Ästhetik und Gestaltung
Vorlesung 8:
Walter Richter geht in seinem abstrakten Animationsfilm Rhythmus 21 oder Film ist Rhythmus von der damals fast quadratischen Form der Leinwand aus. Im Rechteck und im Quadrat findet er jene Elemente vor, welche die Cadrage der Leinwand aufnehmen, in ihrer Bewegungsdynamik die Leinwand selbst zum Spielfeld und zum Spielobjekt machen: In Bewegung geratene Metamorphosen der Leinwand-Cadrage.
„So liess ich meine Papierrechtecke und Papierquadrate in gut artikulierten Zeiten und geplanten Rhythmen wachsen und verschwinden, springen und gleiten.“ Die dunkelgrauen bis weissen Spiegelungen der Leinwand werden in Zeit und Rhythmus umgesetzt. Denn filmische Bewegung ist erlebbare Dauer und zugleich: Der Wechsel der Formen und Einstellungen rhythmisiert die Bewegung.
1. Rhythmus 21, 16mm, 3 Minuten
Die Leinwand gibt die konkrete Form ab, die in lebende bewegte rhythmisierte Ornamentspiele umgesetzt wird. Für Norman Mc Laren ist der „Animationsfilm nicht die Kunst Zeichnungen in Bewegung zu versetzen, sondern die Kunst gezeichneter Bewegungen.“ So wird für ihn im Film Begone dull care (Caprices en couleurs, 1949) die Leinwand zum farbig-wild pointillistischen Bewegungsbild oder Minimal Art in der Auseinandersetzung mit der Musik des Oscar Petersen Quartets. Mc Laren visualisiert nicht Musik, sondern konfrontiert uns mit einer in Farben und Formen explodierenden oder meditierenden Leinwand. Auch bei Mc Laren ist Thema: Die Konzentration auf die Ausstrahlung der Film-Leinwand.
2. Caprice en couleurs, 16mm, 7 Minuten
Leinwanderfahrungen möchte ich die Filme von Norman Mc Laren nennen. Bei Mc Laren ist der Bildrand bewusst gesetzt. Es gibt kein Ausserhalb, keine imaginative Erweiterung durch Ahnung, dass sich etwas ausserhalb des Randes befinden könnten. Kamerabewegungen sind nicht mehr möglich, sondern Bewegung, Farben und Formen sind die alleinigen Elemente des Bildes selbst geworden.
Noch ein Film Mc Larens soll bewusst machen, welche explosive Kraft und visuelle Intensität im Bild selbst zu liegen vermag: Boogie Doodle aus dem Jahre 1940?
3. Boogi Doodle, 16mm, 4 Minuten
In den Filmen, die wir uns jetzt angeschaut haben wird die Leinwand klar durch den Bildrand begrenzt. Wir stellen fest: Innerhalb dieses Rahmens verwandelt sich der realistisch gefilmte Schwenk zu einer eindimensionalen Fläche, setzt das Travelling die sichtbar über Kamerabewegungen erfahrene Umwelt in eine für den Zuschauer künstliche Visualität um. Der Rahmen bestimmt aber auch die Einstellungsgrössen. Bei Richter und Mc Laren lassen sich keine Einstellungsgrössen, keine Cadragegrössen wie Weit, Totale, Plan américain, nah, gross, Detail ausmachen. Die Leinwand bestimmt sich als Grösse, da es für konkrete Animationsbewegungen kein räumliches Koordinatensystem gibt, das sich an eine vorhandene Wirklichkeit fixieren lässt. Mit den zwei gezeigten Filmen wollte ich den in der letzten Vorlesung entwickelte Gedanke: Film ist Bewegung, Film ist Rhythmus, Film ist Musik – noch einmal berühren. Zugleich wollte ich, nach den vielen Beispielen von Kamera-Bewegungen, Sie wieder auf die Leinwand und [auf das,] was sich innerhalb des Leinwand-Rahmens abspielt, konzentrieren.
Nach den Evasionen will ich Sie auf die Einstellung und ihre möglichen Grössen, d. h. Ausschnitte aus einer vorgegebenen Wirklichkeit hinführen. Dabei möchte ich in erster Linie den visuellen Qualitäten und Bedeutungen der Nah- und besonders der Gross- und Detailaufnahme nachgehe.
