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Seminar für Filmwissenschaft

Ästhetik und Gestaltung

Vorlesung 9: Carl Theodor Dreyers LA PASSION DE JEANNE D'ARC

Wir wandten uns das letzte Mal Sinne einer Konzentration auf die Leinwand und ihrer Ausstrahlung der Nah- und Grossaufnahme zu. Filmausschnitte zeigen Macharten und Wirkungsweisen auf, doch Filmausschnitte unterliegen auch der Gefahr, dass sie aus dem Zusammenhang gerissen, aus der gesamterzählerischen Struktur entlassen, zum gestalterischen Kuriosum werden. Es entsteht ein Modell, das apodiktisch und didaktisch zur Formel erstarrt. Deshalb soll die heutige Vorlesung als Einleitung zu einem in sich geschlossenen Film gedacht sein und der Film selbst gleichsam eine Vorlesung bilden.

La Passion de Jeanne d’Arc von Carl Theodor Dreyer vereinigt in sich, womit wir uns in den letzten Wochen jeweils am Mittwoch beschäftigt haben: Schwenk, Travelling und eine Cadrage, die auf Nah, Gross- und Detail-Aufnahmen aufgebaut ist, bilden in Dreyers Stummfilm das formale Gerüst, sind Ausdruck einer Filmästhetik, die in bewusster Gestaltung Bedeutung schaffen will.

Was jedoch in Dreyers Film die Demonstration formaler Radikalität vergessen lässt, ist die visuelle Emotionalität, welche Schwenk, Kamerafahrt und eine auf unmittelbare Nähe ausgerichtete Cadrage zur Aussage verdichtet. Die Form findet ihre Übereinstimmung in der visuellen Vermittlung der Bedeutung.

Ich gehe zunächst im Sinne einer historischen Einordnung auf Carl Theodor Dreyer ein und werde anschliessend den Film in unsere Auseinandersetzung über Ästhetik und Gestaltung einzubauen versuchen.

Dreyer lebte von 1889-1968. In der Zeit zwischen seinem ersten Film – Präsidenten – 1918 und seinem letzten Film Gertrud – 1964 –, während diesen 46 Jahren realisierte Dreyer 14 Spielfilme. Seinen ersten drehte er noch in Dänemark, dann arbeitete er mehrmals in Berlin, abwechslungsweise Dänemark, in Norwegen, Schweden. La Passion de Jeanne d’Arc entstand 1927 in Frankreich. Dreyer konzipierte den Film als reinen Stummfilm und lehnte kategorisch die nachgelieferte sonorisierte Fassung ab.

Ihm geht es darum – so formuliert er – genau jenen Stil zu finden, der für einen einzigen Film seine Gültigkeit hat – gültig ist für dieses Milieu, für diese Handlung, für diese Personen, für diesen Stoff.

Für Jeanne d’Arc – einem Stoff, der im Laufe der Filmgeschichte immer wieder von neuem verfilmt wurde – geht Dreyer von den Prozessprotokollen aus. Dabei konzentriert er die 29 Verhöre auf einen Tag, der schliesslich mit [dem] Tode Jeanne d’Arcs auf dem Scheiterhaufen endet.

Diese Prozessprotokolle bilden für Dreyer die Grundlage zur intensiven Handhabung der Grossaufnahme. Ich zitiere: „Ich ging vom Prozess aus, seinen Stimmen, seiner Verhandlungstechnik, den vor Gericht gehandhabten Formen. Sie galt es in den Film umzusetzen. Jede Frage, jede Antwort verlangten die Grossaufnahme. Das war die einzige Möglichkeit.“

So entsteht in Dreyers Jeanne d’Arc eine dialogische Struktur, in der man über die Regungen der Gesichter, der Gesten, der durch die Grossaufnahme vergrösserten Ausrucksformen die Sprache des Prozesses verstehen glaubt.

Auch in den späten Stummfilmen Stroheims können wir diese dialogische Struktur vorfinden: Eine in Bilder und Ausdrucksweisen eingelassene Sprache, als wäre es Zeit, dass der Ton die Sprache in den Film einbringt. Was jedoch bei Stroheim eher Genre-Malerei, Schilderung von Zuständen und Situationen ist, erscheint bei Dreyer als eine auf Konfrontation ausgerichtete Auseinandersetzung. Was später in den amerikanischen Prozessfilmen zu einem grossangelegten sprachlichen Schlagabtausch, zum verbalen Gunfight, wird, ist bei Dreyer ins filmische Bild selbst verwiesen.

