Ästhetik und Gestaltung
Vorlesung 4
Wir sprachen das letzte Mal von Spiegeln und Spiegelungen und stellten fest: Über Spiegel erweitert sich der Raum, wird Stimmung und Umwelt erahnbar, selbst was im Rücken der Kamera sich abspielt, wird als ausgesparter Vordergrund zum Hintergrund der Szene. Der Spiegel als Kadrage in der Kadrage lässt das Spiegelbild einen Bildteil innerer Montage im Bild werden. Der Spiegelrand, der die Nah- oder Grossaufnahme in die Totale setzt, wird zur Schnittstelle. Bei Ophüls' MADAME DE … verfolgten wir, wie über die an Spiegeln und Bildern vorbeigleitende Kamera eine schnittlose Montage von Einstellungen entsteht. Spiegel können aber auch als Dekor Teil der Handlung werden, zum Beispiel wenn Orson Welles in THE LADY FROM SHANGHAI in einer der grandiosesten Sequenzen der Filmgeschichte den Schlusskampf in ein Spiegelkabinett verlegt. Wirklichkeit und Spiegelung lassen sich nicht mehr trennen. Nur der tödliche Schuss legt die Linie bloss, die den Spiegel von der Wirklichkeit unterscheidet. Damit wird der Spiegel gleichsam eine handelnde Person, die das Geschehen mitbestimmt.
1. THE LADY FROM SHANGHAI (2 Minuten)
Als weitere Ergänzung zu unseren Gedanken vom letzten Mal zeige ich Ihnen eine der brillantesten Spiegeleinstellungen. Sie stammt von Hitchcock. In STRANGERS ON A TRAIN von 1951 filmt Hitchcock den Mord an einem Mädchen im Brillenglas, das zum Spiegel wird. Die Brille steht als Detailaufnahme für das Auge. Doch hinter der Brille ist kein Auge mehr. Dafür sieht der Zuschauer in der Grossaufnahme des Brillenglases den Mord in Totale, als wie wenn er das Auge wäre, das hinter der Brille sein müsste. Gleichsam der subjektive Blick der Brille, deren Augen verloren gegangen sind, da die Brille herrenlos geworden ist. Ich zeige Ihnen die Szene in zwei Fassungen. Zuerst in einer Kopie, deren Qualität schlecht ist, aber in der die Spiegelung vollständig zu sehen ist. Sie stammt von einer Sendung des österreichischen Fernsehens von 1983.
2. STRANGERS ON A TRAIN (ORF 2, ausgestrahlt 1983, 1 Minute)
Und nun noch einmal die gleiche Szene, wie sie über das deutschschweizerische Fernsehen gesendet wurde. Die Kopie ist sehr gut. Es finden sich Einstellungen, welche in der österreichischen Fassung fehlen, dafür ist die Spiegelung gekürzt. Sie können sich aus beiden Kopien die wohl vollständige Szene montieren.
3. STRANGERS ON A TRAIN (SF DRS, ausgestrahlt 1985)
Spiegel sind oft Spiegelungen einer nur erahnten Gesellschaft, konnten wir bei Ophüls feststellen. Zensurierte Spiegelungen, drängt sich als Bemerkung auf. Wir sagten auch, dass Spiegel auf der Leinwand wie Grossaufnahmen wirken, auch wenn sich in ihr Totale spiegeln. Das ist wohl auch der Grund, weshalb die Hitchcock-Szene gekürzt wurde. Daraus ersehen Sie, dass die Zensur, von wem sie auch immer stammt, eigentlich recht viel von Filmästhetik und ihrer Wirkung, die auf der Machart beruht, versteht.
Am Ende der letzten Vorlesung schauten wir uns den Trailer Godards zu seinem neusten Film SOIGNE TA DROITE an. In der Art eines Videoclips schneidet Godard seine Bildtrümmer zu einem Montageschutt. Gestaltung wird das Instrument zum Gebrauch von Bildern und Tönen. Was im Wahlhilfe-Clip Mitterands noch Mittel war, aus Signalbildern der Geschichte, die – kaum wahrnehmbar und unterschwellig – eine Bewusstseinsideologie vermittelten, das Porträt – das Image – Mitterands erstehen zu lassen, wird bei Godard filmhandwerklicher Kunstgriff, die Entfremdung des Menschen inmitten alltäglicher und medialer Konsumption zu vergegenwärtigen.
Ich hätte auch noch zugleich alle Verkehrszeichen an die Wände hier projizieren können, alle Verbotstafeln, alle Zeichen, die heute als internationale Verständigungssprache der Bahnhöfe und Flughäfen Menschen leiten, herumführen, bis man irgendwo im "In" ist oder im "Out" landet.
Bilder als Verbrauchsware täglicher Abwirtschaftung der Visualität werden von Godard so montiert, dass momentane Reize angesprochen werden, doch kaum angesprochen, tauchen sie im Überfluss und Abfluss optischer Eindrücke weg. Godards vom Reklamefilm und den Videoclips abgeleitete Machart, sich den Bildern zu bedienen, ihnen jedoch nicht zu trauen, entspricht aus anderer Sicht gängiger Fernsehmontage. Aus Angst vor Langweile werden die Bilder in ihrer zeitlichen Dauer so verkürzt, dass man nicht einmal hinschauen muss, da die Bilder uns nicht mehr Zeit lassen, sie anzuschauen. Die Fernseh-Gewohnheitsästhetik beruht auf einem Schnittmuster, das nur noch Schnitte kennt und keine Bilder mehr.
Dass Fernsehsprecher, Fernseh-Ansager und Fernseh-Ansagerinnen sich einer gewissen Beliebtheit, ja sogar sich eines stillen und manchmal auch offenkundigen Startums erfreuen, hängt vielleicht auch damit zusammen, dass der Zuschauer in aller Ruhe sich eine Nahaufnahme anschauen kann. Filmerotik hat nicht nur mit der Ausstrahlung des Gesichtes zu tun, sondern auch mit der Möglichkeit, in aller Musse sich dieser Ausstrahlung aussetzen zu dürfen.