Wenn wir uns in einer Ausstellung ein Bild anschauen, nehmen wir es einmal, wenn wir in die Ausstellung eintreten, durch die Räume schlendern, aus dem Zusammenhang der übrigen Bilder heraus. Wir gehen auf dieses Bild zu. Unsere Augen wandern über das Bild, schwenken einer Linie nach, bleiben an einer Farbe, einer Form, einem Gegenstand, einem Gesicht, an Händen hängen. Ich schaue mir an der Hand die Finger an, am Finger die Nägel. Aus einem Botticelli-Gesicht nehme ich die Haare wahr und sehe mir zuletzt ganz nah als Detail an, wie das Kupferrot mit weiss leicht durchzogen jenen Glanz abgibt, der von weitem die Haare leuchten liess – bei der visuellen Betrachtung eines Bildes, einer Plastik, aber auch eines Gegenstandes, z. B. eines Tisches, eines Stuhls, eines Kleides nehme ich mit meinen Augen Bewegungen vor, schaffe ich mir Totale, Nah, Gross und Detail-Ausschnitte. Dieser Vorgang ist jedoch an die Bewegungen meines Körpers gebunden – ich gehe näher hin – und an die Bewegungen und Fokussierungen meiner Augen gebunden: Ich schaue immer präziser, genauer, detaillierter. Dabei weiss ich stets um das Umfeld, ich kann jederzeit, aus einem Impuls, einem Gedanken, aus einer Zufälligkeit heraus, mich wieder aus der Sichtkonzentration herausbegeben, das Detail fallen lassen, die Grossaufnahme „Porträt“ übersehen, mich der Farbkombination, der Linie entsagen, mit einer Augengeste das ganze noch einmal überblicken, mich aus dem Raum begeben, und was ich bis in die Details wahrgenommen habe, mit einem anderen Bild vergleichen, das nebenan hängt und wieder zurückgehen und zwischen die beiden Bilder eine Zäsur – einen Schnitt – setzen. Was und wie ich aber schaue, ob in Totale, nah oder gross – vielleicht sogar zugleich berühre, rieche, meine sinnliche Wahrnehmung weite, hängt von der Aktion meines Körpers und dem Willen meiner Augen ab.
Wir können sogar noch weiter gehen: Ich sehe Sie hier in der Totalen. Ob als Ganzes oder über sie hinblickend, ist Teil meiner mir zur Verfügung stehenden Wahrnehmungsmöglichkeiten. Ich kann aber eine Person dort eben fixieren, die Türe, die auf und zugeht, das Fensterchen in der Kabine, wenn ich wissen will, ob Thomas Christen mit dem neuen Filmbeispiel bereit ist.
Ich kann also meinen Standort
beibehalten und meine Augen von Weitwinkel auf Tele fokussieren. Ich sehe zwar
das Fensterchen nicht grösser, die Türe nicht genauer, die Person nicht
gegenwärtiger, aber ich abstrahiere das bereitliegende visuelle Umfeld.
Ich kann mich mit meinem Körper bewegen, d. h. den Standort verändern, wenn ich
etwas genauer sehen oder mehr im Überblick sehen will. Ich kann aber auch die
Brennweite meiner Augen verändern und Standort beibehalten.
Der Film jedoch vermittelt mir die Sehweise im Raum, oder was an einem Bild, einem Gegenstand, an einem Menschen zu sehen ist, über die Cadrage der Kamera – d. h. über Ausschnitte, die das Umfeld kategorisch ausschliessen. Zudem wird die Zeit, wie lange ich etwas in Totale, nah, gross oder Detail sehe, durch das Schnittmuster bestimmt. Im Film ist die Selektion des Sehbaren sowohl räumlich determiniert.
Ich muss lesen, was die Kamera mir zum Lesen vorgibt, und ich habe mich in meiner Wahrnehmung der zeitlichen Präsenz vorgelegter Bilder anzupassen: Die Einstellungsgrösse zwingt mich zur Wahrnehmung dessen, was mir auf der Leinwand als Cadrage erscheint, und die Montage zwingt mich zu einer zeitlich bestimmten Wahrnehmung.
