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Geschichte, Gestaltung und Formen des Dokumentarfilms

Vorlesung 7: Wertow, Ivens, DE BRUG; MISÈRE AU BORINAGE; THE SPANISH EARTH; UNE HISTOIRE DE VENT

Im Zusammenhang mit dem englischen Dokumentarfilm sprachen wir von industrieller Romantik. Auch bei Dsiga Wertow – z. B. im Film SIMFONIJA DONBASSA (DONBASS-SINFONIE) – finden sich Bilder, die heute Umweltbelastung, Zerstörung von Lebensqualität signalisieren und existenzielle Angst einflössen: Die grossen, schwarz qualmenden Industriereviere unter pathetisch drohenden, dunklen, apokalyptischen Wolken, riesige Landwirtschaftsmaschinen mit engen hohen schwarzen Kaminen wie Spinnengebilde. Doch für Wertow – und für die damalige Sowjetunion mit ihren Fünfjahresplänen – sind sie Zeichen für Arbeit, Fortschritt, Aufbau, Überwindung des Elends, Zeichen einer besseren Welt. Die industrielle Romantik ist als vorgefundene Realität Propagierung einer sozialistischen Zukunft.
Für Wertow liegt die Wahrheit in den Fakten, die sich aus den aufgenommenen Bildern des überrumpelten Lebens ergeben. Dass durch die Auswahl der Motive und der Bilder und durch Montage der Bilder Wertow die Bilder der Realität, d. h. die Fakten, nicht nur montiert, wie er behauptet, sondern eine filmische Realität inszeniert, ist für Wertow kein Problem: Denn die Aussage ist identisch mit der Wirklichkeit, der er sich verpflichtet fühlt, und die es zu propagieren gilt. Die Wirklichkeit ist der Aufbau der UdSSR. So wird Wertows Dokumentarfilmarbeit zur Agitprop-Arbeit. Seine konkrete Filmarbeit – Gewinnung und Montage ausgewählter Fakten – ist: Mit dem Instrument des Dokumentarfilms Agitation und Propaganda zu treiben. Die von Wertow eingesetzten Gestaltungsmittel sollten einzig dieser Arbeit dienlich sein. Die sich ergebende filmische Form ist jedoch das, was den Filmer Wertow bis heute so aktuell macht, das Ergebnis eines experimentellen avantgardistischen Umgangs mit dem Medium Film.

Grundlage des experimentellen Umgangs ist das "Kino-Auge", das Wertow als ein mechanisches Auge versteht. Es wirft sich frei und unabhängig auf die Welt, um über eine vitale und direkte Wahrnehmung die unbekannte Welt zu dechiffrieren, damit sie in ihrer Wirklichkeit erkannt werde. Wertow geht davon aus, dass die Kamera genauer, beweglicher, eigenständiger sieht als das menschliche Auge. Die Aufgabe der Kamera besteht nicht darin, das menschliche Auge zu kopieren, sondern die Kamera habe als eine Maschine gleichsam ein Eigenleben zu führen. Deshalb fordert er die Befreiung der Maschine Kamera:

[Zitat Wertow:] Das Grundlegende und Wichtigste ist die filmische Wahrnehmung der Welt. Der Ausgangspunkt ist die Nutzung der Kamera als Kinoglaz (Kino-Auge), das vollkommener als das menschliche Auge für die Erforschung des Chaos visueller Erscheinungen ist, die den Raum erfüllen. Unsere Augen können wir nicht besser machen, als sie sind. Die Kamera jedoch können wir unendlich vervollkommnen. Bis auf den heutigen Tag haben wir die Kamera vergewaltigt, indem wir sie zwangen, das menschliche Auge zu kopieren. Und je besser die Kopie war, desto höher wurde die Aufnahme bewertet. Von heute an werden wir die Kamera befreien und sie weitentfernt vom Kopieren arbeiten lassen.

Wir sprachen von Wertows Gläubigkeit an die Fakten. Setzen wir Wertows Gläubigkeit an die Fakten Walter Benjamin gegenüber. Er formuliert: "Wer anhand von Fakten sich entscheiden wolle, dem würden diese Fakten ihre Hand nicht bieten."
Deshalb geht Bertolt Brecht im Zusammenhang mit seinem zwiespältigen Verhältnis zu Film und Fotografie den entscheidenden Schritt weiter. Er fordert das "Künstliche", das "Gestellte". Das liesse sich bei Wertow in der Montage der Fakten ausmachen: Die Künstlichkeit der Montage bildet das Fiktionale der filmischen Gestaltung. Am Schneidetisch binden sich die Fakten zur Fiktion. In der Auseinandersetzung um die Verfilmung der "Dreigroschenoper" durch Pabst argumentiert Brecht 1931 folgendermassen:
"Die Lage wird dadurch so kompliziert, dass weniger denn je eine einfache 'Wiedergabe der Realität' etwas über die Realität aussagt. Eine Fotografie der Krupp-Werke oder AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht. Die Verdinglichung der menschlichen Beziehungen, also etwa die Fabrik, gibt die letzteren nicht mehr heraus." Und Brecht schliesst an diese Feststellung an: "Es ist also tatsächlich 'etwas aufzubauen', etwas 'Künstliches', etwas 'Gestelltes'."