Was ich als Montageschutt und Bildertrümmer bezeichnet habe – heutiger Ausdruck von Clips, Publizität und Fernsehinformations-Mentalität – ist im Grunde nichts anderes, wenn wir vom Zuschauer ausgehen, als die missbrauchte Sinnlichkeit des Auges.
Sie mögen einwenden, dass der erste Film, den wir uns hier anschauten, McLarens BLINKITY BLANK – dass unzählige Avantgardefilme, russische Revolutionsfilme der Stummfilmzeit sich der visuellen und akustischen Bildvermarktung bedienen. Dies ist richtig. Was jedoch diese Filme von der Handhabung der Bilderinflation unterscheidet, ist, dass ihre Macher nicht aus Angst vor Langweile, aus Angst, den Zuschauer zu verlieren, mit dem Filmmaterial pointillistisch umgehen, sondern weil diese Machart selbst thematisiert zur Aussage wird.
Ich zeige Ihnen im folgenden ein Musik-Videoclip-Beispiel, das sehr ambivalent beide Aspekte einbezieht: Handhabung der Bilderinflation und zugleich über die Handhabung der Bilderinflation die Gewinnung einer filmischen Intensität.
Bilder von Raumfahrt, Mondlandung und Allusion an Science-Fiction Filme, an Stanley Kubricks 2001: A SPACE ODYSSEY, an Videospiele und Computerprogramme und Schaltmechanismen werden, wie aus dem Mülleimer gezogen, zu einer Musik montiert. Zugleich aber erhalten die Bilder aus der Montagestruktur heraus in der Verbindung zur Musik eine unmittelbare filmische Eindringlichkeit.
Geläufige, hinlängst bekannte Bilder – die Spinne auf dem Mond, die Grossaufnahme der Astronauten, die Wettersatellit-Aufnahme, das "Ballet-Mécanique"-artige technischer Bewegungsabläufe – werden über die Rasanz der Montage zu einer neuen Wirklichkeitsszenerie, in der sich Dokumentarfilm-Bilder wie Science-Fiction ausmachen und Science-Fiction-Spiele und Bilder dokumentarisch werden.
Zugleich
wirkt der Clip wie eine Selbstdarstellung einer Montage von Bildtrümmern. Die
Schnipsel werden – man fühlt sich an Godards Trailer zu SOIGNE TA DROITE erinnert – Eigenmaterial zur Darstellung
filmischer Machart. Zum Beispiel wie Bewegungsabläufe ineinander verschachtelt, wie
Gross- und Detailaufnahmen mit Weitaufnahmen konfrontiert werden, wodurch
jegliche Fixierung im Raum aufgegeben und der Standort des Rezipienten
ebenfalls in einen schwerelosen Zustand gebracht wird. Denn jegliche
Sehperspektive erscheint verschoben.
Was wir als filmische Fastfood-Montage ausmachen – ein Filmbild-Hamburger von
Abfall-Fleisch – lässt sich in der Montage des Musikstücks wiederfinden. Denn
es handelt sich um den Videoclip "Pump up
the Volume" der englischen Gruppe M/A/R/R/S.
Den Bildtrümmern entsprechen Tontrümmer des Musikstückes.
Denn die Gruppe M/A/R/R/S wurde berühmt und berüchtigt, weil sie aus unzähligen Tönen, Passagen, Motiven, Stimmen und Schreie sampelte. Sampeln heisst zitieren, heisst aber auch in der Praxis aus musikalischem Fremdgut Musik-Partikel stehlen und klauen, aus dem ursprünglichen musikalischen Zusammenhang reissen, die Musikpartikel als Stückware verwenden, digital speichern, auf Zahlen reduziert verarbeiten und verändern über Wiederholung, Zerstückelungen, Verfärben – das heisst: die Musikpartikel einem elektronischen Prozess unterziehen und dann als Collage gebrauchter, verbrauchter, benutzter und abgenutzter Platten in einem neuen Produkt vermaterialisieren. – Fast Food, zur Abnützung freigeben.
Grundlage ist, was sich "sampeln" nennt – "to sample". Ein Warenmuster ist ein "sample" – nämlich das Warenmuster als Zitat eines Produktes. Eine Einzelkirsche zitiert die Gesamtheit der Kirschen – ein Ton aus einer Motivkette, aus einer Melodie ist ein "Sample". Ihn gilt es digital zu verarbeiten und als Neugeburt in die Konsumption zu entlassen. Diese Verarbeitung von abgenutzten Musikteilen zur Montage erregte Aufsehen und trug der Gruppe Copyright-Prozesse ein. Als das Stück ein Hit wurde, wollten sich alle jene am Erfolg beteiligen, die "gesampelt" – zitiert – das Basismaterial geliefert hatten.
Heute ist die "Collage-Kultur" bereits musikalischer Alltag und steht letztlich für den permanenten Akt der Abnützung – ist Selbstdarstellung einer Verbrauchsgestaltung, die jegliche Ästhetik dem Verschleiss jeweiliger Trends und Moden übergibt. In kürzester Zeit wird ein anderer ästhetischer Abnützungskrieg der Macharten einsetzen. Das heisst aber nicht, dass die Erscheinung nicht auch Spass macht. In dem Sinne möchte ich meine Bemerkung nicht als Kulturpessimismus verstanden wissen. Vielleicht werden in zehn Jahren Videoclips wie Filme von Marguerite Duras gedreht: ein einsamer, langsamer, nicht enden wollender Schwenk, schnittlos, Collagelos – wieso nicht.