Konzentration auf die Leinwand als Bild hiess der Einstieg der heutigen Stunde: Dass wir in unserer Wahrnehmung fremdbestimmt werden, ist der zweite Vorgang. Dass wir in der Folge und nicht der visuellen Bedeutung von Weit-, Total- oder Plan-américain-Ausschnitten zuwenden, sondern den Nah-, Gross- und Detailaufnahmen, hat die Funktion, uns des visuellen Umfeldes bewusst zu entsagen, so dass durch die Konzentration, z. B. auf eine Grossaufnahme, eine vom Umfeld losgelöste neue filmisch-visuelle Wirklichkeit entsteht.
Ich gehe folgendermassen vor. Ich befasse mich in der heutigen Vorlesung mit der Grossaufnahme der Stummfilmzeit, das nächste Mal schauen wir uns einen Stummfilm an, der praktisch nur neben weniger Schwenks und Travellings aus Grossaufnahmen besteht, nämlich Dreyers La Passion der Jeanne d’Arc, um, uns dann nach den Weihnachtsferien mit der Entwicklung der Grossaufnahme seit 1930 zu beschäftigen.
Ich blende aus, inwiefern Malerei und Fotografie die Nah- und Grossaufnahme bedingt haben. Nur soviel: Malerei und Fotografie, die sieh besonders in den Anfängen aus künstlerischen Legitimationsgründen malerisch gab, kannten das Gruppenbild, das Standbild und das Porträt. Und der Betrachter konnte sich, wie ich zu Beginn ausgeführt habe, durch seine Sichtweise z. B. an einem Gruppenbild seine Porträts, seine Kleinigkeiten wie einen Gegenstand, eine Hand, einen Faltenwurf, ein Tüchlein, die Lippen und die Augen eines Menschen – für sich ganz persönlich – ausmachen.
Ich gehe vom Medium Film direkt aus. Die ersten Filme sind Tableaus – die Totale steht am Anfang. Und die Totale entspricht dem Bühnenbild. Man will möglichst viel realistisch bewegtes Bild zeigen. Wir schauen uns ein paar der ersten Filme der Gebrüder Lumière an, wie sie Ende 1895 in Paris in einem Caféhaus vorgeführt wurden.
Wir sehen Totale. Doch achten Sie darauf, was wir mit unseren Augen machen. Wenn die Arbeiter- und Arbeiterinnen der Lumière-Fabrik in Lyon auf die Kamera zueilen, schauen wir uns z. B. die Hüte – die Blumentöpfe – näher an. Wenn ein Boot aufs Meer hinausgerudert wird, bleiben gewollt oder ungewollt unsere auf Frauen, die auf einer Mole stehen, haften, wir sehen, wie der Wind in ihren Röcken spielt – ein bewegtes Monet-Bild. Wir schauen in der Totale näher hin, wenn optische Reize unseren Blick fokussieren.
Die Kamera rückt näher an das Objekt, wenn die Kinder gezeigt werden sollen, wenn ihre Nähe aufgespürt wird. Grossaufnahmen entstehen, wenn ein Zug in den Bahnhof von La Ciotat einfährt und die Menschen auf die Kamera zueilen oder neben der Kamera angeschnitten auftauchen. Die Cadrage-Grösse ergibt sich aus dem Geschehen vor der Kamera. Zugeinfahrten werden zu den kinematografischen Sensationen der Zeit. Es ist die optische Erfahrung von Raum, Perspektive und bedrohlicher Nähe.
4. Lumière, Ausschnitt, Super 8, 7 Minuten, Texte schneller laufen lassen
Auch Méliès arbeitete mit Tableaus. Die Filmleinwand ist seine Theaterbühne. Was er näher, gross zeigen will, konstruiert er im Verhältnis zu den Darstellern grösser. Z. B. ein gewöhnliches Fernrohr unter dem Arm eines Darstellers wird zur kleinen Kanone, damit die Zuschauer das Fernrohr sehen. Und den Mond, in dessen Auge die Rakete einschlägt, zeigt er als Mann im Mond — leinwandfüllend.