Auf dem Hintergrund von Wertows Ablehnung jeglicher Inszenierung und jeglicher Fiktion und auf dem Hintergrund der eben zitierten Hinweise wende ich mich Joris Ivens zu. Denn für Joris Ivens wird die Rekonstruktion, die stets mit Inszenierungsvorgängen zu tun hat und somit fiktionaler Art ist, das Mittel, die tieferliegende Wahrheit erkennen zu lassen. Bei Joris Ivens findet sich das gleiche Anliegen wie bei Robert J. Flaherty. Doch bei Flaherty ging es um eine Romantisierung und Idealisierung des gezeigten Stoffes, während 
Joris Ivens die tiefer liegende Wahrheit mit einer politischen Zielsetzung assoziiert.
Joris Ivens
wurde 1898 als Sohn eines Fotogrosshändlers in Nijmegen, Holland, geboren. Mit 13 Jahren dreht er seinen ersten Film DE WIGWAM. Die Familie Ivens hat in einem Indianer-Western mitzuwirken. Da er die Betriebe seines Vaters übernehmen soll, studiert er an der Wirtschaftshochschule in Rotterdam und an der Technischen Hochschule in Charlottenburg (Berlin). Er wird tatsächlich Betriebsleiter einer Filiale der väterlichen Betriebe, beginnt sich aber zugleich für die Filmklub-Arbeit zu engagieren, gründet mit Freunden die holländische "Filmliga" und gleichzeitig – es ist dies 1927, Joris Ivens ist 29 Jahre alt – dreht er seine ersten Filme: Diese ersten Filme sind Bewegungsstudien (ETUDES DES MOUVEMENTS A PARIS, 1927, und DE BRUG, 1928), Stimmungsbilder (REGEN, 1929) und Filmexperimente wie IK-FILM (ICH-FILM, 1929), in dem die Kamera die Stelle des menschlichen Auges einnimmt. Im gleichen Jahr dreht Wertow DER MANN MIT DER KAMERA.

Gehen wir zunächst auf Joris Ivens’ Frühwerk, also die Filme zwischen 1928 und 1930 ein, um anschliessend die Entwicklung des Dokumentarfilmers zu verfolgen, der im Grunde alle Möglichkeiten dokumentarischer Filmarbeit sowohl filmografisch als auch biografisch erlebt hat.
An Ivens lässt sich verfolgen, was unter Dokumentarfilm verstanden werden kann. Ivens Entwicklung ist wie ein Lehrgang in Dokumentarfilm. Der politisch Engagierte, der Utopist, der ungläubige und gläubige Kommunist, der grosse Reisende und Abenteurer auch, der fast zur gleichen Zeit in Russland, China und in den Vereinigten Staaten lebte und arbeitete, der erst mit 60 Jahren in Paris ein festes Domizil aufschlug, aber stets weiter zog, in Vietnam auf der Seite des Vietcongs filmte, dieser vitale Dokumentarfilmer – der in der filmhistorischen Literatur als ein subjektivistischer, kompromissloser Filmmacher dasteht, aber in hohem Masse anpassungsfähig war, sonst hätte er in den verschiedenen Ländern gar nicht filmen und überleben können – dieser Filmmacher begann mit "cinéma pur", mit Stimmungs- und Bewegungsfilmen, mit Filmen ohne Inhalt.
1928 dreht er DE BRUG – d. h. DIE BRÜCKE. Anhand der Hebebrücke über die Maas in Rotterdam entdeckt Joris Ivens mit seiner Kamera die Möglichkeiten filmischer Aufnahmen: Er ist der Mann mit der Kamera. In seinem Aufsatz "Lehrling des Filmens" – der Titel ist bezeichnend –, erschienen März/April 1946 in "Theatre Arts" in New York, erzählt Joris Ivens, wie er mit Hilfe eines Eisenbahn-Ingenieurs die Möglichkeit bekam, diese Brücke zum Objekt filmischer Erfahrung zu machen.
Damit setzt auch unser Lehrgang ein:

Die Anziehungskraft der Brücke bestand für mich darin, dass sie ein Experimentierobjekt mit Lauten, Formen, Kontrasten, Rhythmus und Beziehungen zwischen allen diesen war. Ich wusste, dass Tausende von Variationen möglich waren, und hier war meine Gelegenheit, die Grundelemente in den Variationen herauszuarbeiten.
Was ich wollte, war, die Regeln, die Gesetze des Filmemachens zu finden. Die Musik hat ihre Regeln und ihre Grammatik der Töne – Melodie, Harmonie und Kontrapunkt. Maler wissen, was sie mit bestimmten Farben, bestimmten Werten, bestimmten Beziehungen von Flächen tun können. Aber wenn irgendjemand etwas über die Beziehungen der Bewegungen auf der Leinwand wusste, dann behielt er es für sich, und ich hatte es also selbst für mich herauszufinden.

Was Joris Ivens schildert, ist einerseits die Entdeckung der visuell-filmischen Möglichkeiten, die im Objekt selbst liegen. Anderseits hilft ihm gerade die Erfahrung der im Objekt innewohnenden filmischen Aussagekraft, in die filmische Sprache einzudringen und die Handhabung der filmischen Gestaltungsmittel kennenzulernen. Bei der Arbeit an DIE BRÜCKE lernte er auch, dass die anhaltende und schöpferische Beobachtung der einzige Weg ist, aus der reichen Realität vor der eigenen Nase alles herauszuquetschen, das Wichtige auszuwählen und zu betonen.