Abnützungsgestaltung und Trend-Machart werden im Sinne modischer Zyklen auch weiterhin einbringen, was verspricht, neu, unerwartet, einmalig, noch nie dagewesen zu sein – auch wenn es alter Schnee ist: Das Perpetuum Mobile der Zitate, nur möglich, weil nur wenige die Originale der Zitate kennen, wobei selbst die Originale, an die man sich wohlgefällig und elitär erinnert, bereits Zitate sein können. McBride zitiert in BREATHLESS Godards À BOUT DE SOUFFLE, doch wer kennt noch Carnés LE QUAI DE BRUMES, den Godard persifliert? John Landis zitiert in "Thriller" sich selbst, doch wer kennt noch AN AMERICAN WEREWOLF IN LONDON, ganz zu schweigen von Borowczyks Film LA BÊTE, der aus ZensurgGründen in Zürich nur einmal um Mitternacht im Kino Commercio lief?
Ich sagte: kein Kulturpessimismus. Deshalb überlassen wir uns dem Spass von Bild- und Tontrümmern, von Montage-Schutt und gesampelten Ton-Collagen. Im Grunde ist es der gleiche Prozess, wie wenn wir am Fernsehen mit Fernschaltung "Zapping" spielen und über die Tastatur unseren eigenen Film montieren. Auch dies kann durchaus ein kreatives Vergnügen sein, das sich anschliessend über das Video-Band ablesen lässt.
4. M/A/R/R/S "Pump up the Volume"
Bilder von Raumfahrern, die, wie aus- und weggespickt, durch den kleinen Raum geschleudert werden, Bilder ihrer Gesichter, in Gross- bis fast Detailaufnahmen, Bilder von Modellen, die als Visionen zur Eroberung des grossen Raumes gedacht sind, Bilder in Nah von der Spinne auf dem Mond, so dass – die Grössenverhältnisse in Frage gestellt – nicht mehr klar ist: Haben wir es mit einem Spielzeug oder der realen Dokumentation auf dem Mond zu tun? Bilder vom Fernsehschirm, welche uns das All vermitteln: Weitaufnahmen gigantischer Weite und zugleich in Gross, am Bildrand angeschnitten, der Blick auf die Erde, über die sich die Wolkenaugen rasant hinwegdrehen.
Die
Kamera führt uns im Detail an die Dinge hin. Das Immens-Kleine erscheint gross
auf der Leinwand, ebenso das Immens-Weite und Unendliche wird optisch nah und
gross, detailhaft gar fassbar. Das Auge des Raumfahrers in Detail und die Erde
vom Wettersatelliten aufgenommen, erscheinen, um ihre Dimensionen gebracht,
bildlich gleichwertig auf der Leinwand oder auf dem Fernsehschirm.
Die Fotokamera und die Filmkamera stossen in ihrem unerbittlichen Drang zur
Wahrnehmung wie Jagdflieger auf die kleine und die grosse Welt. Die Wahrnehmung
wird zu einem aggressiven Akt. Nicht umsonst hiessen die ersten Kameras "Flinten".
Es galt, Bilder zu schiessen, Bewegungsabläufe immer enger zu schiessen, die
einzelnen Bewegungsphasen immer lückenloser aneinander zu reihen, um
schliesslich nicht mehr nur die Abfolge der einzelnen als Dokumentation von
Bewegungsabläufen zu betrachten, sondern sie über eine kontinuierliche
Projektion zum Leben zu erwecken. Die hart aufeinander geschossenen Bilder
erzeugen die Illusion der Wiedergabe von Bewegung. Das ursprüngliche Einzelbild
– 24-mal in der Sekunde leicht abgewandelt – schafft die Vorstellung von lebenden
Bildern. Nicht umsonst kam der Topos der Zeitbestimmung auf: Als die Bilder
laufen lernten.
Aus dieser historischen Perspektive erhalten auch die Bildertrümmer der Clips eine neue Bedeutung. Denn als eine in wechselnde Teile zerlegte Eskalation von "Facts", Bewegung, Figuren, Gesichtern, wechselnden Kleidern, Farben und Momenten der Rezeption entsteht nichts anderes als das Maschinengewehrfeuer einer Wahrnehmung geschossener Bilder, wobei der Standort des Kameramannes ebenso rasch, zynisch, ohne inneren Grund wechselt, wie die Perspektive der Sehweise und damit der Wechsel der Bilder.
Ich schaue den Raumfahrer an. Schnitt: Ich sehe vom Wettersatelliten die Erde mit den schleudernden Wolkengebilden. Paul Virilio zitiert in seinem provokanten Buch "Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung" Nam June Paik: "Film ist nicht, ich sehe, Film ist, ich fliege."
Für Paul Virilio ist es der aggressive Sturzflug des Jagdfliegers, für den Kamera und Maschinengewehr austauschbar geworden sind. Der filmische Ort, ob fiktiv oder dokumentarisch, ob Studio oder Wirklichkeit, ist zum Schlachtfeld geworden, so wie das Schlachtfeld zum filmischen Ort geworden ist.
Indem Paul Virilio die technologische Entwicklung der Kriegswaffen und der Fotografie in ihrer Gleichzeitigkeit und in ihrer gegenseitigen Durchdringung und Beeinflussung untersucht, geht er seiner Wahrnehmung nach, welche die Aggression der Kamera zur Voraussetzung hat. Bilder schiessen und zugleich angeschossen werden – wahrnehmen und zugleich wahrgenommen werden – dazu gehört auch die militärische Devise der Artillerie „"Was beleuchtet ist, ist entdeckt". Leuchtraketen erhellen das Schlachtfeld, Scheinwerfer tasten den Himmel ab – zu einer Zeit, da man die Filme noch im Sonnenlicht drehte, doch bald wird die Filmindustrie den technischen Anschluss finden und auf dem Signet der "Twentieth Century Fox" – der Fox des 20. Jahrhundert – werden Scheinwerfer die Leinwand mit raschen Bewegungen strukturieren – gleichsam über den Leinwandhimmel abtasten. Bilder schiessen und zugleich angeschossen werden – wahrnehmen und zugleich wahrgenommen zu werden –, Apollinaire beschreibt es 1915, wenn er die feindlichen Geschosse wahrnimmt: "„Es regnet … aber es regnet tote Augen" und zugleich in "Tendre comme le souvenir" die Beobachtung der Flugbahn der Geschosse beschreibt als "Mon désir est là sur quoi je tire" – worauf ich ziele, liegt meine Lust.