Dann tauchen die ersten Grossaufnahmen im Zusammenhang mit Erzählsituationen auf. In der englischen Schule von Brighton um 1900, welche von zwei Strandfotografen namens James Williamson und George Albert Smith angeführt wurde, tauchen sie entweder als Porträt-Beobachtungen auf oder als Teile einer Erzählsituation. In „Humorous Facial Expressions“ („Humoristische Gesichtsausdrücke“) oder „Comic Faces“ (komische Gesichter) beobachtet Smith in Grossaufnahmen die Mimik von Gesichtern: Eine Grossmutter versucht einen Faden einzufädeln, zwei Männer diskutieren usw.
Dann tauchen die Grossaufnahmen als logische Teile einer Erzählsituation auf: In The Mouse in the Art School 1901 zeichnen Studentinnen einer Kunstakademie einen kleinen Matrosen ab. Schnitt. In Grossaufnahme sieht man den Kopf einer Maus, die aus einem Loch herausschaut. Wieder Schnitt auf Theater-Totale: Der Matrose tötet die Maus und die Studentinnen feiern ihn als Helden.
1901 wurde Grossmutters Leselupe ein Welterfolg. Grossmutter näht und der Enkel schaut mit der Lupe im Zimmer herum: In einer runden Bildform werden in Grossaufnahme einzelne Gegenstände sichtbar: Eine Uhr, ein Kanarienvogel im Käfig, das Auge der Grossmutter, der Kopf einer Katze.
Eine der wohl verrücktesten, avantgardistischsten Gross- ja Detailaufnahmen drehte innerhalb der englischen Brighton Schule James Williamson 1901 unter dem Titel A Big Swallow (Ein grosser Schluck). Der Film ist 22 [Minuten] lang und zeigt einen Mann, der von einem Fotografen, dessen Kopf hinter einem schwarzen Tuch versteckt ist, fotografiert wird und sich nicht fotografieren lassen will. Er, so der Zwischentitel; „ich will nicht, ich will nicht, eher esse ich den Apparat.“ Dabei geht er von der Bildtiefe auf den Fotopapparat, respektiv auf die Filmkamera zu, welche mit dem Zuschauer identisch ist, bis der offene Mund die Leinwand ausfüllt (Gross- oder sogar Detail-Aufnahme). Auf dem Schwarz des Mundschlundes erscheint der Fotoapparat, dann der Fotograf, welche im Innern des schwarzen Bildes verschwinden. Fotoapparat und Fotograf werden verschluckt. Der Mann entfernt sich kauend.
Einen weiteren Zusammenhang zur Entwicklung auf die Grossaufnahme hin lässt sich aus den Erfordernissen [für] das Kinetoskop von Edison ableiten. Unter einem Kinetoskop versteht man die visuellen Vorführstände, wie sie früher bei uns auch auf den Bahnhöfen zu finden waren. Durch ein kleines Fenster sieht man für kurze Zeit einen Film abrollen. Da das Vorführbild klein war und auch an Deutlichkeit zu wünschen liess, drehten die Kameraleute für das Kinetoskop möglichst objektnahe Aufnahmen. Dabei wurde die Nahaufnahme zu einem für die damalige Rezeptionssituation bezeichnenden Skandal. In einem damaligen Erfolgsstück am Broadway „The Widow Jones“ küssten sich zwei bekannte Schauspieler auf der Bühne: May Irwin und John C. Rice. Zwei New Yorker Kameramänner, Raff und Gammon, nahmen diesen Kuss in Nahaufnahme auf 16mm Film auf und brachten den Streifen unter dem Titel The May Irwin-John C. Rice Kiss auf den Kinetoskop Markt. Auf dem kleinen Vorführbild des Kinetoskops fiel die Szene nicht auf. Wie jedoch der Film im Jahre darauf, 1896, mit dem Vitaskop-Verfahren auf eine Leinwand projiziert wurde, brach der Skandal aus. Die überlebensgrosse Darstellung eines Kusses in Nah-Aufnahme, wobei die Szene, damit der Streifen länger wirkte, gleich dreimal aneinander gehängt wurde, überstieg die damalige Rezeptionsfähigkeit: Die Nah-Aufnahme, die offensichtlich wie eine Grossaufnahme wirkte, schien zu erschrecken. In der literarischen Revue „The Cap Book“ schrieb am 15. Juli 1896 der Herausgeber Herbert Stone über den May Irwin-John C. Rice Kiss:
[»]„Als er im Theater in Naturgrösse aufgeführt wurde, war die Wirkung bereits bestialisch. Aber jetzt, da diese Szene ins Riesenhafte vergrössert und dreimal hintereinander wiederholt wird, ist das Ganze absolut widerlich. Solche Tatsachen verlangen die Intervention der Polizei. Die Obszönität der lebenden Bilder und der Bronzemänner auf dem Jahrmarkt ist nichts dagegen“ The Cap Book (Chicago) vom 15. Juni 1896 zitiert nach: Les Cahiers de la Cinémathèque (Perpignan) Nr. 29, Winter 1979, S. 74.[«]
Ich kann Ihnen den filmhistorisch berühmten Filmkuss, der zugleich den Nachweis von Nah- und Grossaufnahmen im Moment erbringt, da die ersten Filme in die Jahrmarkt-Kinos kommen, nur in einfacher Ausführung zeigen. Da die beschriebene Wirkung in unseren. Breitengraden heute kaum mehr möglich ist, genügt die einmalige Vorführung.
5. The May Irwin-John C. Rice Kiss, Video, 30 Sek.
Filmgeschichtlich wurde um 1900
bereits die Grossaufnahme, die dem Portrait in der Malerei entsprach, auch auf
andere Körperteile übertragen oder auf Gegenstände bezogen. So entwickelten
Dicksons Produktionsgesellschaft Biograph als erotische Spezialität sogenannte
„Insektenfilme“: Eine Fliege umkreist in Grossaufnahme die Füsse einer Frau.
Oder Moskitos bedrohen die nackten Beines eines Mädchens unter dem Titel Armes Mädchen, es war eine heisse Nacht und
die Mosquitos stachen.
Ivor Montagu, der französische Filmkritiker erzählt aus den Anfängen der
Filmrezeptionsgeschichte:
[»]Béla Bálazs, Der Film, dt. Wien 1961 (Zitat entspricht der deutschen Ausgabe, S. 24). Vgl. Ivor Montagu, a. a. O. „Als die Zuschauer den ersten Film mit Grossaufnahme sahen, meinten sie, man habe sich über sie lustig machen wollen. Derartige Einstellungen auf der Leinwand wurden von Rufen aus dem Publikum begleitet: ‚Zeigt die Beine!’“ (S. 76 der russ. Ausgabe)[«]
Und Béla Bálazs, der ungarische
Filmtheoretiker, der sich besonders mit dem Phänomen der isolierten, aus dem
Zusammenhang herausgeschnittenen Abbildung eines Auges, eines Kopfes, einer
Hand auf der Leinwand beschäftigte, weiss zu berichten: (Lotman, S.48f.)
„Ein alter Moskauer Freund erzählte mir einmal von seiner Hausgehilfin, die
erst vor kurzer Zeit von einer sibirischen Kolchose in die Stadt gekommen war.
Es war ein intelligentes junges Mädchen, mit Schulabschluss, aber aus
irgendeinem Grund hatte es noch nie einen Film gesehen. (Dieser Vorfall
ereignete sich vor langer Zeit). Ihre Arbeitgeber schickten sie einmal ins
Kino, wo irgendeine Filmkomödie gezeigt wurde. Blass, mit finsterer Miene kam
sie nach Hause. ‚Na, wie hat es dir gefallen?’ fragte man sie. Sie war vom
Eindruck des Gesehenen noch ganz überwältigt und schwieg eine Weile.
‚Scheusslich’, sagte sie schliesslich entrüstet, ‚ich kann nicht begreifen,
dass man hier in Moskau erlaubt, solche schrecklichen Dinge zu zeigen.’ ‚Was
hast du denn gesehen?’ ‚Menschen, die in Stücke gerissen waren. Hier ein Kopf,
da die Arme, dort die Beine.’“ Und Béla Bálazs fährt fort: „Es ist bekannt, dass
in Hollywood, als Griffith zum erstenmal Grossaufnahmen im Kino vorführte und
ein riesiger ‚enthaupteter’ Kopf ins Publikum lächelte, Panik ausbrach.“
Im Gegensatz zu Schwenk und Travelling fahren filmgeschichtlich gesehen Nah- und Grossaufnahmen als ein filmisches Gestaltungsmittel ein, das in seiner Direktheit unmittelbar erlebt wird. Denn die anfänglich noch wirksame Theatersituation, welche zu den Totalen als Tableaus führte, wurde brutal zerrissen.
