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Seminar für Filmwissenschaft

Ästhetik und Gestaltung

Vorlesung 7: Travelling 2 / Film als Film

Die heutige Vorlesung umfasst zwei Teile. Im Sinne einer Ergänzung und Weiterführung einiger Gedanken greife ich das Thema „Travelling“ noch einmal auf, um in einem zweiten Teil anhand von konkreten und abstrakten Filmen auf die These einzugehen: Film ist Bewegung, Film ist Rhythmus, Film ist Musik.

Ich blende zurück zur letzten Vorlesung „Vom Schwenk zum Travelling“. Dabei beobachteten wir, dass der Schwenk Raumgefühl und Plastizität aufhebt, dass Gestaltung und Machart eines filmischen Mittels aufs engste mit unserer Wahrnehmung verbunden sind. Mit den letzten drei Beispielen – dem Ausschnitt aus dem Dokumentarfilm SAN CLEMENTE, der Eröffnungssequenz aus Orson Welles TOUCH OF EVIL und dem Experimentalfilm JEUX DE REFLETS ET DE LA VITESSE gingen wir auf Gestaltungsvorgänge ein, welche die durch Schwenk und Travelling bedingte Verzerrung der visuellen Welt  aufhebt: Der Zuschauer wird zum Mittäter (SAN CLEMENTE), die Künstlichkeit der Kamerafahrt wird selbst Thema (TOUCH OF EVIL) und Travellings stellen sich selbst, losgelöst vom Wirklichkeitsbezug als Spielform dar (JEUX DE REFLETS ET DE LA VITESSE).

Diesen Filmen möchte ich einen Schweizer Film anschliessen, in welchem die filmische Gestaltung – durch die Handhabung von Kamerafahrten – der Aussage kongruent wird.
Die durch die filmische Gestaltung vermittelte Bedeutung ist zugleich die innerste Aussage, welche die Figur und den Film kennzeichnen.

In Yves Yersins Film LES PETITES FUGUES (1979) geht es um die Befreiung eines alten Mannes, der sein Leben lang als Knecht auf einem Bauernhof gearbeitet hat, von allen Fesseln, die ihm ein Leben anzulegen vermochten. Ein Vélosolex verhilft ihm nicht nur zu Evasionen, sondern auch, in voller Selbstverständlichkeit, zu sich selbst. Die glückliche Selbstfindung ergibt sich aus der Spannung zwischen Wirklichkeitsnähe, Wirklichkeitsverbundenheit und einer existentiellen Fantasie. „L’imagination au pouvoir“ ist nicht nur das Thema des Films, sondern auch Teil der Handhabung der filmischen Gestaltungsmittel. So lösen in Yves Yersins Film die Travellings als Akte der Fantasie eigentliche Befreiungsvorgänge aus.

Die Kamera-Bewegungen und Kamera-Fahrten lassen uns die Erdenschwere überwinden. Bei Yersin wird das Travelling – to travel heisst reisen – wörtlich zum emotionellen Höhenflug. Seine Kamera-Bewegungen heben nicht nur den Helden, den Knecht Pipe, von der Erde ab, sondern ebenso sehr auch uns. Ob es das Auftauchen eines Leichtflugzeuges am Himmel ist, ob ein Helikopterflug Pipe um das Matterhorn herumführt – Erfüllung von Pipes Träumen und Wünschen, so dass er wieder gerne zur Erde zurückkehrt, ob ein Aufstieg zu einem Berggipfel erfolgt, um dem imaginären Flugzeug, um dem Himmel näher zu sein – die Kamera entführt uns über die filmische Gestaltung in einen poetischen Raum. Die Verzerrung der visuellen Umwelt wird Teil der Verzauberung.

Wir sehen uns einen Ausschnitt an:

Pipe lernt mit seinem Vélosolex umzugehen. Er stürzt nicht mehr, endet nicht mehr im Unterholz, sondern er donnert in einer Waldschneise aus der Dunkelheit des Gehölzes hinaus in die Weite der Landschaft. Das kleine Vélosolex wird zum startenden Flugzeug und hebt ihn in den Himmel, aus dem er auf seine Erde niederblickt. Yersin lässt jedoch Pipe nicht in diesem imaginären Zustand verbleiben. Auch auf Erden ist die Wonne befreiender Erlösung möglich. Im Sonnenlicht und in einem Platzregen fährt er – wiederum von der Kamera verfolgt – durch die Erden-Wirklichkeit, mit seiner Zunge den Regen kostend. Entführung in die Esoterik einer immateriellen Imagination, Weggleiten in die Weite des Raumes und zurück auf die Erde, die Sinnlichkeit materieller Erfahrung geniessend: beide Vorgänge werden von Yersin über Kamera-Fahrten gestaltet. Für die visuelle Befreiung sind jedoch nicht nur die Kamera-Bewegungen notwendig, sondern ebenso auch Einbezug und Gestaltung des Tons, der für diesen Film von Luc Yersin – dem Bruder Yves Yersins – beigebracht wurde. Der Ton lässt erst die Travellings zu dem werden , was wir als Bedeutung erfahren.

1. LES PETITES FUGUES, Video, 4 Minuten

Was die Erde zu sein vermag, vermittelt uns Godard ebenfalls mit einer Kamerafahrt, die jedoch von ganz anderer Beschaffenheit ist. Die Kamerafahrt wird zum Terror. Als Gegenstück zum Panorama-Schwenk, den wir uns das letzte Mal angeschaut haben, findet sich in WEEK END ein Travelling, das ebenfalls 7 Minuten dauert. Gleichmässig und cool fährt die Kamera eine Strasse entlang, auf der der Wochenend-Ausflug-Freizeit-Verkehr zusammengebrochen ist. Das hindert jedoch nicht, auf sportliche Weise dieses Hindernis zu überwinden.

Die Kamera selbst fährt hindernislos parallel zu einer schwarzen Limousine. Emotionslos ist die Fahrt. Das Objekt jedoch explodiert fast aus einer inneren Aggression heraus. Die Kamera hat hier den Blick eines Insektenforschers, eines Naturwissenschafters, der es genau wissen will. Godard inszeniert eine filmische Gestaltung die Unerträglichkeit einer Beobachtung. Wohl ist die Szene wie arrangiert, durchaus inszeniert angelegt. Doch die Art, wie die Kamera dem Geschehen entlang fährt, hie und da etwas nachschwenkt oder vorschwenkt, um den Wagen, der manchmal hinter Vordergründen verloren geht, nicht aus den Augen zu verlieren, ist von der gleichen linearen Folgerichtigkeit, wie der Rundschwenk auf dem Bauernhof, so dass das Gefühl von Unentrinnbarkeit entsteht. Selbst die komischen Einschübe, die kleinen Zwischenszenen sind kafkaeske Grotesken.

Wenn die Menschen verrückt spielen, bleiben die Tiere – Löwinnen, Affen und ein Lama und ein Zugpferd – von übermenschlicher Ruhe.

Kamerafahrten sind – dies ist eine weitere Beobachtung – ausgesprochen tonanfällig. Bei Ophüls LE MASQUE schafft die Offenbachsche Ball-Musik die Ambiance zu turbulenten Kamerafahrten. In Yersins LES PETITES FUGUES ist der Ton massgebend beteiligt für die emotionellen Schwingungen, die uns von der Erde heben, über die Landschaft in den Himmel hineintragen und uns wieder an die Erde binden. Wie in der Imagination der Knecht Pipe in der Weite des Himmels sich verliert – als umfingen ihn Unendlichkeit und Ewigkeit – zerrinnt der Ton in angedeuteter Lautlosigkeit.

Marguerite Duras Film INDIA SONG ist ein Film über Töne. Laute, Geräusche und Stimmen, Klänge und akustische Tönungen verändern das visuelle Bild. Eine vermoderte Villa in Paris wird zur Botschaft Frankreichs in Indien. Frösche an der Marne werden zu Fröschen am Mekong und am Irrawaddy – ein Spiegel in Paris wird zu einem Spiegel in Lahore, und das Licht in der Ile de France wird zum Monsunlicht, wenn schwarze Wolken nur noch die tief liegenden Lichtstrahlen über die Dinge einfallen lassen, so wie es eben auch in Indien ist, wenn sich täglich die Regenwolken langsam nach unten senken. Erzählte Geschichten, in der Nähe von Paris erzählt, werden, wenn magische Namen – Kalkutta, Lahore, Mandalay – fallen, zu fernen Geschichten. Und diese Stimmung, dieses Ambiente entsteht durch den Ton, der die visuelle Imagination des Films bestimmt.