Visuelle Wahrnehmung als Aggression, als Vergewaltigungsform. Schon Dsiga Wertow sprach zu Beginn der Zwanzigerjahre vom "Bewaffneten Auge" – dann, wenn das menschliche Auge eine aufzeichnende Wahrnehmungsmaschine vorgefunden hat. Wir werden uns diesem Aspekt noch einmal zuwenden, wenn wir uns mit der Grossaufnahme und dem Blick – dem menschlichen Blick und dem Blick der Kamera – beschäftigen werden.
Vorerst
noch eine historische Wahrnehmungskette: Als Gatling, der später folgerichtig
Oberst wurde, 1861 die Schaufelräder eines Raddampfers sah, kam er auf die
Idee, ein Maschinengewehr mit zylindrischem Magazin und Kurbelantrieb zu
entwickeln. Eine assoziative Wahrnehmung, die sich im Film wie eine
Überblendung gestalten liesse.
1832 war bereits der Trommelrevolver patentiert worden. Nach seinem Vorbild –
also schiessen, ohne nachladen zu müssen – entwickelte der Franzose Jules
Janssen seinen "astronomischen Revolver". Diese fotografische Waffe
erlaubte Jules Janssen bereits Reihen-Aufnahmen. Der nächste Schritt musste
sein, ob es gelingen würde, ein sich bewegendes Objekt anzuvisieren und
aufzunehmen. Dies gelang dann Jules Marey mit der "fotografischen Flinte".
Auf einer Filmaufnahme der Gebrüder Lumière von einem Fotografen-Kongress im Jahre 1896 sieht man Jules Marey mit einer länglichen in Tuch eingehüllten Flinte über einen Steg kommen: Gleichsam die Antizipation eines Bildes aus einem amerikanischen Gangsterfilm der beginnenden Dreissigerjahre. Auch Hitchcock steht manchmal mit einem Geigenkasten herum.
Bildtrümmer, Montageschutt, Kamera und Maschinengewehr und die Lehrveranstaltung heisst: "Film: Ästhetik und Gestaltung". In der ersten Vorlesung formulierte ich, dass ich die Spannung zwischen Filmästhetik und Gestaltung als einen Prozess des Werdens verstehe. Dass wir zu den Trümmern, zum inflatorischen Umgang mit den Bildern und den Tönen gelangten, weil nur noch die Machart übrig blieb, ist sie als eine Standort-Bezeichnung zu verstehen. Auf diesem Hintergrund wenden wir uns nun der Gestaltung zu, um aus der Spannung zwischen Filmästhetik und ihrem Umgang mit der Machart die filmische Erscheinung zu analysieren.
Im Sinne einer Klärung gehe ich zunächst von einfachen Begriffen und Sachbezeichnungen aus, um schrittweise an die filmästhetischen Erscheinungsformen heranzukommen. Wir werden feststellen, dass wir nicht einfach in einem abstrakten theoretischen Raum verharren können – dass wir schliesslich nicht darum herumkommen, uns mit unserer Wahrnehmung ebenfalls auseinanderzusetzen.
Ich brauchte schon mehrmals den Begriff "Einstellung". Es handelt sich zunächst einmal um einen filmästhetischen technischen Begriff. Während der Filmaufnahmen – also dem Arbeitsprozess – umfasst der Begriff die Drehdauer der einzelnen Aufnahmen – also von der Klappe, "187", "die Fünfte", bis zum Ende der Aufnahme, bis die Aufnahme schliesslich gestorben ist.
Am fertigen Filmprodukt bezeichnet man die Filmdauer zwischen zwei Schnittstellen als Einstellung. Diese Bezeichnung wird jedoch hinfällig, wenn bei einem Film wegen Mehrfachbelichtungen die Schnittstellen nicht mehr auszumachen sind. Dieser Hinweis zeigt bereits auf, wie im Rahmen filmästhetischer Begriffsbestimmungen Gültigkeiten sehr rasch in Frage gestellt werden, wie zum Beispiel: die Einstellung sei die kleinste Einheit filmischer Sprache.
Demonstration im Raum:
Als
Drehdauer: Kamerafahrt über Studenten hin, Kamera auf den Dozenten gerichtet.
Ich will zum Beispiel aufzeigen, dass in der Vorlesung nur Männer sitzen, also schneide
ich folgendermassen: Kamerafahrt / Schnitt / Kamerafahrt / Gegenschnitt Dozent
Dabei habe ich bereits, was im Arbeitsprozess zwei Einstellungen ausmachte, am
Schneidetisch auf drei Einstellungen erweitert.
Wir sprachen von Einstellungen – und unverhofft sind wir bereits bei der Selektion angelangt. Und was haben wir gemacht? Die hier im Raum bestehende Situation verändert. Über die Montage die Wahrheit, die wir haben wollen, mit Hilfe der einzelnen Einstellungen so zu gestalten, denn über die Machart (die Montage) entsteht die Illusion dieser Wahrheit. Wir bleiben vorläufig beim Begriff "Einstellung". Wir schauen uns zwei Einstellungen an: Der Film heisst EKSPOUDZ [?], das heisst: BELICHTET.
5. EKSPOUDZ (6 Minuten)
Zwei Einstellungen: In einem Fall zeichnet die Kamera am Stauffacherplatz dokumentarisch den Verkehrsablauf auf und wir beobachten ein nicht inszeniertes Wirklichkeitsgeschehen. Im anderen Fall setzt sich Tina Engel, die damals am Neumarkttheater tätig war, vor die Kamera und spielt: Eine Frau setzt sich vor eine Kamera und sieht uns an, respektive wir beobachten, wie sie uns anschaut. Eine Schauspielerin schaut uns an. Das heisst: Die Situation ist inszeniert und gespielt.