Und Ivens räsoniert weiter: "Die Entdeckung des Filmmachers, zu merken, dass er am Tage zuvor nicht richtig bei der Sache gewesen war, ist deprimierender als in jedem anderen Kunstmedium. Er kann sich den psychologischen Luxus des 'esprit de l'escalier' nicht leisten: Nämlich die klugen Gedanken, die einem erst auf der Treppe kommen, wenn man sich überlegt, was man nicht alles hätte sagen können und es aber nicht getan hat."
Joris Ivens macht noch eine weitere wichtige Erfahrung: Nämlich, dass es darum geht, den richtigen Standort zu finden, dass der Mann mit der Kamera nicht nur das Objekt in seiner Visualität erkennt, sondern auch vermag, es richtig filmisch-fotografisch zu erfassen. Ivens erzählt folgende Geschichte:

Aus seinem kleinen Glashaus unten auf der Brücke beobachtete der Brückenmechaniker alles, was ich machte. Nachdem ich das riesige Kabelrad oben auf der Brückenspitze gefilmt hatte und die lange Eisenleiter herunterkletterte, sagte er zu mir, was ihn die ganze Zeit bewegt hatte:
'Sie müssen die Brücke doch nicht auffressen, oder? Sie sahen wie so eine Art Tiger aus, als Sie um das Rad rumgekrochen sind. Ich musste lachen, wie Sie plötzlich mit Ihrer Kamera gerade gegen den Himmel aufgestanden sind. Haben Sie denn bekommen, was Sie wollten?'
Ich hatte bekommen, was ich wollte. Was der Mann von unten gesehen hatte, war die lange und genaue Beobachtung aller Elemente, das drehende Rad, das gleitende, ölige Kabel und den dichten Verkehr unten auf dem Kai. Als ich aufstand, hatte ich endlich den richtigen Augenblick zum Drehen gefunden. Das heisst, ich hatte das 'Hier und Jetzt' gefunden, die eigentliche Prüfung für die eigene Empfindungskraft. Mit der Handkamera friert man im entscheidenden Augenblick stockstill, dem Augenblick, in dem man die beste Stelle für seine Einstellung gefunden hat. Nicht drei Zentimeter weiter rechts oder links oder ein bisschen höher oder niedriger oder näher dran oder weiter weg, und nicht den Bruchteil einer Sekunde früher oder später.
(Zitiert nach Wildenhahn, S. 60)

Was Joris Ivens hier beschreibt, findet sich auch in einer Tagebuchnotiz bei Wertow aus dem Jahre 1944: Wertow schreibt vom Fluch des Dokumentaristen, der im Gegensatz zum Spielfilmregisseur keine Wiederholungen kennt. In der wegfliessenden Zeit genau in jenem Moment zu filmen, da die entscheidende, nicht wiederholbare Aussage respektive Handlung geschieht, und erst noch vom richtigen Standort aus mit der richtigen Sicht auf das Objekt. Es geht um den nicht wiederholbaren Moment des Filmens, wenn Wertow schreibt:

Wiederholung ist das einzig Unmögliche auf der Welt. Wenn ich nicht das auf 
Zelluloid bannen kann, was ich gerade sehe (gleichzeitig mit dem, wie ich es sehe), so wird mir das so nie wieder gelingen. Ich stelle die Diagnose und fixiere gleichzeitig. Nicht später, nicht früher, sondern nur im gegebenen Moment. Eine Sekunde später wird schon etwas anderes sein. Etwas Besseres oder etwas Schlechteres, aber etwas anderes. Es wird nicht exakt das sein, was ich brauche, sondern etwas anderes.
Im Dokumentarfilm kann auch nicht die Rede von einer vorhergehenden 'genauen' Abstimmung sein. Wenn man einen Schuss 'abstimmt', wird es immer ein Fehlschuss sein. Ich habe noch niemals bemerkt, dass sich irgend etwas wiederholt hätte. Das, was verloren ist, ist auf immer verloren.
(Zitiert nach Wildenhahn, S. 61)

Das Problem wird uns weiter beschäftigen, wenn Joris Ivens die nachgestellte Szene postuliert. Der Text von Joris Ivens ist wie eine Vorlesung in Filmarbeit. "Lehrling des Filmens" – den Film schauen wir uns nach der Vorlesung an.

Kehren wir zu Joris Ivens’ Biografie zurück: Zwischen 1928 und 1930 macht Ivens eine autodidaktische Lehrzeit durch. Er lernt das Objekt beobachten und zugleich, mit den filmischen Gestaltungsmitteln umzugehen. Seine Filme sind visuelle Übungen in filmästhetischer Erfahrung: Experimentalfilme. Die Wirklichkeit wird dazu benutzt, Film als Film darzustellen.

Im Zusammenhang mit seinem Film REGEN, der die Stadt Amsterdam an einem Regentag zum Thema hat, bemerkte ein Kritiker, Ivens habe wie ein Poet oder ein Musiker gefilmt und nicht wie ein Reporter. Von 1930 an wird Joris Ivens beruflich Dokumentarfilmer. Der "cinéma pur"- und Experimentalfilmer beginnt sich politisch zu engagieren und dreht zunächst sozialistisch-gewerkschaftlich, dann kommunistisch engagierte Dokumentar- respektive Propaganda- und Agitationsfilme.
1930 wird er von Pudowkin in die Sowjetunion eingeladen, wo er 1932 einen Dokumentarfilm über den Bau eines Hochofens in Magnitogorsk im Ural dreht: KOMSOMOLSK oder LIED DER HELDEN.
Zur gleichen Zeit entstehen in dem Niederlanden und in Belgien jene Filme von Ivens, die ihm den Namen eines politisch gefährlichen Dokumentarfilmers eintragen, dessen Filme zensuriert und verboten werden: Zunächst in den Niederlanden ZUIDERSEE und dann MISÈRE AU BORINAGE in Belgien.