Dabei ist jedoch nicht allein die Montage-Struktur massgebend – d. h. die aus Frage und Antwort sich ergebende Folge von Bild und Gegenbild, von Einstellung und Gegeneinstellung, was einer sprachlichen Prozess-Konfrontation entspricht, sondern die innere Spannung erwächst vielmehr aus einer Abfolge von Grossaufnahmen, die in Kamerabewegungen – wie Schwenk und Fahrt – einverarbeitet werden.

Oft sind es ganz kurze Kamerabewegungen, von oben nach unten, quer durch das Bild, von Person zu Person, welche eine Grossaufnahme umso plastischer ins Bild Rücken. Aus der Verbindung von Grossaufnahmen und Kamerabewegungen, die oft unwillkürlich, trotz der Stilisierung reportagehaft erfolgen, erwachsen emotionelle Eruptionen – Darstellung von Verhaltensweisen und unmittelbare Reaktionen. Die Grossaufnahme selbst – Gesicht, Gegenstände, Gesten auch – wirken detailversessen plastisch, wie gemeisselt naturalistisch, sachbesessen.

Die Gesichtslandschaften bilden in der Verbindung von fast unmerklichen Regungen und expressiven Vergegenwärtigung von Charakterzeichnung und gesellschaftlicher Zugehörigkeit die präzise Darstellung von Gedanken Formulierungen und Gefühlszuständen. Inmitten der Sprache des Gesichtes wirkt Maria Falconetti in der Personifizierung Jeanne d’Arcs wie die Abstraktion eines Gesichtes. Zur Ikone geworden, mit wenigen visuellen Zeichen versehen – die Augen, die Träne, der gemeisselte Mund und die marmorne Haut, die Dornenkrone, die mit ihr verwächst – ist sie der Bezugspunkt eines visuellen Aufruhrs, der sich um sie herum abspielt.

Das Gesicht selbst, dem sich Dreyer ins Details, bis in die einzelnen Züge und Linien annähert, ist ihm Spiegelbild der Seele. So arbeitet er nicht nur mit Schauspielern, in La Passion de Jeanne d’Arc z. B. mit Michel Simon und Antonin Artaud, dem Vertreter des brutalen Theaters, sondern immer wieder mit Laien. Denn – so Dreyer: „Schauspieler sollten nach ihrer geistigen Ähnlichkeit mit dem Charakter, den sie spielen sollen, ausgewählt werden, so dass man die Seele eines Menschen durch seinen Gesichtsausdruck erkennen kann.“ In Dreyers La Passion de Jeanne d’Arc wird jedoch das Gesicht zugleich Informations- und Kommunikationsträger. In der äusseren, durch die Grossaufnahme bestechend gewordene Plastizität wird nicht nur das Innere nach aussen geworfen, werden nicht nur Charakter und Gesellschaftszugehörigkeit zeichenhaft gegenwärtig, sondern die Aussage selbst wird als Sprache in die Gesichtszüge eingeschrieben.

Anders wenn Jeanne sich den Marter- und Folterwerkzeuge gegenüber sieht: Die sieht sie aus ihrer [?] Erfahrung heraus. Die Gegenstände werden zu Marterinstrumenten der Seele.

Die Grossaufnahme wird hier zum subjektiven inneren Blick Jeanne d’Arcs, wie überhaupt im Laufe des Films die Kamera die Sichtweise Jeannes in die Erzählstruktur aufnimmt. Und wiederum anders, wenn die Kamera den Jahrmarkt mit seinen Attraktionen vorführt, wie um zu zeigen, dies gibt es und dies: Eine historische Zeit wird über das Bild zur Abstraktion einer Zeit: Piktural auf die Leinwand gesetzt. Ein Filmfresko, das sich der Räumlichkeit verweigert, damit umso mehr die Dringlichkeit in voller Klarheit uns anspringt.

