theorie nach ist diese Entwicklung hier vorgebildet.
Bezeichnend ist auch, wie Dreyer den ersten Tonfilm erlebte, der offensichtlich ein Wochenschaubeitrag gewesen war.
Den virkelige talefilm
(1933). Ich war vom Tonfilm begeistert, als ich 1928 einen Film sah und hörte, der Clemenceau in seinem Garten zeigte. Er trug seine Kappe auf dem Kopf, und in der Hand hielt er den Spazierstock, der ihm nach seinem eigenen Willen mit in den Sarg gegeben wurde. Clemenceau hatte das Mikrofon nicht bemerkt; aber die improvisierten Fragen des Kameramanns, dem daran lag, dass er ‹etwas sagte›, verwirrten ihn; der Tiger wurde böse und knurrte. Die Wirkung war grossartig. An diesem Tage erkannte ich blitzartig, wie der wirkliche Tonfilm werden müsse – und meine Meinung hat sich bis heute nicht geändert. |
Und der wirkliche Tonfilm hiess für Dreyer, dass sich der Film zurückfinden muss, zu Strasse und Gasse – zur Reportage.
Der wirkliche Tonfilm muss den Eindruck erwecken, dass ein Filmfotograf, mit Kamera und Mikrofon bewaffnet, sich genau in dem Augenblick unbemerkt in irgendeine Wohnung in der Stadt geschlichen hat, in dem sich ein Familiendrama abspielt. Er versteckt sich unter der Tarnkuppe, nimmt die wichtigsten Szenen des Dramas auf und verschwindet so geräuschlos, wie er gekommen ist. (Cinema 43) |
Dreyer fordert zur Reportage auf: der Spielfilm habe wie die unmittelbare
Entdeckung eines Dramas zu sein.
Unmittelbare Entdeckung ist auch eine Angelegenheit des Dokumentarfilms. So
führt uns Dreyers Tonfilmverständnis zu Dziga Vertovs Dokumentarfilmverständnis
hin. Vertov gehört zu jenen Filmschaffenden, die sich zunächst theoretisch,
dann aber auch praktisch in der Zeit des Übergangs mit Ton beschäftigten.
Nächsten Mittwoch können Sie sich an der ETH einen der erstaunlichsten Filme
des Übergangs vom Stumm- zum Tonfilm anschauen: Vertovs DONBASS-SYMPHONIE (oder
auch EUTHOUSIASMUS genannt.)
Wie DER MANN MIT DER KAMERA (1929) ein Film über Film, Filmbild und dessen
Montage ist, ist SINFONIJA DONBASSA ein Film über Bild und Ton.
Vertov hat keine
Probleme mit dem Tonfilm. Für ihn bedeutet der Einbruch des Tons – wobei das
russische Wort in der Übersetzung eher die Bedeutung “Laute” hat, was die
Deutschen “Klang” nennen, – für ihn bedeutet der Einbruch der “Laute”
Erweiterung des unmittelbaren Zugangs zu Wirklichkeit. Kamera-Auge und
Radio-Ohr sollten eine audiovisuelle Einheit finden, die das visuell und
akustisch Fassbare gleichwertig in die filmische Montage aufnimmt.
DONBASS-SINFONIE ist insofern auch aufschlussreich, dass Vertov bei der Verarbeitung
der Materialien von den Tonaufnahmen ausging. Die Basismontage war für ihn
zunächst eine Tonmontage, zu der er die Bilder – vielfach kontrapunktisch,
asynchron oder assoziativ – setzte. Vertov erlebte den Ton ebenso faszinierend,
wie er in DER MANN MIT DER KAMERA Visualität darstellt.
Ein paar Monate nach der Beendigung des Films schrieb Vertov einen Aufsatz: “Wir
erörtern den ersten Tonfilm von Ukrainfilm: DONBASS-SYMPHONIE (1931)
Dieser Aufsatz wirkt wie die Spiegelung der Entwicklung vom Stummfilm über den
Terror des Tons zu einem befreienden Tonfilm, wie wir es anhand des
amerikanischen Tonfilms verfolgen konnten.
So nennt Vertov zunächst all die “Hindernisse”, die “wie eine Mauer der
Herstellung dieses Filmes im Wege standen”, denn für Vertov hiess Ton nicht
Einschränkung, sondern Erweiterung, eine noch intensivere Annäherung an den
dokumentarischen Inhalt.