Was wir hier vorfinden ist eine filmgeschichtliche Grundsituation. Méliès inszenierte vor der Kamera ein Geschehen – "Mise-en-scène" – und Lumière zeichnete auf, was er in Wirklichkeit vorfand. Was dem Einen eine Reise zum Mond, zum Nordpol oder durch das Unendliche und andere Phantasmagorien des Zaubers- und Illusionstheater waren, bildeten für den Anderen einfahrende Eisenbahnzüge, Viehherden an der Expo, Artillerieschiessen – Sujets für Beobachtungen.
Fiktion und Dokumentarfilm: Für Lumière waren jedoch auch die Fiktionen Dokumentaraufnahmen, denn sie stellten vor der Kamera auch eine Wirklichkeit dar. Zwei Einstellungen legen grundsätzlich die Situation der Aufnahme innerhalb einer Einstellung dar. Inszenierung vor der Kamera oder Beobachtung mit Hilfe der Kamera. – Beide Einstellungen bestimmen jedoch auch die Position des Zuschauers, der eine Inszenierung wahrnimmt und dabei auch zum Beobachter wird – zum Beispiel: Was geschieht auf dem Gesicht Tina Engels? – , im anderen Fall beobachtet der Zuschauer den Ausschnitt eines Stücks Wirklichkeit.
Kehren wir zum Beispiel EKSPOUDZ zurück. Die beiden Einstellungen lassen sich für unsere Auseinandersetzung noch anders verwenden. Die beiden Einstellungen sind ungefähr gleich lang. Wir stellten fest, die Machart legt die Bedeutung fest, die sich am Inhalt fixiert. In unserem Fall spielt die zeitliche Dauer der beiden Einstellungen sowohl für das formale Erleben als auch im Hinblick auf das Erfassen des Inhalts eine entscheidende Rolle. Die Filmdauer webt an der Bedeutung der Aussage mit. Deshalb stelle ich wieder einmal unsere eigene Rezeptionserfahrung zur Diskussion.
Wer
erlebte die erste Einstellung – die Beobachtung der Strassenkreuzung am
Stauffacher – als zeitliche Erfahrung länger? Wer erlebte die Beobachtung des
Gesichtes Tina Engels als Zeitdauer-Erfahrung länger? Also:
Wer erlebte die erste Einstellung länger und die zweite kürzer?
Wer die zweite Einstellung länger und die erste Einstellung kürzer?
Wer beide gleich lang? – Wer kann sich keine Meinung bilden?
Wer würde versuchen zu formulieren, weshalb auf ihn die erste Einstellung
länger wirkte? Wer würde versuchen zu formulieren, weshalb für ihn die zweite Einstellung länger
wirkte?
Ich persönlich erlebe die zeitliche Dauer immer ausgeprägter. Die Einstellung auf Tina Engels wirkt auf mich kürzer, da ich mit meinen Augen ihr Gesicht abtaste, gleichsam aktiv werde, und die Stauffacherplatz-Beobachtung länger, da ich die vielen Aktivitäten – Action – als Addition von Information erlebe.
Ich kann mir vorstellen, dass die zweite Einstellung länger wirken kann, weil der Zuschauer aus der Identität heraus mit der Frau die unendliche Zeitdauer vor der Kamera mitzuleiden beginnt.
Und die erste Einstellung kann erzählerische Spannung auslösen, so dass die subjektive Zeit schneller verstreicht. Das heisst aber auch, dass die Beobachtung als Zuwendung und Beobachtung reichhaltiger Informationen ganz konträr erlebt wird. Die Beobachtung des Gesichtes kann zur Qual werden oder zu einer zeitverkürzenden Spannung werden, umgekehrt kann die Beobachtung wegen des Reichtums der Informationen Aktion – Spannung – erzeugen oder Informationsaddition, die die subjektive Zeiterfahrung verlängert.
Dies zeigt auf, dass die subjektive Erfahrung einer Form – die zeitliche Dauer einer Einstellung – durchaus verschieden sein kann. Dies heisst natürlich auch, dass die gleiche formale Machart die Rezeption eines visuellen Inhalts individuell sehr unterschiedlich bestimmen kann.
Wie jeder Film zeigt auch dieser nicht die Realität, er zeigt nur eine Wirklichkeit, die des Bildausschnittes. Diese stellt dar, was während der Aufnahme – die in unserem Fall auf eine Einstellung sich reduziert – zufällig geschieht oder sie demonstriert, was vor der Kamera gespielt, in Szene gesetzt wird: Die beiden Möglichkeiten, Filmmaterial zu belichten, wenn wir von laborabhängigen Versuchen und der Materialverarbeitung absehen.
Nur eines bleibt bei Aufnahme und Wiedergabe genau gleich: Die verstreichende Zeit, auch wenn sie beim Filmbetrachten individuell verschieden erlebt wird. (Vorausgesetzt die Projektionsgeschwindigkeit entspreche der der Aufnahme.)
Die
Wirklichkeit der Einstellung steht zur Diskussion – unabhängig davon, ob es sich um eine dokumentarisch wiedergegebene Wirklichkeit handelt oder um eine
inszenierte, ins Bild gesetzte Wirklichkeit. Entscheidend
wird, was der Realisator mit dieser Wirklichkeit macht, wie er mit ihr umgeht. Somit
wird die Einstellung als Kadrage mit der Einstellung als Sichtweise des
Realisators verbunden. Der Ausschnitt ist soweit nicht nur in filmischer
Terminologie zu definieren, sondern ebenso sehr auch als
kreativer Akt des Realisators zur Wirklichkeit hin und zugleich zur
Bildgestaltung hin.