In WEEK END schafft der Ton zur Spannung zwischen der gleichmässigen Fahrt und Horrorinszenierung dem terroristischen Impetus. Keine Sprache ist hörbar, keine menschlichen Stimmen, auch wenn die Beschimpfungen noch so laut sein mögen. Die Autohupen überdecken jegliche hörbare menschliche Äusserung. Dazwischen leicht verzerrte, atonale Musiktöne und schliesslich die Pfiffe der Polizei, die in der französischen Film- und Tonlandschaft und in der Wirklichkeit etwas ungemein Aggressives haben.

Nach der Tonkaskade, die dem Bild und dem Travelling das Motorische, Vorwärts-Drängende, Bedrohliche verschafft, fährt das schwarze Cabriolet in die Weite der Landschaft, befreit – und fähig zu neuen Taten.

Diese Landschaft, menschenleer, zivilisationsentleert, hatte schon vorher in gleichmässiger Langeweile den Hintergrund zur städtischen Inszenierung auf der Überlandstrasse gebildet. In Yersins Film gehen wir in der Kongruenz von Bild und Ton auf, bei Godard ist diese wiederum plakativ vermittelte Kongruenz gerade das Element, das uns emotionell zerreisst und uns selbst aggressiv, ungeduldig, nervös werden lässt. Cool sind bei Godard nur die Kamera auf ihrer gleichmässigen, gleichmütigen Fahrt und die Tiere.

2. WEEK END, Video, schwarz/weiss zeigen, 7 Minuten

Kamerafahrten, auch wenn sie in der Wahrnehmung eine Verzerrung der optischen Wirklichkeit bedeuten, bilden – neben der Grossaufnahme – jenes filmische Gestaltungsmittel, das uns in einen emotionellen Bann zieht. Was bei den Lumière Filmen ein Gleiten durch den Raum war, um die Dinge besser zu sehen –z. B. die Weltausstellung 1900 in Paris, wurde von 1914 an ein bewusst eingesetztes Gestaltungsmittel.

Im Film CABIRIA von Pastrone (1914), einem der grossen italienischen Monumentalfilme, setzt der Kameramann Segundo de Chomon zum ersten Mal den „Carello“ ein: Einen Kamerawagen, auf dem Kamera und Kameramann gemeinsam plaziert werden. Pastrones leichte Kamerafahrten dienen dazu, die Schauspieler aus der Ornamentik monumentalen Dekors heraus zu schälen, indem der Carello bis zur Grossaufnahme auf sie zuführt. Griffith setzt in INTOLERANCE bei der grossen Babylon-Szene einen Ballon ein, um die Nahaufnahmen aus einer einzigen Bewegung heraus mit der Totalen gigantischer Szenerien zu verbinden. Denn was nützen die teuren Studiobauten – die Wiedererstehung Babylons aus Pappe – wenn dabei die Details versinken.

Karl Freund entwickelt für Murnau im Übergang vom expressionistischen Film zum Kammerspiel die „entfesselte Kamera“, die, wie der Name besagt, den zunächst im Dekor angelegten Expressionismus in die Entfesselung einer Kamera legt. Sie fährt – DER LETZTE MANN (1924) – im Schreckmoment auf ein Gesicht zu, sie tanzt auf dem Bauch Jannings, wenn er betrunken in einen trunkenen Traum versinkt und die Welt sich um ihn dreht.

In VARIETE von Dupont (1925) übernimmt die Kamera bei einer Trapeznummer unter dem Zirkuszelt den subjektiven Blick der Beteiligten, so dass die Zuschauer mit der Kamera durch die Luft geschwenkt werden.

L’Herbier lässt in L'ARGENT (1928) das Travelling eines startenden Flugzeuges über eine Piste hinweg durch die Kuppel der Börse fortsetzen, so dass der Eindruck entsteht, als würde das Flugzeug durch die Börse fliegen.

Am Ende der Stummfilmzeit ist die Kamera beweglich, schwerelos zu allen Bewegungseskapaden bereit. Und dann kommt der Ton, und der Ton zwingt die Kamera zur Statik. Jetzt will man auch hören, was man sieht, und man sieht nur, was eine Kamera, geräuschgeschützt in einem Gehäuse eingeschlossen, zeigt.

Der Übergang vom Stumm- zum Tonfilm und die ersten Tonfilme der Dreissigerjahre sind dadurch gekennzeichnet, dass man trotz den technischen Forderungen des Tons die Lebendigkeit der Kamerabewegung erhalten lassen will.