Grossaufnahmen entstehen aber auch aus dem Spielduktus heraus. In Griffiths The Musketeers of Big Alley (1912.) bereiten sich zwei Gangster-Gangs auf eine grosse gegenseitige Abrechnung vor. Griffith lässt beide Gangs in den Gassen und an den Wänden entlang auf die Kamera zuschleichen, als wäre die Kamera der Begegnungsort. Aus der Bild-Totale ergeben sich im Bild selbst Nah- und Grossaufnahmen: Eine Galerie von Gangstervisagen bis hin zu einem Auge in Detail, das an der Kamera vorbeiblickt. Bei Lumière fahren Eisenbahnzüge auf den Zuschauer zu. Jetzt sind es Gesichter.
6. The Musketeers of Big Alley, Video, 2 Minuten
Griffith setzt in der Folge in seinen ganz auf Erzählung ausgerichteten Filmen die Grossaufnahme von Gesichtern immer mehr als eine Gefühlslandschaft ein. Lillian Gish wird seine bevorzugte Schauspielerin. Griffith taucht ihre Haare in ein flimmerndes Gegenlicht, schafft damit eine porträthafte Plastizität im Raum. Dafür wird das Gesicht frei für die Spiegelungen leisester Seelenzustände bis hin zur flatternder Hysterie.
In Way Down Beast (l920) verharrt die Kamera erbarmungslos in einer Nahaufnahme auf Lillian Gish. Sie hat eben ihr uneheliches Kind geboren, es in ihrer Verlassenheit selbst getauft, damit es nicht gottlos sterbe. In der Totale noch ist das Bett sichtbar, die Andeutungen eines Zimmers lassen einen Raum erahnen. In der Nahaufnahme fällt der äussere auf Stimmung ausgerichtete Bezug weg. Die Kamera ist auf die Spielweise Lillian Gishs konzentriert, die das sterbende Kind wärmt, auf den Arzt wartet und schliesslich vom Schmerz getroffen in Ohnmacht fällt.
7. Way Down Beast, Video, 2 Minuten
Über die Grossaufnahme eines Gesichtes will Griffith die innere Geschichte erzählen: Gefühlsverwandlungen, Ängste und Bedrohungen, die nach aussen auf das Gesicht geworfen werden. Dabei entwickelt Griffith schliesslich einen Kult der Nah- und Grossaufnahmen, besonders in der immer wieder erneuten Vergegenwärtigung der durch Lillian Gish bis zur Hysterie getriebenen Darstellung der verfolgten Unschuld.
In Broken Blossoms (1919) flieht Lillian Gish vor ihrem brutalen Vater, der Boxer ist, zu einem Chinesen, der einen kleinen Laden besitzt. Der „Yellow Man“ nimmt die Geschundene auf, macht aus dem Aschenbrödel eine Prinzessin und verwandelt das Zimmer in einen zarten Poesieraum der Liebe. Mit einer Puppe in den Armen erstrahlt Lillian Gish im Licht wie eine Porzellanfigur. Doch der Vater holt sie heim, will ihren unschuldigen Geliebten ermorden. Da se setzt eine jener in den Filmen Griffiths immer wiederkehrenden Peitschenszenen ein, die eine geradezu sadistische Lust bieten, sich in Grossaufnahme auszuleben. Die Nah- und Grossaufnahmen wirken umso brutaler, als Griffith immer wieder Totalen einer in Nebel versinkenden Umwelt wie Zäsuren schneidet. Da der Vater stets von seiner Tochter verlangte, dass sie trotz des Elends lächle, arrangiert Lillian Gish sic hin der Sterbeszene noch ein Lächeln hin. Ein Glamour-Tod aus dem Jahre 1919 –
8. Broken Blossoms, Video, 6 Minuten
Stellen wir Griffith einem
russischen Film der Zwanzigerjahre gegenüber. Auch die russischen Regisseure
nahmen die Grossaufnahmen auf. Sie spiegeln jedoch selten Emotionen, sondern
ihre Gesichter sind Landschaften, welche einen Stand, eine Klasse, einen
Zustand wiedergeben. Sie haben nicht eine Geschichte zu erzählen, sondern eine
gesellschaftliche Beurteilung zu ermöglichen. Die Grossaufnahme von Gesichtern
in den Filmen, besonders von Eisenstein und Pudowkin, bezeichnen den Menschen
in seiner gesellschaftlichen Zugehörigkeit und stehen für eine Sache dar oder
ein.