Nach einem erneuten Umweg über die Sowjetunion gelangt Joris Ivens 1936 auf Einladung der "Film and Foto Liga" in die Vereinigten Staaten. In New York arbeitet er zunächst für die Rockefeller-Stiftung. Von Amerika aus wird mit Ernest Hemingway zusammen THE SPANISH EARTH (1937) vorbereitet und in Spanien inmitten des Bürgerkriegs realisiert. Ebenfalls im Auftrag der New Yorker Gruppe "Contemporary Historians", unbenannt nun in "History Today", geht Ivens 1938 nach China, wo er unter dem Titel THE FOUR HUNDRED MILLION eine Filmchronik über den Kampf Chinas gegen die japanische Aggression dreht. Die sehr kritische Beurteilung Chiang Kai-sheks wirkt für amerikanische Verhältnisse ungewohnt. In den Kriegsjahren arbeitet Ivens in den Vereinigten Staaten im Geiste des "New Deal" und im Frank-Capra-Team im Rahmen der Filmserie WHY WE FIGHT. Ivens vierstündiger Propagandafilm KNOW YOUR ENEMY: JAPAN wird jedoch von der Militärbehörde aus politischen Gründen nicht abgenommen. Der Film wurde dann umgeschnitten, und Ivens sah sich gezwungen, sich aufs schärfste von der neuen, politisch genehmen Fassung zu distanzieren.

1944 bereitet er mit Lester Cowan einen Film mit Greta Garbo vor: WOMEN OF THE SEA. Der Film wird jedoch nicht realisiert, weil Greta Garbo sich angeblich unter dem Druck schwedischer Behörden aus Angst vor einem Sieg Deutschlands zurückzog (dies 1949).
In der Folge wird Ivens Biografie noch verwirrender. Von der niederländisch-indischen Regierung wird Ivens zum Filmkommissar für das damalige niederländische Ostindien ernannt. Er nimmt diese Ernennung unter der Bedingung an, dass die niederländischen Kolonien – also Indonesien – unabhängig werden. Er übersiedelt zunächst nach Australien, um seine Arbeit in Niederländisch-Ostindien vorzubereiten. Da aber die Niederlande in keiner Weise bereit sind, die indonesische Unabhängigkeit trotz den Versprechungen einzuleiten, tritt Ivens als Filmkommissar zurück und dreht in Australien 1946 INDONESIA CALLING – einen Film über den Boykott der niederländischen Schiffe in den australischen Häfen.

Von 1947 an arbeitet Joris Ivens in erster Linie in den Oststaaten, in Polen, der Tschechoslowakei, der Sowjetunion und dann in der DDR, kehrt 1957 wieder nach Paris zurück, wo er poetische Filmimpressionen wie LA SEINE A RENCONTRÉ PARIS (1957) und später POUR LE MISTRAL (1965) dreht.
Doch es hält ihn nie lange in Paris: 1958 arbeitet er bereits wieder in China, um in einer Zwischenphase 1960 für das italienische Fernsehen einen kritischen Film über den Einfluss der Erdgasenergie auf das Leben der Bauernbevölkerung im verarmten Süden zu realisieren. Der Film war von jenem Grossindustriellen, Gründer und Direktor der ENI – Enrico Mattei – in Auftrag gegeben worden, der einen seltsamen Flugzeugunfall erlitt. (Sie kennen vielleicht Francesco Rosis Film IL CASO MATTEI, 1972.)
Von 1960 an dreht Ivens zunächst in Mali (1960), arbeitet fast zwei Jahre auf Kuba (1960/61), zieht 1962 nach Chile, wo er Filmtheorie an der Universität von Santiago de Chile lehrt und dort gleich drei Filme in der Zeit von 1963 bis 1965 realisiert. Dazwischen taucht der verlorene Sohn 1964 wieder in den Niederlanden auf. Damit ist der Anfang einer mühsamen Rehabilitierung eingeleitet.
Von 1965 an wendet sich Joris Ivens Indochina zu, wo er in Vietnam und in Laos mehrere Film dreht, bis er dann schliesslich für sechs Jahre, im Alter zwischen 73 und 79 Jahren, nach China zieht, um dort mit Marceline Loridan zusammen den 12-stündigen Dokumentarfilm COMMENT YUKONG DÉPLACA LES MONTAGNES zu realisieren, der 1976 in die Kinos kommt.

Wertow verbat sich jegliche Fiktion und Inszenierung. Seine Montage der Fakten
 erweist sich jedoch schliesslich als filmische Inszenierung, die eine Fiktion der von ihm gewünschten Realität erstehen lässt. Wertow sagt: Ich sehe. Und Ivens sagt: Ich bekenne mich. Die Auswirkungen sind wiederum in der Montagestruktur ersichtlich. Ivens verbindet im Gegensatz zu Wertow Aufnahmen mit der Inszenierung von Fakten, um die angestrebte Aussage umso deutlicher und klarer erscheinen zu lassen. Bezeichnendes Beispiel für diese Montagestruktur ist sein Dokumentarfilm MISÈRE AU BORINAGE, den er zusammen mit dem belgischen Filmmacher Henri Storck 1933 im belgischen Bergkohlengebiet Borinage realisierte. Die Ausschnitte, die Sie im Folgenden sehen werden, stammen aus einer von Henri Storck 1960 mit einem Kommentar versehenen Fassung. Bezeichnend für diese Form von Dokumentarfilmen, die für die propagandistische Auswertung vorgesehen waren, ist, dass stets mehrere Fassungen existieren, die nicht nur filmisch, sondern auch politisch-ideologisch recht verschieden sein können.