Aus diesem Willen heraus, die Kamerabewegungsmöglichkeiten trotz den Erfordernissen des Tons nicht zu verlieren, entstehen nach einer Periode von fixen Bildeinstellunge erstaunliche Werke, z. B. APPLAUSE von Rouben Mamoulian.

Im Sinne einer kleinen Vorschau zeige ich Ihnen den Anfang des Films. APPLAUSE setzt wie ein Stummfilm ein, der Ton ist kaum hörbar, und dann werden Kamerabewegungen verschiedenster Art – kleine und grössere Schwenks, Travellings – eingebaut. Der ganze Film lebt von der Handhabung einer Kamera, die sich zu weigern scheint, sich durch den Ton beschneiden zu lassen.

Hinzu kommt, was nicht in unsere Thematik gehört, aber den Film sehr hautnah werden lässt, eine realistische Sichtweise. Manchmal glaubt man, sich in einem Dokumentarfilm am Ende der Zwanzigerjahre zu befinden.

3. APPLAUSE

Als der Tonfilm eingeführt war und nachdem man mit grossem Aufwand versucht hatte, das durch die Erfordernisse des Tons stabilisierte Bild zu überwinden, entsagte der Spielfilm immer mehr der grossen Kamerafahrten.

Als Hollywood Greenhorn verlangt zwar ein Busby Berkeley in den Dreissigerjahren für seine grossangelegten ornamental-choreographischen Revuefilme zum Unbehagen der Techniker riesige Kamerakranen, und es geht die Legende, am liebsten hätte er die Dächer der Studios aufgerissen und wäre mit seiner Kamera in den Himmel hinaufgefahren.

Kamerawagen, Dolly – ein Wagen, der neben dem Travelling auch Verschiebungen des Kameraplateaus nach oben und nach unten und auf die Seiten hin erlaubt, gigantische Kamera-Krananlagen werden zwar immer wieder aktualisiert und von Regisseuren wie Welles, Ophüls, Hitchcock (z. B. in THE ROPE), Bertolucci, Stanley Donen eingesetzt.

Ein eigentlicher Einbruch brachte jedoch erst die für den Dokumentarfilm, für die Reportagen entwickelten Kameras, welche erlaubten, aus der Hand heraus zu filmen. Die Kamera wird auf  die Schulter gelegt und der Kameramann wird zum lebenden Stativ. Mit dem Aufkommen leichter, teilweise auch geräuschloser Kameras (z. B. mit einem Blimp versehen) entstand eine neue Beweglichkeit, wie sie besonders von Kameramännern der Novelle Vague – z. B. Raoul Coutard – übernommen wurden.

Damit wird uns ein weiterer Zusammenhang deutlich. Die  filmische Gestaltung und ihre Machart sind eng mit den technischen Mitteln verbunden, die zur Handhabung einer Kamera zur Verfügung stehen – d. h. von der Industrie entwickelt und von der Produktion eingesetzt werden. Aus dem ergibt sich auch der Zusammenhang zwischen den Kosten eines Films und dem Einsatz entsprechender Gestaltungsmittel.

Zu den Nachkriegsregisseuren, die von Kamerafahrten fasziniert waren und sie immer wieder zu den schwierigsten, szenischen Arrangements einsetzten, gehört Stanley Kubrick. In PATHS OF GLORY (1957) finden sich drei grossangelegte Kamerafahrtsequenzen. Eine zeige ich Ihnen. Eine Gruppe von Elite-Soldaten wird von einem General in eine auswegslose Kampfsituation hineinbefohlen, und als der Angriff, wie voraus zu sehen war, missglückt, werden drei Soldaten exemplarisch wegen Feigheit vor dem Feinde hingerichtet, so dass die Ehre des Generals erhalten bleibt.

Das Ereignis geht auf eine wahre Begebenheit aus dem Jahre 1917 zurück: Der General heisst Foch. Da man grundsätzlich solche Geschichten nicht verfilmt – oder eben nur in Amerika – wurde der Film in Frankreich verboten und die Schweiz schloss sich aus diplomatischen Gründen diesem Verbot für lange Zeit an. Nur der französische Feind von einst aus dem 1. und 2. Weltkrieg, zeigte den Film, nämlich die Bundesrepublik Deutschland.