In Die Generalllinie oder Das Alte und das Neue baut Eisenstein
eine Prozession um Regen in einer Zeit der Dürre auf Grossaufnahmen von
Gesichtern, Fahnen und Insignien der Religion auf.
9. Generalllinie, Video, 3 Minuten
Wieder ganz anders arbeitet Dovjenko in Die Erde (1930). Seine Bilder vom sterbenden Grossvater eingebettet in Natur und Familie, werden von der Fotografie in ein strahlendes Licht getaucht, das selbst den Tod sanft und milde werden lässt. Die Kamera ist dem Geschehen ganz nah, ohne zu verletzen oder zu entblössen. Sondern die Nah- und Grossaufnahmen nehmen uns in eine Intimität auf. Der Bildrand ist nicht Begrenzung, sondern führt uns in das Bild hinein, weist uns Bildern zu, die trotz ihrer Nähe nichts Bedrohliches haben.
10. Die Erde , 35mm, 7 Minuten
Einer ganz anderen Direktheit, setzt
uns Jean Epstein in La chute de la
Maison Usher (1928) aus. Roderick malt das Porträt seiner Schwester
Madeline. Und während er sie malt, entweicht ihr das Leben Wie lebendiger und
wirklicher, naturalistischer das Porträt/Bild wirkt, umso mehr nähert sich die
Frau dem Tode. Die Malerei, welche auf der Mal-Leinwand die Frau wie lebend
erscheinen lässt, nimmt dem wirklichen Leben den Lebenshauch. Die formale
Bewältigung durch die Kunst lässt das Leben ersticken.
Roderick malt Madeline das Leben weg. Im Film wird die Filmleinwand zur
Malleinwand, die Roderick bemalt, so dass der Zuschauer selbst von Roderick in
Kunst verändert wird. Wir sind hinter der Leinwand: Wir sind Madeline auf der
Leinwand!
Die Magie des Malens wird über die Grossaufnahmen Rodericks, der im Licht flimmernden Pallette, den sterbenden zerfliessenden Kerzen, der malenden Hand, zur Demonstration filmischer, visueller und fotografischer Magie.
Über die Grossaufnahmen wird der Zuschauer in jenen Bann geschlagen, der das Kunstwerk über die Wirklichkeit stellt. Wenn Roderick in das Objektiv hineinmalt, in unser Auge hinein, sind wir Madeline die Mitbetroffenen.
Das Leben zerbirst. Selbst das fotografische Bild erscheint für Momente als Negativbild. Erst in der Totale des Raumes entzieht sich Madeline dem künstlerischen Zugriff und auch der Zuschauer wird aus dem Bannkreis der Grossaufnahmen entlassen.
11. La chute de la Maison Usher, Video, 2 l/2 Minuten
Unter dem Zugriff Griffiths lässt Lillian Gish ihr Gesicht in Nah- und Grossaufnahmen zu einer bebenden, flatternden, hysterischen Seelenlandschaft werden.
Unter dem Blick der Kamera wird das
Gesicht Lillian Gishs umrahmt von lichten Haaren, die wie ein Heiligen Schein
die Unschuld verklären, als Spiegelung emotioneller Vorgänge entblösst. Griffiths
Umgang mit der Nähe der Kamera macht das Gesicht schön und nackt.