Die Verbindung von authentischen Aufnahmen und Rekonstruktion respektive Inszenierung als eine dokumentarische Technik zur Darstellung bestimmter politischer Situationen lässt sich besonders anhand von MISÈRE AU BORINAGE nachvollziehen. Am Anfang des Films finden sich Wochenschausequenzen aus RKO-Pathé-Filmjournalen, die in den Kinos zu sehen waren: Die Konfrontation zwischen streikenden Metallarbeitern und der Polizei in der US-amerikanischen Stadt Ambridge. Diese Wochenschauen waren für die links engagierte amerikanische Gruppe "Film and Foto Liga" der Beweis für ihre These, "dass der Film am stärksten überzeugt, wenn er das Studio mit allen seinen Kunstgriffen verlässt und sich nur damit beschäftigt, nicht-inszenierte Ereignisse festzuhalten."
Nach der Einleitung mit Wochenschau-Aufnahmen schneidet Joris Ivens auf den Bergbau in Belgien Borinage. Ohne jegliche industrielle Romantik – man vergleiche die Bilder z. B. mit Cavalcantis COAL FACE im Rahmen des britischen Dokumentarfilms – wird Einstellung um Einstellung gesetzt, wobei jedes Bild eine Information abzugeben hat.
Eingebaut in die dokumentarische Bestandesaufnahme entwickelt sich eine knappe Inszenierungssequenz, die dem privaten Bereich angehört: Ein 15-jähriger Bergarbeiter kehrt zu seiner Mutter heim, um den kläglichen Lohn abzuliefern. Und diese Szene ist wiederum in eine dokumentarisch erfasste Umwelt gestellt. Das Private als der Kern. Aus ihm wächst der Wille zur politischen Aktion. Der Film dokumentiert wieder fiktionslos das Geschehen. Nur die Hand des Polizisten, die die Haustüre schliesst, gehört einem verkleideten Arbeiter an.

1 MISÈRE AU BORINAGE I

Reine Inszenierung, die sich aus Dokumentaraufnahmen folgerichtig herausentwickelt, ist die folgende Sequenz. Da die Arbeiter das Zimmer besetzen, muss ein Pfändungsbeamter unverrichteter Dinge wieder abziehen. Selbst die beiden Polizisten werden von Arbeitern gespielt. Um Hoffnung und das Beispiel von Solidarität zu schaffen, wird der Dokumentarfilm zur Fiktion. Besonders reizvoll ist das Spiel mit der Mütze. Die Mütze kennzeichnet den Arbeiter und der Hut signalisiert den Pfändungsbeamten. Am Ende der Sequenz endet die Mütze beim verkleideten Polizisten, dem sie wohl auch gehörte. Ivens macht übrigens gleich zu Beginn der Sequenz den fiktionalen Charakter der Szene deutlich. Ein Arbeiter legt sich den Hut auf. Damit wird er zum Beamten. Die rekonstruierte Szene geht anschliessend widerstandslos in Dokumentaraufnahmen über.

2 MISÈRE AU BORINAGE II

Ein weiteres Beispiel aus MISÈRE AU BORINAGE: Bei den Demonstrationen in "Wasmes" war des Öftern ein von einem Arbeiter gemaltes Porträt von Karl Marx wie eine Ikone mitgetragen worden. Einen solchen Demonstrationszug wollte Joris Ivens rekonstruieren respektive nachinszenieren. Ivens beschreibt selbst die Mischung von filmischer und politischer Arbeit: "Dieses Marx-Porträt erschien uns als eines der kleinen Protestzeichen, die unter den Bergleuten lebendig waren und die es im Film zu zeigen galt" (frei übersetzt; vgl. Wildenhahn, S. 74 f.)

... Ich fragte, ob wir nicht eine irreguläre Demonstration am nächsten Morgen arrangieren könnten, eine, in der das Portrait nur aus dem Haus gebracht und mit ihm ein kurzer Marsch veranstaltet wird.
'Dann lasst es uns vor acht Uhr früh machen, weil die Polizei ungefähr um neun kommt.'
Am nächsten Morgen warteten wir wie ein Paar Wochenschaukameraleute vor der Tür des Hauses. Das Portrait wurde herausgebracht und wie ein religiöses Objekt von zwei Bergleuten den Hügel hochgetragen, vorbei an den kleinen, verstreuten, geschwärzten Häusern. Wir reihten uns mit unserer Kamera ein. Die Menschen kamen aus ihren Häusern und hoben die Faust. Kleine Kinder und alte Frauen standen am Strassenrand mit geballten, erhobenen Fäusten. Es war sehr feierlich und die Leute vergassen, dass die Sache für den Film arrangiert war. Spontan versammelte sich die ganze Gemeinde, und die gestellte Szene entwickelte sich zu einer richtigen Demonstration. Plötzlich erschien eine Gruppe von Polizisten und radelte auf uns zu. Die Arbeiter zeigten sofort ihre Solidarität mit Storck und mir. Ein Mann griff sich meine Kamera und sie wurde schnell wie ein Löscheimer nach hinten in Sicherheit gebracht. Die Bergleute wussten, dass, wenn man mich mit der Kamera erwischte, ich verhaftet und aus Belgien ausgewiesen würde. Wir wurden alle von der Polizei verprügelt, aber in etwa einer Stunde war die ganze Sache ausgestanden.

Die Nachinszenierung erhielt durch das Eingreifen der Polizei erneut Authentizitätscharakter. Zugleich bildet die Sequenz das Ende des Films. Dabei kippt der Dokumentarfilm aus dem informativen Bereich ins Manifestartige um. Der Film selbst war 1933 als Stummfilm entstanden. Durch die Kommentarfassung aus dem Jahre 1960 wird der Film – fast 30 Jahre später – viel plakativer und politisch propagandistischer. Für die Sowjetunion war eine Musikfassung hergestellt worden.