Ich zeige Ihnen die Sequenz, in der der für die Ausführungen des Angriffs befohlene Leutnant, ungemein intensiv von Kirk Douglas gespielt, wie ein Raubtier durch die Gräben seiner zur Abschlachtung bestimmten Männer eilt, selbst wissend, dass dieser Angriff missglücken muss. In einem Wechsel von subjektivem Blick des Leutnants und Gegenschnitt entsteht eine gewalttätige ausweglose Dynamik.

Aus diesem Travelling entwickelt sich dann eine zweite Kamerafahrt, die mit einem Kamerawagen durchgeführt wird, der der Angriffswelle parallel entlang fährt. Was anfänglich wie eine distanzierte Kamerafahrt anmutete, wird immer mehr in eine subjektive Wahrnehmung der Kamera verändert. Wie die Soldaten im Dreck versinken, sie ihren Angriff nicht mehr weiter  tragen können, wird auch die Kamera immer erdnaher und versinkt in Leblosigkeit. Noch wird eine Weitaufnahme eingeschnitten, gleichsam das Ziel gezeigt, dann fährt die Kamera vom Ziel auf nah zurück, und es gibt kein Weiterkommen mehr. Die Kamera bleibt im Dreck stecken.

Ich wies darauf hin, wie der Ton dir Grundstimmung einer Kamerabewegung in ihrer Aussage bestimmt. Auch bei Stanley Kubrick bildet der Ton akustische Parallelbewegung zur visuellen Bildveränderung

4. PATHS OF GLORY, Video, 5 Minuten.

Wir brachten die Kamerafahrt in Beziehung zum Ton und zu den technischen Innovationen. Ursprünglich stand die Kamera, welche uns ein fahrendes Bild vermittelte, auf einer Gondel, auf dem Plateau eines Trams, auf einer Lokomotive. Während des 1. Weltkrieges wurde für die Kamera ein Kamerawagen entwickelt und der Stummfilm liess die vom Ton unabhängige Kamera an immer neuen Bewegungs-Balletten teilnehmen. Kamerawagen, Dollys, Kranlagen, die durch Studioräume glitten, kennzeichnen Filme teurer Machart.

Der Dokumentarfilm entwickelte für seine Bedürfnisse eine neue bewegliche Kamera, welche zunächst von der Nouvelle Vague übernommen wurde. Es war wiederum Stanley Kubrick, der einen weiteren Weg beschritt: Nämlich die Kamera nicht nur von Wagen und Kranen und Dollys unabhängig machen, wie es die jungen Filmer der späten Fünfzigerjahre versuchten, sie als Fortsetzung des menschlichen Auges an die Beweglichkeit des menschlichen Körpers zu binden, sondern sie vom Körper zu lösen.

So setzte Kubrick in THE SHINING die Steadicam ein: Die Kamera, wohl noch an den menschlichen Körper befestigt, ist von ihm losgelöst. Über einen Monitor verfolgt der Kameramann das Objekt, worauf er seine Kamera richtet, und zugleich kann er verfolgen, worüber seine Füsse möglicherweise stolpern oder stolpern könnten. Der Sehwinkel wird für den Kameramann geweitet.

Ein kleiner Ausschnitt aus THE SHINING soll den Einsatz der Steadicam verdeutlichen. – Übrigens, das Filmpodium zeigt zur Zeit eine Reihe von Filmen, welche die Verfilmung von Stephen Kings dämonischen Romanen zum Thema haben: Die terroristisch vernichtende Welt der Kinder, welche sich gegen die Welt der Erwachsenen wehren – auf ihre Weise. Der Ausschnitt weist uns auch wieder auf die Bestimmungskraft des Tons hin. Die Steadicam folgz dem kleinen Jungen, der mit seinem Fahrrad durch die Gänge rast. Der Wechsel von hartem Boden und weichem Teppich-Geräusch schafft den Impetus angekündigter und drohender Aggression.

5. THE SHINING, Video, 30 Sek.

Nun, wir müssen nicht bis in die amerikanischen Studios vordringen. Wir begannen unsere heutige Vorlesung mit einem grossartigen, einfühlsamen, tonlich ungemein sensiblen Travelling. Ich schliesse die jetzige Stunde mit einer Steadicam-Fahrt aus HÖHENFEUER von Fredi Murer.