Die Grossaufnahmen sind durch eine klar umrissene, bewusst strukturierte Bildkomposition bestimmt. Gesichter, Körper, Gegenstände füllen einerseits oft prall das Bild aus, so dass die Einstellung von innen heraus wie aufgesprengt wirkt. Anderseits lassen Kamerawinkel und Ausschnitt Menschen und Gegenstände angeschnitten erscheinen, so dass eine plastische Körperlichkeit auf dem meist weissen Hintergrund ins Bild gewalttätig einbricht. Für die damalige Zeit geradezu avantgardistisch und auch heute noch nicht visuellen Lesegewohnheiten entsprechend, sind Einstellungen, in denen das Attribut eines Menschen, z. B. sein Helm, sein Gewand, sein Folterwerkzeug als Fortsetzung eines unsichtbaren Körpers oder Gesichtes am Bildrand einbricht, über den Bildrand den Menschen [?] ausschliesst, um für Momente nur das Umfeld, den Handlungsort zeichenhaft, gleichsam als abstrakte Kulisse mittelalterlicher Zugehörigkeit, deutlich zu machen. Damit werden die einen Menschen bestimmenden Attribute ebenso dinglich wahrnehmbar, wie die fiebrige Erzählweise zwischen Statik und Bewegung und die in den Gesichtern selbst sich abspielenden mimischen Ausdrucks-Äusserungen.

In ihrer inhaltlichen Vermittlung leben die einzelnen Einstellungen von rein visuellen Qualitäten. Flächen, Linien, Kuben, Gesichter und Gegenstände wie Plastiken, schaffen in ihrer Gesamtheit eine visuelle Bildarchitektur. Bezeichnend ist die auf Diagonalen beruhende Komposition: Die Leinwand wird zerschnitten, zugleich entsteht die Andeutung von Raumtiefe: Das Kreuz wird quer durchs Bild geschoben, die Figuren, in der Schräge aufgenommen, ragen dynamisch gebrochen in die Filmleinwandfläche.

Lineare Strukturierungen bestimmen die Aufnahmen. Wenn man die Augen leicht schliesst, glaubt man sich in einem abstrakten Film zu befinden.

Dazu steht aber im Gegensatz, was ich als visuelle Emotionalität bezeichnet habe. Sie ergibt sich – ich nehme den Gedanken noch einmal auf, um ihn weiter zu führen – nicht aus einer dialektischen Kontrastmontage, sondern aus dem Spannungsablauf von Grossaufnahmen und Kamerabewegung: Schwenk und Kamerafahrt sind vielfach knapp gesetzt, wirken wie abgebrochen, als nicht zu Ende geführt. In den Prozessszenen schaffen sie Beziehungen, schweissen Gruppen zusammen, überziehen ein Gesicht, damit unsere Augen noch genauer in die Emotionalität einer inneren und äusseren Gesichtslandschaft hinsehen, aber sie, Schwenk und Kamerafahrt, illusionieren auch, was man nicht sieht. So lässt Dreyer z. B. in der Verbrennungsszene die Kamera über die Menschen, über den Holzstoss schwenken, ohne in den leeren Raum vorzustossen. Damit vermeidet er einerseits die Totale, anderseits entsteht der Eindruck, dass eine grosse Menschenmenge Jeanne d’Arc bei ihrem Sterben umgibt, dass der Holzstoss gross und gewaltig, gewalttätig wirkt, da das Ende der Holprügel nicht abzusehen ist. Schwenk und Kamerafahrt erweitern den Bildausschnitt, ohne – mit wenigen bezeichnenden Ausnahmen – den Raum einzubeziehen.

Dies schafft die Dinglichkeit, welche ganz auf die Gesichter als Seelen – und Ausdruckszeichen und auf die Materialität der Gegenstände bezogen ist.

Ich sagte zu Beginn, dass Dreyers Film selbst wie eine Vorlesung über jene Themen sei, mit denen wir uns auseinandergesetzt haben. Das ist eine Möglichkeit der Betrachtungsweise: Nämlich einer Gestaltungsart nachzugehen, die mit den Mitteln bewusst gehandhabter Visualität nicht nur stumm erzählt, sondern Prozess-Dialoge vermittelt.

Die andere Möglichkeit, und sie mag angesichts eines der stärksten Werke der Stummfilmzeit umso berechtigter sein, besteht darin, alles abzustreifen, was man über Film und filmische Gestaltung weiss und sich hinzugeben einer Bildsprache, die den Zuschauer in den Bann schlägt.
Als wir uns beschlossen, Dreyers Film beispielhaft in die Vorlesung einzubauen, ging es auch darum, einen Film zu zeigen, den man irgendeinmal gesehen haben muss, so wie es Bilder, Bücher und Musikstücke gibt, die – ich nenne es einmal so – zum abendländischen Kulturgut gehören – unabhängig davon, wie man auch immer zu Kunst- und Kulturbegriffen stehen mag.

1. La Passion de Jeanne d’Arc

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