3 MISÈRE AU BORINAGE III

Zur Thematik der Nachinszenierung der wiederholten, gestellten Szene zitiere ich Joris Ivens. Er schreibt in dem Aufsatz "Lehrling des Filmens" über die Notwendigkeit der Nachinszenierung und wendet sich dabei gegen die "Puristen" des Dokumentarfilms:

Die Szene, die eigens für den Film wiederholt worden war, entwickelte sich zu einer Szene wirklichen Lebens, einer echten Demonstration – eine Auswirkung der gespannten politischen Situation in dem Borinage.
Über ähnliche Beispiele – wie 'wiederholte' Szenen wieder zu echten Szenen
 werden – können gewiss manche Regisseure von Dokumentarfilmen berichten.
Wenn derartige Szenen nicht willkürlich erfunden werden, sondern wirklich aus der Realität erwachsen, wird das Leben selbst sich ihrer bemächtigen und sie mit neuem Inhalt und frischem Gefühl erfüllen. Darin liegt dann der Beweis, daß die Wahl der Wiederholungsszene richtig, dass sie realistisch war.
Warum die Gegnerschaft gegen 'gestellte' und wiederholte – oder besser wiederholende – Aufnahmen im Dokumentarfilm? Man glaubt, der Film verliere dadurch an Wahrheitsgehalt, das Vertrauen der Zuschauer in die Echtheit des Films werde dadurch untergraben. Man klammert sich an engherzige Klassifizierungen und Begriffsbestimmungen in der Filmkunst und meint, es sei ausschliesslich dem Spielfilm vorbehalten, Menschen vor der Kamera agieren zu lassen. Die Gegner der 'gestellten' Szenen im Dokumentarfilm sollten sich einmal überlegen, wohin es führen würde, wenn man tatsächlich alles nur so filmt, wie es geschieht. Die Kamera verhindert, dass sich die Menschen ungezwungen benehmen. Die Tatsache, dass sie gefilmt werden, beeinflusst sie und macht sie unnatürlich. Alte Leute benehmen sich wie Kinder und Kinder wie alte Leute.
Verfährt man wirklich nach dem Rezept der 'Puristen' des Dokumentarfilms, so werden unsere Filme nur Menschen zeigen, die beständig in die Kamera starren, denn das ist es, was 'wirklich' geschieht, wenn man Laien fotografiert, und das wäre also dann nach Meinung unserer Opponenten die 'Wahrheit'. Die 'gestellte' Szene beginnt ja bereits, wenn der Regisseur in das 'natürliche' Verhalten der Leute eingreift: 'Bitte nicht in die Kamera sehen!' [Dieses Thema werden wir wieder aufgreifen.]
Aber in den meisten Dokumentarfilmen beschränkt sich der Regisseur bekanntlich nicht nur auf solche elementare Eingriffe, sondern lässt Handlungsabläufe wiederholen, schafft neue Umstände und Situationen, verlangt die nochmalige Darstellung einer Episode besonders in solchen Filmen, in denen das Mittel der Personifizierung von Entwicklungstendenzen oder gesellschaftlichen Kräften zur Anwendung kommt.

Was wir an MISÈRE AU BORINAGE herausgearbeitet haben, wie die Rekonstruktion von Ereignissen, wie die Inszenierungen in die dokumentierte Umwelt aufgeht, lässt sich bei Ivens auch in der Montage-Arbeit nachweisen. Joris Ivens sah sich immer auch als einen Lehrer, der überall in der Welt, wo er arbeitete, auch versuchte, seine Kenntnisse weiterzuvermitteln. So hielt er Vorträge und Vorlesungen an Universitäten (Südkalifornien, New York), in Australien, an Seminarien, Tagungen (Leipzig, Lyon, Moskau). Und er scheute sich nicht, Auskunft über die Machart seiner Filme zu geben. Z. B. wie er am Schneidetisch mit verschiedenen, an sich unabhängigen Aufnahmen die Fiktion einer Authentizität aufbaut.

Wir schauen uns eine sehr eindrückliche Szene aus THE SPANISH EARTH von 1937, dem Dokumentarfilm über den spanischen Bürgerkrieg, an. Ivens realisierte diesen Film zusammen mit Ernest Hemingway. Die Zielsetzung war, über den Krieg zu informieren und zugleich mit dem Film Geld für die internationale Brigade in Amerika zu sammeln. Nach dem Ausschnitt hören wir uns an, was Ivens über den Film sagt und was er uns zu der eingespielten Szene erzählt. Die Ausschnitte stammen aus einer Sendung des ZDF über "Montage im dokumentarischen Film".
Die Aufnahmen der Frauen, die im Film nach dem Bombardement aus den Häusern eilen, drehte er vor dem Bombardement. Die abstürzenden Flugzeuge nahm er an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit auf, usw. Auf der Leinwand jedoch entsteht die filmische Realität einer Authentizität, die es in dieser Form nicht gab – und dennoch eine Aussage abgibt, die einer möglichen Authentizität entspricht.

4 THE SPANISH EARTH

Besonders eindrücklich ist die Tonmontage: Die Rufe, die Lautlosigkeit, die Stille und wie aus ihr die Klagemusik erwächst. Ivens spricht denn auch im folgenden von einer Gefühlsmontage: Durch die Verbindung von Geräusch, Bild, Musik und dem Kommentar Hemingways entsteht eine Gefühlsmontage. Sie hat für Ivens die Bedeutung, zwischen dem Bewussten und Unterbewussten eine Beziehung herzustellen, die sich im Emotionalen abzuspielen habe. So zeigt er Kinder, die ein Gewehr putzen und dann stürzt das feindliche Flugzeug ab. Diese Kinder sind für Ivens die Zukunft. Sie werden den Kampf weiter führen. Schauen wir uns die Szene noch einmal an.

Dann den Kommentar Joris Ivens und anschliessend Helen von Dongen. Helen van Dongen war die Mitarbeiterin und Lebensgefährtin. Sie spricht über die Rolle des Zuschauers im Dokumentarfilm: Er habe ein Beobachtender zu sein.