Die Sichtweise äussert sich darin, wie der Autor die Kadrage setzt, die Beschneidung zur Umwelt hin: Was er zeigt, aber auch was er
nicht zeigt – willentlich, wissentlich oder weil es keinen guten und schönen
Ausschnitt gäbe. Wie und wohin und woher er schwenkt, welche Verbindungen er
mit der Kamera herstellt und welche Verbindungen er unterlässt, so dass die
Beziehungen innerhalb eines Bildes nicht sichtbar werden.
Denn "Einstellung" ist nicht nur ein filmtheoretischer, technischer Begriff, sondern zugleich auch die Darstellung einer Haltung, die Darstellung einer visuellen und akustischen Sicht- und Hörweise: Was mache ich als Filmautor, als Kameramann, als Tonmeister innerhalb dieser Einstellung? Wie kadriere ich, wie schwenke ich, wie fahre ich mit der Kamera und dem Tongalgen, worauf lasse ich mich ein? Wie schaue ich auf welche Weise mit dem bewaffneten Auge etwas an?
Was ich innerhalb der Klappen, innerhalb der Schnitte, der Zäsuren, mit der Kamera mache, ist eine Frage nach meiner Einstellung: Wie ich mich zu etwas stelle – worauf ich mich einstelle innerhalb einer Einstellung.
Ausschnitt ist somit nicht nur als ein Begriff der filmischen Terminologie zu definieren, sondern – wenn wir von der Gestaltung ausgehen – auch als kreativer Akt des Realisators zur Wirklichkeit und zur Umsetzung des Sicht- und Hörbaren in die Einheit einer Einstellung hin.
Je nachdem, wie eine Filmeinstellung gehandhabt wird, dokumentiert der Arbeitsprozess die Sichtweise – die Perspektive des Sehens – eines Autors. So äussert sich die Sichtweise eines Autors darin, wie er die Kadrage – den Ausschnitt – setzt. Das heisst auch: Wie beschneidet er die Welt. Was zeigt er, aber auch, was zeigt er nicht willentlich, wissentlich, zufällig. Auf welche Weise und woher und wohin schwenkt er, stellt er mit der Kamera Verbindungen her. Welche Verbindungen unterlässt er, so dass die Beziehungen innerhalb eines Bildes sichtbar werden.
Ausschnitt heisst, aus einer Umwelt nur das herausschneiden, herausritzen, was anschliessend auf der Leinwand sichtbar wird. Ausschnitt heisst eine Grenze zu all dem setzen, was auf der Leinwand nicht sichtbar ist. Auch der Ton schneidet aus, je nachdem, wie sich das Mikrofon ausrichtet, akustisch mithört, mitsieht oder je nachdem, welche Töne zum Bilde beigemischt werden. Kadrage hat somit einmal mit Selektion der sichtbaren und hörbaren Umwelt zu tun. Dann erst wird erfahrbar, was innerhalb – ob Inszenierung oder dokumentarische Vergegenwärtigung – sich abspielt.
Dazu gehören zum Beispiel das Licht: Wirkt es plastisch, flach, hart, weich, poetisch, knallig poppig, dunkel, düster, als Schwarz-Weiss-Kontrast, bunt, geräumig, strukturiert es Tiefen, ist es plakativ ohne Perspektive, ohne Raumgefühl oder von plastischer Sinnlichkeit oder weicher Modulierung?
Ich gehe vom Autor aus, vom Realisator, vom Kameramann, vom Tonmeister, von all jenen, die in der Realität der Filmleinwand mitgestalten oder im dokumentarischen Bereich mitbeobachten und somit auch mitbestimmen, was tatsächlich am Rahmen des Kameraausschnittes und am Rahmen der Leinwand seine Grenzen finden wird, sowohl nach innen – was ist anwesend? – als auch nach aussen: Was hat innerhalb des Rahmens keinen Platz mehr gefunden?
Ausgeklammert bleibt vorerst einmal, was mit uns, dem Zuschauer, geschieht. Denn der Filmgestaltung steht die Wahrnehmung gegenüber und entgegen. In diesem Zusammenhang müssen wir ein paar Überlegungen einbeziehen. Wir haben zu unterscheiden zwischen der Einstellungssituation, welche dem Drehprozess entspricht und der Projektionssituation, welche auf der Konstanten einer Projektion beruht.
Kamera und Projektor sind im Grunde die gleichen Apparate. Im einen Fall findet über eine Linse eine Belichtung des Filmmaterials statt, das hinter der Linse von einem unbelichteten Zustand in einen belichteten Zustand hindurchgezogen wird – ursprünglich mit Hilfe einer Kurbel, welche über die Hand des Kameramanns in einer bestimmten Geschwindigkeit gehalten wurde. Und je nach Veränderung der Kurbelgeschwindigkeit bewegten sich die Bilder und die Personen im Bild langsamer oder schneller. Beim Projektor wird unter der Voraussetzung einer gleichbleibenden genormten Geschwindigkeit – beim Tonfilm sind es 25 Bilder in der Sekunde, beim Stummfilm variierte die Geschwindigkeit zwischen 18 und 24 Bildern – wiederum hinter der Linse das zu einem Positiv-Bild entwickelte Filmmaterial durchgezogen und auf eine starre Leinwand projiziert. Nur bei der statischen Einstellung in Augenhöhe nehmen Kamera und Projektor die gleiche Standort-Situation ein.
In allen anderen Fällen lebt die Kamera im Raum, sieht von oben, von unten, abgewinkelt, das angegangene Objekt, schwenkt und fährt die Kamera auf unterschiedlichste Weise mit immer neuen Innovationsideen durch den filmischen Raum, aus dem die Einstellungen als Ausschnitte herausgeschnitten werden. Diesem lebendigen Vorgang steht die starre Leinwand gegenüber, auf die – wenn wir von Experimentalfilmen und filmischen Happenings absehen – eine fixe Projektion erfolgt.