Die Schwester sucht ihren Bruder bei der Arbeit auf. Über das Geröll hinweg fährt die Kamera zwischen Steinblöcken, begleitet die Kamera das Mädchen, wendet sich, wird zum subjektiven Blick, geht wieder auf Distanz, um die Begegnung der beiden in einem einzigen Bild zu umfangen. Das Travelling wirkt vollkommen in die Handlung integriert, so dass man sich fragen kann, ob man diese Einstellung auch anders hätte drehen können. Dass sie technisch möglich wurde, ohne Schienen für Kamerawagen, ohne Dolly, ohne einen Kranen, ohne Aufwand, hat als Hintergrund die sinnvolle, richtige Handhabung der Steadicam, die in anderen Filmen zu Bewegungsselbstzwecken missbraucht wird. Die Fahrt wurde von Patrick Lindenmaier technisch realisiert, vom Dokumentarfilmer des Films ANDREAS.

6. HÖHENFEUER, Video, 1 Min

Die Kamera verfolgt Bewegungen auf der Leinwand. Die Kamera setzt sich selbst in Bewegung. Der abstrakte Animationsfilm befasst sich mit der Bewegung auf der Leinwand 1921. Damit wird der abstrakte Animationsfilm als Experimentalfilm zur Selbstdarstellung des Films: Film als Film. 1921 drehte Hans Richter RHYTHMUS 21. Der Film hiess ursprünglich programmatisch „Film ist Rhythmus“.

Mit diesem  Film wollte ich den zweiten Teil des heutigen Abends einleiten. Da der Film von der Cinémathèque nicht eingetroffen ist, respektiv mit einem anderen Film verwechselt wurde, zitiere ich Hans Richter, wie er seinen Film selbst beschreibt:

„Das einfache Rechteck der Leinwand konnte leicht geteilt und untergeteilt, orchestriert werden. ... Ich begann... mehrere Reihen von Papier-Rechtecken und  Papier-Quadraten zu verfilmen in allen Grössen und von dunkelgrau bis weiss. In Rechteck und Quadrat hatte ich eine einfache Form, ein Element, das leicht in seinen Beziehungen zum Rechteck der Filmleinwand kontrolliert werden konnte. So liess ich meine Papier-Rechtecke und -Quadrate in gut artikulierten Zeiten und geplanten Rhythmen wachsen und verschwinden, springen oder gleiten.“

Für Richter wurde die Leinwand selbst Grundlage für die Bewegungsanimation von abstrakten Formen. Film ist Bewegung – Film ist Rhythmus – Film ist Musik – wurde die Grundlage einer ganzen Reihe von konkreten und abstrakten Stummfilmen der Zwanzigerjahre. Mit Quadraten, Recht-Ecken, harten und weichen Formen, mit Schlangenbewegungen, Art Déco-Ornamentik, Linien und Kreisen, Ovalen und Ellipsen versuchten Maler, Zeichner und Filmer wie Hans Richter, Viking Eggeling, Walther Ruttmann und Oskar Fischinger den Bewegungs- und Rhythmus-Gesetzen von abstrakten Formen auf der Leinwand beizukommen. Hinter ihren Experimentalfilmen stand eine teils wissenschaftliche, teils spielerische Lust, in die Musikalität filmischer Bewegungs- und Ornamentik-Abläufen einzusteigen. Das Filmbild wurde zur visuellen Partitur: Es tauchen Titel auf wie FARBENSONATE (3 Takte), DIAGONAL SYMPHONIE (Viking Eggeling), FILMPARTITUR I, FILMPARTITUR II (Werner Gräff).

Am 3. Mai 1925 wurden im UFA-Palast am Kurfürstendamm eine Reihe von abstrakten Filmen gezeigt. Sie hatten alle das gleiche Ziel: Auf der Leinwand Formen zu animieren, um Film in der Spannung von Bewegung und Rhythmik als visuelle Musik erscheinen zu lassen. Wir schauen uns an:

7. - 9. DIAGONAL SYMPHONIE / OPUS III / OPUS IV

37 Jahre später dreht der kanadische Experimentalfilmer Norman McLaren eine ganz einfache Studie: LINES: HORIZONTAL – ein Film über Linien, die sich über die Leinwand bewegen.

10. LINES: HORIZONTAL

Eine Linie teilt das Bild und aus der Linie lösen sich weitere Linien: Und was entsteht auf der Leinwand: Raumgefühl und Körperlichkeit?
Wir gehen wieder einmal von unserer Rezeption aus. Wer erlebte eher, dass durch das Spiel der Linien, die sich berühren, abstossen, sich finden, verschmelzen, sich erneut teilen, über die Leinwand entgleiten, wer erlebte eher, dass durch dieses Spiel der Linien Raum entsteht? Wer erlebte das Gefühl von Körperlichkeit? Oder was sahen Sie in diesen Bildern? – Sahen Sie andere Bilder?