5 MONTAGE IM DOKUMENTARISCHEN FILM

Joris Ivens war an allen Konfliktplätzen der modernen Geschichte anwesend. Er bezog stets Stellung, engagierte sich im Kampf gegen Faschismus und Imperialismus. So irrte er sich auch immer wieder. Seinen letzten Film drehte er in China – in einem China, das nach einer kurzen Zeit neuer Hoffnungen wieder in die Stagnation der Diktatur verfiel. Noch protestierte er, bevor er starb. Inszenierung kann sich aber auch in der Bildgestaltung, in der Fotografie, in der Tonpartitur ausweisen und zwar als Bestandteil ideologischer Vermittlung. Nach der Vorlesung schauen wir uns LE 17ÈME PARALLÈLE an.

Den Film drehte Ivens 1967 in Vietnam auf der Seite der vietnamesischen Befreiungsfront: Ein Dokumentarfilm über die Situation an der Demarkationslinie des 17. Breitengrades. Wenn Joris Ivens über Weichzeichner – der Hintergrund erscheint heller als die gefilmten Personen, die als grau getönte Schemen in der Umgebung verfliessen, sich fast auflösen – Wärme, Idylle, Intimität schafft, ist dies nicht Abbild der Situation, die Ivens filmt, sondern Bestandteil einer filmischen Ideologie, die einerseits die Wirklichkeit verklärt, anderseits aber auch das gefilmte Material für filmische Lyrik gebraucht. Im politischen Film wirkt DE BRUG und REGEN nach. Das heisst – für mich ist es kein Zufall –, dass bei Ivens der Scheinwerfer die Wand beleuchtet und nicht den Menschen, wenn die Frauen im Intimbereich eines Schattens miteinander sprechen, wenn die Umgebung mit der Helligkeit des Tages leuchtet. So entsteht ein poetischer Raum, der eine verklärende Aura schafft. Auch die Licht- und Nebelbilder der Kampfszenen erscheinen nicht umsonst wie pointillistische Impressionen. Desgleichen ist der künstlich dazumontierte Ton der vorbeiheulenden Flugzeuge und der nahen und fernen Detonationen wie eine konkrete Musik gesetzt, eine Tonmontage, die in ihrer Abstufung von guten und bösen, harten und weichen Bombeneinschlägen, von fernen und nahen Flugzeugen, nicht mehr dokumentarischen Wert besitzt, sondern Selbstzweck wird, wobei aber diese Tonpartitur nicht der akustischen Schönheit entbehrt.

Am Ende seines Lebens zog Joris Ivens noch einmal in sein geliebtes China, dorthin, wo er 1933 den chinesisch-japanischen Krieg gefilmt hatte, dorthin, wo er im Alter von 73 bis 79 Jahren seinen 12-stündigen Film über das aktuelle China realisiert hatte: WIE YU-KONG BERGE VERSETZT. Er brach auf, um das Unmögliche zu filmen. Der Dokumentarfilmer sucht für seine Kamera das Nichtfilmbare: Er will den Wind filmen. Das Unmögliche filmen wird für Joris Ivens zum Film über sich selbst. Ein Text eröffnet den Film:
"Der alte Mann, der Held dieser Geschichte, wurde in einem Land geboren, in dem die Menschen stets bemüht waren, Meer und Wind zu zähmen. Er durchschritt das 20. Jahrhundert mit einer Kamera in der Hand inmitten der Stürme unserer Zeitgeschichte. Am Abend seines Lebens, mit 90, reist der alte Cineast nach China mit einem aberwitzigen Projekt: Das unsichtbare Bild des Windes einzufangen."

Am Anfang des Films steht das Urerlebnis des Kindes: Die Flügel der Windmühlen schlagen die Luft, von der Energie des Windes angetrieben. Mit ihren Luftschlägen geben sie den Wind an den Wind zurück. Es ist Ivens Grundmotiv: Der Asthmatiker Ivens wagte zeitlebens nicht zu atmen – d. h. die Luft wieder auszustossen. Die Windmühlen: Eine plastische, bildhaft und akustisch meisterhaft positionierte Einstellung – die schräge Aufsicht von unten, der Schlag des Tones, der in den Bildausschnitt knallt. Urbild eines dokumentierten Erlebnisses.
Dann setzt die Inszenierung ein. Der Knabe fliegt wie im Traum nach China. Ein Spielfilm? Nein, genau das ist es für Ivens nicht. Es ist die Rekonstruktion eines Lebenstraums, die klar und deutlich die Wahrheit zu zeigen hat. Ivens' Traum, als Kind nach China zu fliegen. Was er dann auch tat, mehrmals, um den japanisch-chinesischen Krieg zu filmen, den chinesischen Alltag, und es am Ende seines Lebens noch einmal tat, um den Wind zu suchen, das Unmögliche dokumentarisch mit der Kamera zu zähmen.

Wir verfolgten anhand von MISÈRE AU BORINAGE die Verbindung von filmisch genau beobachtetem Dokumentarismus und Rekonstruktion. In einer Geschichte über den Wind demonstriert uns Joris Ivens noch einmal seine Vorstellung vom Dokumentarfilm. Wie schon in DE BRUG am Anfang seiner filmischen Arbeit vermittelt Joris Ivens am Ende seiner Arbeit wiederum einen visuell-akustischen Lehrgang in Dokumentarfilm. Sein Thema: Den Wind suchen, als Dokumentarfilm das Unmögliche finden, an die Grenze des Mediums stossen, ist zugleich ein Dokumentarfilm über das Leben – an die Grenze des Lebens stossen.
Verfolgen wir eine längere Passage.