Zur ersten
Gruppe solcher besonderen Hindernisse muß man die kategorischen Behauptungen
von Tonspezialisten und Fachleuten aus der Filmproduktion (der einheimischen
wie der ausländischen) rechnen, daß: man Ton auf Film nur unter den speziellen Bedingungen eines abgeschirmten Ateliers aufzeichnen könnte und müßte; man auf Film nur künstlich reproduzierbare Töne aufzeichnen könnte und müßte; es unmöglich sei, dokumentarische (im besonderen Außen-) Tonaufnahmen herzustellen. Zur zweiten Gruppe besonderer Hindernisse (nennen wir sie die »Gruppe der Starrheiten«) muß man rechnen: die völlige Starrheit der (gewissermaßen in die vier Wände des Ateliers eingemauerten) Tonaufnahmeapparatur; die Starrheit der Bildkamera, die mit »kurzer Kette« an die Tonaufnahmeanlage geschmiedet war; die Starrheit des Mikrophons, das nicht einmal im Käfig des Ateliers während der Aufnahme bewegt werden durfte. (S. 122) |
Diesen
Behauptungen, dass es keine unorganisierten, zufälligen Geräusche, keine
Naturgeräusche, sondern nur die in den Tonstudios hergestellten synthetischen
Geräusche geben dürfe, und dass es eine andere technische Lösung gar nicht
geben könne, stellte Vertov seine vitale Experimentierlust entgegen, die zu
beweisen hatte, dass man Töne ebenso wie Bilder aufzeichnen könne. Er verstand
seinen Film als eine “Tat”, die die
artifiziellen Theorien und technischen Starrheiten zu überwinden hatte.
Mit dem Prototyp eines transportablen Tonaufnahmegerätes zog Vertov mit seinen
Mitarbeitern zum “Sturm auf die Klangwelt des Donbass”, sich selbst als einen “Eisbrecher
in der Kolonne der Tonfilm-Chroniken” verstehend.
Oder wie Vertov anschaulich darstellt:
Was schliesslich
bei der Montage entstand, war eine gewaltige Bild- und Tonsymphonie, die jedoch
beim Publikum und bei der Kritik durchfiel. Man hatte wenig Verständnis für die
dröhnenden Tonkaskaden, für die Montage von Asynchronitäten, von “komplizierter
Wechselwirkung von Bild und Ton” (wie Vertov selbst analysiert).
Doch Vertov sah dies anders. Für ihn war der Film ein “ernster zukunftsreicher
Versuch”:
Wenn in dem Film
»Enthusiasmus« die Industriegeräusche der Großen Allunionsesse (das
Industriegebiet des Donbass) auf den Platz kommen, in die Straßen eintreten und
mit ihrer Maschinenmusik gigantische Festtagsdemonstrationen begleiten; wenn andererseits die Klänge der Militärkapellen, die Klänge der Demonstrationen, die Wanderfahnen, die Roten Sterne, Begrüßungsrufe, die Kampflosungen, die Reden der Redner usw. sich mit den Klängen der Maschinen, mit den Klängen der miteinander wetteifernden Werkhallen durchdringen; wenn die Arbeit an der Liquidierung des Planrückstandes im Donbass vor uns wie ein kontinuierlicher »Subbotnik«, wie »Tage der Industrialisierung«, wie ein Rot-Stern-Feldzug, wie eine Rot-Banner-Kampagne vorbeizieht, dann sollen wir das nicht als einen Mangel ansehen, sondern als einen ernsthaften zukunftsreichen Versuch. |
So wenig
Verständnis dieser “ernster zukunftsreicher Versuch” bei der russischen Kritik
fand, so begeistert wurde der Film in Berlin und London aufgenommen.
Chaplin, der die “Talkies” verabscheute, schrieb an Vertov: (Toelitz II) «Dziga
Vertov ist ein Musiker. Die Professoren sollten von ihm lernen, nicht aber mit
ihm streiten.»
Im gleichen
Programm an der ETH können Sie auch Flahertys Dokumentarfilm MAN OF ARAN (1934)
sehen.
Es ist einer der Filme, den man einmal gesehen haben muss. Wir werden am Ende
des Quartals auf den Dokumentarfilm zurückkommen.
Der Film ist ein ungemein eindrückliches Dokument des harten einfachen Lebens
auf den Aran-Inseln – ein Film, den die britische Zensur nicht freigeben
wollte, weil er das Leben auf dieser Insel zeigt, wie es ist: Armut gehört nicht
ins Kino.
Nach so viel
theoretischer Auseinandersetzung wenden wir uns nun wieder filmischer
Anschauungen zu.
Das letzte Mal zeigte ich Ihnen Ausschnitte aus Clairs SOUS LES TOITS DE PARIS
(1930). Das letzte Mal zeigte ich Ihnen Ausschnitte aus Clairs SOUS LES TOITS DE PARIS
(1930). Wir stellten fest, wie Clair den Ton als eine filmische Möglichkeit versteht, am grossartigsten in der
Schlägereiszene, da eine Tonpartitur, bestehend aus Stille, Gesprächsfetzen,
Musikpartien und Geräuschen vom Bahnhof, Lokomotive, auftauchendem Auto, die
Szene ummalt, akustisch umschliesst. Nur die Schlägerei selbst bleibt unhörbar.