Die Einstellungssituation, welche sich aus der Filmaufnahme ergibt und die Projektionssituation, in der wir als Zuschauer uns befinden, fallen – mit Ausnahme der statischen Situation der Kamera – auseinander. Daraus wird ersichtlich: Die filmische Erscheinung, die sich aus der Aufnahmesituation ergibt, ist nicht eine feste Grösse. Sie steht in Relation zu unserer Wahrnehmung.
Wenn wir von den Anfängen des Films ausgehen, lässt sich erstens beobachten, dass zunächst die visuellen Qualitäten, die im Objekt liegen, entdeckt und erfasst werden. Zum Beispiel die Bildgestaltung, wie sie sich aus Vordergrund und Hintergrund, aus der perspektivischen Anordnung, aus Raumstrukturierung und Stimmungsmalerei ergibt. Malerei und Fotografie werden auch in die filmische Sichtweise übernommen.
In einem zweiten Prozess entdeckt man die visuellen Qualitäten, die den Film ausmachen: Es kommt zur Entdeckung von Bewegung, von Bewegungsabläufen, von Veränderungen auf der Achse zwischen Vorder- und Hintergrund: Ein Zug fährt auf die Zuschauer zu. Menschen bewegen sich in der Totalen im Hintergrund, während die Personen, die bei der Kamera stehen, als nah und gross erlebt werden. Man entdeckt das Zittern von Blättern im Hintergrund, den Wind, der in Tüchern und Röcken spielt, die Faszination von Rauch und Staub, die ein Bild einnebeln und sich auflösend wieder freigeben. Man entdeckt die filmisch-visuellen Qualitäten, die im Bild selbst angelegt sind.
Erst in einem dritten Prozess werden die Gestaltungsmittel erfahren. Es kommt zur Entdeckung der Möglichkeiten, die in der Maschine selbst, die in der Kamera liegen: Einstellungsgrössen, Kameraschwenk, Kamerafahrten.
Parallel zur Entdeckung der filmischen Gestaltungsmittel nährt man sich den Bildverbindungen an: Dass sich Einstellung an Einstellung binden lässt, dass Montage und Schnitt in der zeitlichen Dauer einer Projektion einen inneren Zusammenhang konstruieren, das heisst eine Geschichte erzählen. Nicht nur die Bilder an sich informieren und erzählen, sondern durch die Montage der Bilder erwächst Information und Erzählung.
Ich
möchte anhand einiger Beispiele die Anfänge filmischer Gestaltung, die in einer
Einstellung selbst liegen, und die Relation zu unserer Wahrnehmung aufzeigen.
Denn mit dem Einsatz filmischer Gestaltung, welche die starre Position der
Kamera, die der Position der Projektion entspricht, aufhebt, wird auch die
Wahrnehmung des Zuschauers aktiviert.
Ich gehe von ersten Schwenks und Kamerafahrten aus.
Am 31. Juli 1900 filmt der 22-jährige Seeler die Ausfahrt von sächsischen Chinakriegern, welche die Aufgabe haben, den Boxer-Aufstand in China niederzuschlagen. Es sind fünf Einzeleinstellungen, die in ihrer Abfolge bereits eine Geschichte andeuten.
Entscheidend ist für Seeler, dass der Zuschauer möglichst viel sieht, und so schwenkt er in der dritten Einstellung über das Deck hin, um die ganze Länge des Schiffes zu zeigen und zugleich die Weite des Meeres und die Hafenanlagen. Ruckhaft dreht sich die Kamera auf dem Stativ. Man spürt geradezu den visuellen Entdeckungsprozess. Und in der fünften Einstellung bleibt die Kamera zwar starr, aber das Schiff fährt in voller Länge an der Kamera vorbei, so dass noch einmal als induzierte Bewegung der Eindruck eines Schwenks entsteht.
6. Sächsische Chinakrieger (2 Minuten)
In der heutigen Machart bauen Schwenks meistens Beziehungen zwischen Menschen und Menschen, zwischen Menschen und Dingen, zwischen Menschen und Räumen auf. Der Schwenk ist auf Blickgebung ausgerichtet und verlangt oft den erlösenden Schnitt auf ein anderes Bild hin. Zu Beginn der Filmgeschichte war dies anders. Man stolperte an der Einengung durch den Ausschnitt. So bekam der Schwenk die Aufgabe, die Leinwand zu erweitern. Mit einer Panorama-Bewegung eine CinemaScope-Leinwand herzustellen. So zum Beispiel ein Schwenk über Antwerpen hin. Zuerst glaubt man noch, man habe es mit einer Kamerafahrt zu tun, doch dann wird die Raumperspektive spürbar, so dass die Schwenkbewegung zu einer langgestreckten Postkarte wird.
7. Schwenk über Antwerpen (20 Sekunden)
Auch die Travellings haben zunächst einmal die Aufgabe, zu zeigen, was das menschliche Auge sieht, aber über die starre Einstellung dem Zuschauer nicht vermittelt werden kann. So gleitet die Kamera an Fassaden an Venedig vorbei, weil man die Fassaden zeigen will.
8. Travelling in Venedig (15 Sekunden)
1896 drehte Promio, der französische Kameramann im Dienste der Gebrüder Lumière, in Venedig sein berühmtes Travelling, das als das erste Travelling in der Filmgeschichte gilt.
9. Venedig, Promio-Travelling (30 Sekunden)
Sie bemerkten vielleicht auch, wie durch die Bewegung der Gondel nach links am Ende der ersten Einstellung die Kamerafahrt folgerichtig eingeleitet wird und der Zuschauer das Gefühl bekommt, die Kamera befinde sich auf der Gondel, was auch der Realität entsprach. Auch hier wiederum gilt es, über eine Kamerafahrt die Leinwand zu vergrössern, zu erweitern.