11. LINES: VERTICAL

Der Unterschied zwischen den beiden Filmen? Die Bedeutung der Farbe, die Bedeutung der Musik. Die Körperlichkeit ist ausgeprägter. Eine Säule öffnet sich.

Kehren wir wieder in die Zwanzigerjahre zurück. Zum Kreis abstrakter Künstler und Filmer gehört Oskar Fischinger. Im Gegensatz zu Hans Richter und Walter Ruttmann geht er von Anfang an experimenteller vor, arbeitet mit Wachsmaschinen und nimmt 1929 sofort die Möglichkeiten des Tonfilms auf. Ihm schwebt ein abstrakter Musikfilm vor: Bewegung, Rhythmik und Musik sollen sich zu einer Einheit bilden.

Aus dieser Periode der ersten Tonfilme zeige ich Ihnen STUDIE 5 nach der Jazz-Nummer „I’ve  Never Seen a Smile Like Yours“ von Johnson und Frazier. Die Nummer stammt aus dem amerikanischen Musikfilm THE PERFECT ALIBI.

12. STUDIE 5, 16mm, 3 Minuten,

Man glaubt, Art Deco Tapeten lösen sich ab. Was wir hier vorfinden, ist ein Filmclip. In den folgenden Jahren arbeitet Oskar Fischinger zusammen mit seiner Cousine Elfriede Fischinger, die er auch heiratet und fünf Kinder mit ihr hat, und mit seinem Bruder Hans Fischinger, zunächst in Deutschland, dann in Amerika, immer wieder an den Möglichkeiten eines abstrakten Musikfilms. Die Leinwand wird für ihn, da „Öl auf Leinwand" passé ist, zu einem Gestaltungsfeld, nicht nur von Formen und Farben, sondern auch von Bildtiefen.

Seine Filme wollen Musik in Dreidimensionalität und Körperlichkeit umsetzen. Als Beispiel KOMPOSITION IN BLAU zur Ouvertüre von Nicolais „Die lustigen Weiber von Windsor“.

13. KOMPOSITION IN BLAU 35 mm, 3 Minuten

Zeitlebens, zunächst in Deutschland, dann in der Emigration in Amerika kämpfte Fischinger um die Realisierungsmöglichkeiten seiner abstrakten Musikfilme. Er, der Maler, der nicht mehr malen wollte, weil er glaubte, die Kinoleinwand als eine Leinwand der Farb- und Farb- und Formbewegungen, sei die neue Kunstleinwand, scheiterte immer wieder von neuem. Die Zusammenarbeit mit Walt Disney an FANTASIA (Bach-Sequenz) zerbrach, da Disney die abstrakten Formen zu konkretisieren, zu vermenschlichen versuchte, was Fischinger ablehnte. Orson Welles nahm ihn für einen Film über Louis Armstrong unter Vertrag, aber Welles' Firma "Mercury Production“ ging pleite. Auch versuchte Fischinger abstrakte Musikfilme mit avantgardistischer Musik zu realisieren z. B. mit John Cage; Projekte ohne jegliche Produktionschance. Dabei wurde die Arbeitsstätte Fischingers zu Beginn der Vierzigerjahre Treffpunkt einer neuen Experimentalfilm-Generation. Es verkehrten bei ihm die Gebrüder Whitney, Maya Deren, Kenneth Anger, der Musiker John Cage usw.

Schliesslich wurden die wichtigsten seiner Filme nur noch durch Stiftungen möglich. 1936 drehte er für einen Musikpotpourri-Film THE BIG BROADCAST OF 1937 der Paramounts, zu dem auch W C. Fields, Bob Hope und Kirsten Flagstad engagiert worden waren, einen abstrakten Musikfilm zur Jazznummer des Paramount Hauskomponisten Ralph Rainger, unter dem Titel RADIO DYNAMICS. Da die Paramount den Film in schwarz-weiss herausbringen wollte, verweigerte Fischinger die Zustimmung, was zur Auflösung des Vertrages führte. Erst die finanzielle Unterstützung durch die Solomon-Guggenheim-Stiftung ermöglichte Fischinger die Rechte der Musikstücke der Paramount abzukaufen. Fischinger dreht den Film neu, und der Film kommt 1941 unter dem Titel ALLEGRETTO heraus (Hilla Rebay, die Kuratorin der Stiftung, verlangte die Änderung des Titels. Und so wurde aus RADIO DYNAMICS ALLEGRETTO. Heute wirkt sicher der ursprüngliche Titel dynamischer.)