Das Nichtsehbare, nur Ahnbare, ist hörbar. Die Synchronität dessen, was der
Zuschauer sieht, ist für Clair übersehbar.
Wir verfolgen weiter, wie in der vier Jahre später entstandenen Komödie 14
JUILLET neben visuell und akustisch hinreissend aufgebauten Sequenzen der
Theaterdialog durchbricht.
Heute zeige ich
Ihnen Beispiele eines anderen französischen Regisseurs, der in der Umbruchzeit
seine Filme drehte.
Jean Vigo, der zwischen 1929 und 1934 vier Filme drehte – zwischen seinem 25.
und 29. Lebensjahr. 1934 starb er an einer Blutvergiftung.
1929 drehte er zusammen mit Boris Kaufmann, dem Bruder Dziga Vertovs APROPOS DE
NICE, noch ein Stummfilm, – ein sarkastischer, böser Film über Nizza, die
Stadt, die Menschen, die Gesten, den Karneval, – ein Dokumentarfilm
hintergründiger Entlarvungen.
1931 entsteht ein kleiner Auftragsfilm über einen Schwimmweltmeister TARIS,
ROIS DE L’EAU, – ein Tonfilm, der zwischen Stumm- und Tonfilm steht.
Wir könnten uns
die Fragen stellten: Was filmt Vigo? Was ist das Thema des Films? Welcher Ton
ist am intensivsten?
In seinem letzten Film L’ATLANTE werden die Unterwasser-Bilder wieder kommen.
Der Mann, der seine Frau, seine Geliebte verloren hat, sucht sie unter Wasser.
1933 entsteht der 44-minütige Film ZÉRO DE CONDUITE. Er wird von der Zensur
verboten und kann deshalb nicht in den kommerziellen Verleih kommen. Erst 1945,
nach der Befreiung – libération –
wird ZÉRO DE CONDUITE von der Zensur freigegeben, und läuft dann zusammen mit
L’ESPOIR von André Malraus: der Verfilmung von Malraus Roman über den
spanischen Bürgerkrieg.
Schauen wir uns
die Anfangssequenz an: Zwei Junge fahren im Zug von den Ferien zurück ins
Internat. Im Coupé schläft noch ein junger Mann, der sich später als der neue
revolutionäre anarchistische Lehrer erweisen wird, von dem aber die beiden
glauben, er sei tot.
Noch beobachtet die Kamera das Geschehen. Es ist wie eine Stummfilmszene.
Die Musik interpretiert das Geschehen, die Geräusche des Zuges, der
Dampflokomotive.
Die Kamera schaut einem Ideenreichtum, einer Fantasie zu, die noch im Bilde
liegt.
1934 dreht Vigo
L’ATALANTE, sein Meisterwerk.
Wir schauen uns auch hier die Anfangssequenz an. Jedes Bild, jede Einstellung
ist eine in sich geschlossene durchgestaltete Bildeinheit. Die Bilder binden
sich jedoch zu einem Fliessen, zu einer visuellen und akustischen
Selbstverständlichkeit, in der Film Verzauberung heisst.
Es ist eine ganz einfache Geschichte. Ein Brautpaar wird von der Kirche zum Boot begleitet. Der Hochzeitsanzug könnte auch ein Begräbnis sein. Das Boot fährt weg. Ein Matrose ist da, ein Junge, Katzen, welche die Frau gegen den Mann verteidigen. Der Auftakt zur Hochzeitsnacht. Die Kamera schaut zu, ungemein reich, voller Einfälle ist das Geschehen, voller Widersprüche auch. Wie die Frau im weissen Kleid über das Boot geht, als würde sie über dem Wasser schweben. Die einbrechende Dunkelheit. Und der Ton scheint kein Problem mehr zu sein. Er lebt im Bild. Ein Geschehen voller realistischer Details, welche die Wirklichkeit aufbrechen, unwirklich werden lassen.
Dies zum Abschluss der heutigen Stunde.
ZÉRO DE CONDUITE (Betragen ungenügend), Jean Vigo, Frankreich 1933, s/w – 1:1.33 (4:3) – 41 Min. – © 2004 Artificial Eye – DVD (Code 2)
L'ATALANTE, Jean Vigo, Frankreich 1934, s/w – 1:1.33 – 87 Min. – © 2011 The Criterion Collection – DVD (Code 1)