Wir müssen uns gar nicht bis nach Venedig begeben, denn eines der schönsten und frühesten Travellings entstand 1896 in Montreux. Es ist nicht ein Travelling Fassaden entlang, um die Leinwand zu weiten, sondern die Kamera ist vorne an einem Tram in der Führerkoje aufgestellt und die Kamera fährt – und dies ist ebenso sensationell wie das Travelling in Venedig – in den Bildraum hinein. Die Kamerafahrt bedeutet nicht nur Anschauung, sondern hier entsteht eine emotionelle Dynamik. Sie zeigt sich auch darin, dass die Leute der Kamera ausweichen. Zudem ist die Achse der Fahrt in die Perspektive des Raumes hinein gelegt. Dadurch wird die Kamerafahrt mit dem Raumerlebnis identisch.
Die filmische Gestaltung – der Umgang mit der Kamera – erhält dramaturgische Bedeutung. Was wir als Geburtsstunde einer filmischen Gestaltung wahrnehmen, führt zu den grossen Kamerafahrten eines Stanley Kubrick oder eines Orson Welles – man denke an TOUCH OF EVIL.
10. Montreux (30 Sekunden)
Für die Kamerafahrten werden die möglichen Transportmittel gebraucht: Gondel, Tram, Schiff oder Eisenbahn. Es gibt also noch keinen Kamerawagen. Der kommt erst im italienischen Monumentalfilm auf. Griffith wird zum Beispiel auch einen Ballon in BIRTH OF A NATION einsetzen.
Eisenbahn: das Faszinosum einer ewigen Kamerafahrt. Beim Besuch des französischen Ministerpräsidenten in Russland filmen die Kameraleute Lumières nicht nur die Grossen ihrer Zeit, sondern sie richten ihre Kamera auch auf die Landschaft. Die Kamera schaut durch das Fenster in die Landschaft hinein. Vorne gleiten Hecken, Geländer, Bäume vorbei und dazwischen erlauben Durchblicke und Einblicke die Sicht in die Landschaft. – Clemens Klopfenstein TRANSES von 1982 wird hier antizipiert.
11. Fahrt durch Russland (20 Sekunden)
Wie Schwenks verschaffen die Kamerafahrten die Möglichkeit, zu zeigen, was nicht im statischen Ausschnitt Platz hat und verschaffen damit auch dem Zuschauer die Möglichkeit angeblich mehr zu sehen. Denn auch der Schwenk und das Travelling finden ihre Grenze beim Bildrand und nicht im Sichtwinkel des Auges.
1900 fand in Paris eine Weltausstellung statt. An ihr wurden alle technischen Möglichkeiten der neuen Erfindung "Film" vorgezeigt: Farbfilm, Grossleinwand, Cinerama, Tonfilm. Die ganze Technik war aufbereitet, noch unvollkommen, doch nicht nur als Idee, sondern als Apparate-Set anwesend.
Vorläufig blieb jedoch der Stummfilm für die Kino-Industrie massgebend. Wiederum waren es die Kameraleute Lumières, welche sich an der Weltausstellung tummelten. Und es liess sich dort filmen: Nicht nur glitten Boote auf der Seine den Ausstellungskulissen der Länder entlang, sondern rollende Bänder führten als rollende Trottoirs oder Teppiche durch das immense Ausstellungsgelände.
Geschwindigkeit: die einen 4 ½ km, die anderen 8 ½ km in der Stunde – der Expressteppich, wobei die beiden Bänder nebeneinander liefen. Dies erlaubte es, die Ausstellung über Kamerafahrten zu präsentieren. Dabei kommt es zum Effekt der "induzierten Bewegung": Wenn ein stationäres Objekt von einem bewegten Hintergrund umgeben ist, entsteht der Eindruck, dass das stationäre Objekt sich bewegt und der Hintergrund stillsteht. Dies besagt: Filmische Machart und Wahrnehmung brechen auseinander. Ich werde auf das Phänomen während der Vorführung aufmerksam machen.
12. Weltausstellung (4 Minuten)
Kamerafahrt und Schwenks gehen von der Eigenbewegung der Kamera aus. Was jedoch stets faszinierte und der Entdeckung der filmisch-visuellen Qualitäten entsprach, war die Bewegung vor der Kamera. Daraus entstanden dann auch im Spielfilmbereich die Slapstick-Komödien mit ihren Bewegungs- und Zerstörungsritualen. An der Weltausstellung war es eine berühmte Tänzerin aus Amerika, die dem Faszinosum "Bewegung" entsprach: Loïe Fuller.
13. Tänzerin (15 Sekunden)
Wir stellten bei den Bewegungsaufnahmen anlässlich der Weltausstellung den Effekt der induzierten Bewegung fest. Was im dokumentarischen Film sich wahrnehmungspsychologisch ausweist, lässt sich auch in die Inszenierung übertragen. Dazu ein kleiner Einblick aus der Frühzeit des Films:
14. Induzierte Bewegung (Prokop-Band) (20 Sekunden)
Damit sind wir dort angelangt, wo der Einsatz der filmischen Gestaltungsmittel, also die Machart, auch die optische Wahrnehmung mitbestimmt. Der Autor setzt nicht mehr nur die filmischen Gestaltungsmittel ein, sondern er bezieht auch die mögliche Wahrnehmung ein.
Technische Erfahrung wird mit der optischen Wahrnehmung des Zuschauers verbunden. Ich zeige Ihnen jetzt eine Sequenz aus Jean Renoirs LA PETITE MARCHANDE D'ALLUMETTES von 1929. Die Kopie aus der Cinémathèque gibt leider nicht mehr so viel her, da die Kontraste eingefallen sind. So lade ich Sie ein, die Wolken, die man kaum mehr sieht, sich vorzustellen und dann sehen Sie wieder den ursprünglichen Film.
15. LA PETITE MARCHANDE D'ALLUMETTES (5 Minuten)