14. ALLEGRETTO, 16mm, 4 Minuten

Filmografie:

  • LES PETITES FUGUES (CH 1979) R: Yves Yersin, A: Yves Yersin, Claude Muret, K: Robert Alazraki, M: Léon Francioli, P: Film & Vidéo Collectiv/Filmkollektiv/FR3/Les Films 2011/Télévision SSR (Robert Boner), D: Michel Robin (Pipe), Fabienne Barraud (Josiane), Fred Persone (John Duperrex), Dore De Rosa (Luigi)
  • WEEK END (FR/IT 1967) R. Jean-Luc Godard, B: Jean-Luc Godard, K: Raoul Coutard, M: Antoine Duhamel, Wolfgang Amadeus Mozart, P: Films Copernic, Ascot Cineraid, Comaccio, Lira Films (Ralph Baum, Philippe Senné), D: Mireille Darc (Corinne), Jean Yann (Roland), Jean-Pierre Kalfon (Chef der Befreiungsfront), Jean-Pierre Léaud (Saint Just)  
  • APPLAUSE (US 1929) R: Rouben Mamoulian, A: Garrett Fort, nach einer Story von Beth Brown, K: George J. Folsey, M: E. Y. Harburg, Jay Gorney, E. Ray Goetz, Joe Youn u.a., P: Paramount Fa,ous Lasky Corp. (Monta Bell), D: Helen Morgan (Kitty Darling), Joan Peers (April), Fuller Mellis Jr. (Hitch Nelson), Henry Wadsworth (Tony)
  • PATHS OF GLORY (US 1957) R: Stanley Kubrick, A: Stanley Kubrick, Calder Willingham, Jim Thompson, nach dem Roman von Humphrey Cobb, K: George Krause, M: Gerald Fried, P: Harris-Kubrick/Byrna Productions Ltd. (James E. Harris), D: Kirk Douglas (Colonel Dax), Adolphe Menjou (General Broulard), Ralph Meeker (Coporal Paris), George Macready (General Mireau), Timothy Carey (Ferol), Wayne Morris (Roget), Richard Anderson (Saint-Auban)
  • THE SHINING (GB 1970) R: Stanley Kubrick, A: Stanley Kubrick, Diane Johnson, nach dem Roman von Stephen King, K: John Alcott, M: Wendy Carlos, Rachel Elkind, György Ligeti, Krzysztof Penderecki, Bela Bartok, P: Stanley Kubrick/The Producers Circle Co., D: Jack Nicholson (Jack Torrance), Shelley Duvall (Wendy Torrance), Danny Lloyd (Danny)
  • HÖHENFEUER (CH 1985) R: Fredi M. Murer, A: Fredi M. Murer, K: Pio Corradi, M: Mario Beretta, P: Bernhard Lang AG, D: Thomas Nock (Bueb), Johanna Lier (Belli), Dorothea Moritz (Mutter), Rolf Illig (Vater)
  • DIAGONAL-SYMPHONIE (DE 1925) R: Viking Eggeling, P: UFA
  • OPUS III (DE 1924) R: Walter Ruttmann
  • OPUS IV (DE 1925) R: Walter Ruttmann
  • LINES: HORIZONTAL (KA 1961) R: Norman McLaren, Evelyn Lambart, M: Pete Seeger
  • LINES: VERTICAL (KA 1962) R: Norman McLaren, Evelyn Lambart, M: Maurice Blackburn
  • STUDIE 5 (DE 1928) R: Oskar Fischinger, M: Jazz-Nummer "I've Never Seen a Smile Like Yours" von Johnson + Frazier
  • KOMPOSITION IN BLAU (DE 1933) R: Oskar Fischinger, M: Ouvertüre zu "Die lustigen Weiber von Windsor" von Otto Nicolai
  • ALLEGRETTO (US 1936-41) R: Oskar Fischinger, M: Ralph Rainger

[Red.: TC/Stand: 17.6.14]

Weiterführende Informationen

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