Schauen wir uns eine andere Grossaufnahme an:
12. The Flesh and the Devil, Video, 1. Mal, 2 l/2 Minuten
John Gilbert und Greta Garbo in Clarence Browns The Flesh and the Devil; was in dieser Sequenz Brown vordemonstriert, wird Josef von Sternberg in den Dreissigerjahren wieder aufnehmen: Nämlich die Perfektion der Grossaufnahmen aus der Stimmung von Totalen heraus zu entwickeln und auf diese Weise eine erotische Aura zu schaffen. Zur Ausstrahlung der Grossaufnahme gehört, dass die Dinge gleichsam fetischistisch beseelt mitzuspielen beginnen. Selbst die Spuren an einem Becher, die aber nicht im Detail gezeigt, sondern über eine visuelle Ahnung durch die Gesten bezeichnet werden, erhalten eine dramaturgische Erzähl- und Aussagekraft. Zudem ist es eine der perfektesten Grossaufnahmen Greta Garbos – kaum wahrnehmbare Andeutungen, damit die Schönheit des Gesichtes nicht filmogenen Schaden leidet, betören die Fantasie des Zuschauers. Sehen wir wirklich, was sich auf dem Gesichte abspielt, oder erlaubt Garbos Gesicht, mehr zu sehen, als wir zu sehen vermögen.
Steigen wir noch einmal in die Hollywood inszenierten Grossaufnahmen ein:
13. The Flesh and the Devil, Video, 2. Mal, 2 l/2 Minuten
Schauen wir uns am Ende der heutigen Vorlesung das meines Erachtens filmogenste Stummfilmgesicht an: Louise Brooks in Georg Wilhelm Pabsts Film Loulou – oder Die Büchse der Pandora nach dem gleichnamigen Stück von Wedekind.
Pabsts „Neue Sachlichkeit“ will die Dinglichkeit der Dinge wiedergeben, was für ihn soviel heisst, die Ausstrahlung aufsuchen, die in der Wirklichkeit selbst liegt. Sie findet sich in den Gegenständen, in einem Spiegel, in einer Kerze, einem Treppengeländer – in einem aufblitzenden, funkelnden, lockenden Messer und – in den Gesichtern.
Louise Brooks liefert Pabst genau jene Ausstrahlungsmaterialien, die eine Haut, Haare, Zähne, Augen zu filmogen lebenden Dingen werden lassen, ohne dass eine dramaturgisch bestimmende Mimik die Linien der Gesichtszüge zerreisst.
Louise Brooks macht nichts – sie ist
– und umgeben von den Menschen, von den Dingen, hingesetzt in die Orte des
Geschehens wird sie zu dem, was ihr Drama ausmacht.
Schigolch, Alwa und Loulou leben in bitterster Armut in einem Estrich. Loulou
macht sich schön, um sich Geld zu beschaffen. Ihr Freier ist Jack the Ripper,
Pabst inszeniert die Sequenz um das Gesicht Louise Brooks’ herum.
Licht, Gegenstände und Gesten schaffen jene Romantik, die Pabst das reelle Leben nennt. Im Melodramatischen vollzieht sich der Tod. Louise Brooks ist für Pabst das Objekt seiner Sicht der Welt. Und deshalb kann er auch wagen, mit der Kamera so nahe an die ungeschützten Stellen eines Menschen heranzugehen. Denn selbst im Sterben bleibt romantisch filmogen, was für Pabst zugleich dinglich und sachlich heisst: Die Schönheit erhalten.
14. DIE BÜCHSE DER PANDORA , 35mm, 10 Minuten
Nach einer zehnminütigen Pause zeigen wir Ihnen einen halbstündigen Film aus der Pariser Avantgarde der Zwanzigerjahre: Dimitri Kirsanoffs Melodrama Menilmontant aus dem Jahre 1925 – mit der wundervollen Nadja Sibirskaja. Schmelz der Bilder, Kamerafahrten, Impressionen magischer Fotografie und die Grossaufnahmen Nadja Sibirskajas. Man fühlt sich in die Dekadenz russischer Emigranten in Paris versetzt. Kirsanoff verfilmte übrigens bildstark intensiv Ramuz Roman Rapt mit Dita Parlo, der Hauptdarstellerin aus Jean Vigos L’Atalante.
15. Menilmontant (ganz)
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