Mit dem Mikrofon in der Hand versucht Ivens in einer chinesischen Landschaft, wie wir sie von Aquarellen kennen, den Wind zu erlauschen. Das Aufnahmegerät gibt Töne an. Es sind die Stimmen und Sprachen seiner Filme. Ivens hört – und wir mit ihm – Filme und die Länder, in denen er mit seiner Kamera und seinem Mikrofon war. Vollkommen selbstverständlich erwächst aus den Sprachen und Stimmen seiner Filme das visuelle Selbstzitat.
1938 in China: Krieg zwischen China und Japan. Im Film findet er sein eigenes Leben dokumentiert wieder – Wind ist Leben, sagen die folgenden Bilder: Der Flug hebt sich ab von der Erde. Wie in einem Kulturfilm fährt die Kamera über die bergige Wüstenlandschaft der chinesischen Mauer. Die 7000 Krieger des Kaisers Qin Shi Huang gilt es zu filmen.
Ein Dokumentarfilm setzt ein, der im Schnittmuster, in der Raffung der Zeit und in der Erzählstruktur der gängigen Vorstellung eines Dokumentarfilms entspricht, wie er unter Beizug einer Reporter-Kamera und des direkten Tones entwickelt worden war: "Direct Cinema" heisst der Arbeitsvorgang. Joris Ivens verhandelt mit dem Museumsdirekter über die Drehmodalitäten, die Arbeitsbedingungen für einen Dokumentarfilmer.
Asthmatisch verfolgt, ohne Atem, ohne den inneren Wind kämpft Joris Ivens für Gestaltungsfreiheit, postuliert die Verantwortung des Filmers und scheitert an der Sturheit des Bürokraten und Funktionärs.

Hier setzt Ivens' Vorstellung ein, wonach die Inszenierung die tiefere Wahrheit verleiht. Da er die Krieger im Museum nicht filmen kann, kauft er auf dem Souvenir- und Antiquitätenmarkt die Rekonstruktionen der Krieger. Und mit den falschen, nachgeahmten Statuen täuscht er die Armee der 7000 Krieger vor, draussen in der Landschaft. Und da sich kein Generalkopf findet, setzt sich Joris Ivens selbst in den Statuenwald.
Der Museumsdirektor verhindert die dokumentarische Arbeit. Also greift Joris Ivens zur Inszenierung einer falschen Armee. Indem er die Krieger jedoch marschieren lässt, sie zum Leben erweckt, was im toten Museum nicht möglich gewesen wäre, wird die Inszenierung als solche erkannt. Ein Wind kommt auf. Wieder fliesst der Film wie ein Kulturfilm über die chinesische Mauer dahin. Die Kamera fährt im Flug der chinesischen Mauer entlang, verliert sich in die Wolkengebilde als Spiegelungen des Windes. Doch Ivens will noch weiter, gleichsam an den Wind heran, ihn mit der Kamera fassen, ihn mit der Kamera zähmen. Denn das Unmögliche filmen ist das Beste im Leben.

6 UNE HISTOIRE DE VENT

25 Jahre arbeiteten Joris Ivens und Marceline Loridan zusammen. In einem Interview nach seinem Tode sagt sie: Er habe die Visualität eingebracht und sie die Nähe der Menschen. Er sei aus einer Zeit gekommen, da jedes Bild das erste Bild war, jeder Schwenk der erste Schwenk. Er sei aus einer Zeit gekommen, da der Film erfunden wurde, und sie, dreissig Jahre jünger als er, sei ein Kind der Sechzigerjahre gewesen, gezeichnet durch die Auschwitz-Nummer, habe in Rouchs und Morins "cinéma verité"-Film CHRONIQUE D'UN ETE Menschen auf der Strasse interviewt, ob sie glücklich seien. Sie sei mit dem "cinéma vérité", mit dem Direktton zum Film gestossen. Zusammen hätten sie die Synthese geschaffen.

Daraus erwächst die Frage, wieso Joris Ivens sich am Ende seines Lebens vor die Kamera stellt. Marceline Loridans Antwort lässt UNE HISTOIRE DE VENT zu einem Dokumentarfilm im existenziellen Sinn werden. Ein Dokumentarfilm über das Thema, das Unmögliche zu filmen, es mit der Kamera zu zähmen, wird zum Film über das Leben und über die Liebe, die sich im Leben vollzog. Die Geliebte filmt den Geliebten. Das ist die Geschichte über den Wind.

7 [INTERVIEW MARCELINE LORIDAN]

Filmografie

LE 17ÈME PARALLÈLE (Vietnam/F 1967) R, B: Joris Ivens, Marceline Loridan, P: Capi-Film, Argos-Film K: 20 verschiedene Kameraleute.

THE FOUR HUNDRED MILLION (USA 1938) R/B: Joris Ivens, P: History Today Inc. New York, K: John Ferno, Joris Ivens, S: Helen van Dongen, M: Hanns Eisler, Kommentar: Dudley Nichels, gesprochen von Fredric March.

MISÈRE AU BORINAGE (B 1933) R, B, S: Joris Ivens, Henri Storck, P: EPI-Club de l'Ecran, K: Joris Ivens, Henri Storck, François Rentz.

THE SPANISH EARTH (USA 1937) R, B: Joris Ivens, P: Contemporary Historians Inc. New York, K: John Ferno, Robert Capa, S: Helen van Dongen, Kommentar: Ernest Hemingway (auch von ihm gesprochen), M: Marc Blitzstein, Virgil Thompson.

UNE HISTOIRE DE VENT (F 1988) R, B: Joris Ivens, Marceline Loridan, P: Capi-Film, La Sept, K: Thierry Arbogast, Jacques Loiseleux, S: Geneviève Louveau, M: Michel Portal, D: Joris Ivens, Han Zenxiang, Liu Zhuang, Wang Hong.

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