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Seminar für Filmwissenschaft

Ästhetik und Gestaltung

Vorlesung 2

Mit Frederick Wisemans Dokumentarfilm MODEL über die Mode als Institution verfolgten wir den Arbeitsprozess an einem Werbespot. 27 Sekunden dauerte das Produkt, die Sequenz über die Arbeit am Drehort 25 Minuten. Besonders die Szene mit dem Pfaueneffekt – die Sandwichmontage - löste, obwohl die Szene sehr informativ war, fast physische Qualen aus. Ob aus Mitleid – Identifikation mit dem Mannequin, das, auf ein bestrumpftes Bein reduziert, stundenlang ihr Bein zur Verfügung halten musste – oder weil die Arbeit so mühsam voranging, bleibe dahin gestellt. Was ich aufzeigen wollte, war, dass der Prozess des Werdens, der sich aus der Spannung zwischen der ästhetischen Vorstellungswelt, was Film sei, und der konkreten Gestaltung ergibt, mit Arbeit zu tun hat.

Ich nehme dieses Thema noch einmal auf, und wir schauen uns zunächst den Anfang eines Films an, der Ihnen wahrscheinlich bekannt sein dürfte.

1 LA NUIT AMÉRICAINE

Der Film ist 1973 entstanden. Truffaut demonstriert in seinem Film über Filmarbeit und Kino, wie eine realistische Strassensequenz, als wäre sie aus dem Leben gegriffen, arrangiert, gebaut, in Szene gesetzt wird. Truffaut inszeniert einen Strassenausschnitt an einer Metrostation und setzt in das illusionistische Dekor aus Kulisse und Menschen als dramatisches Handlungselement die Bewegung zweier Männer. Ihr Eklat ist eine Ohrfeige – eine durchaus dramatische Schürzung einer Begegnung. Je nach Filmgenre könnte es auch ein Mord, ein Kuss oder ein flüchtiges Anhalten sein, als würde eine Erinnerung, eine Ahnung, oder der kaum bemerkbare Ansatz einer kommenden Geschichte angedeutet. Doch dann wäre wohl der aufwendige Aufbau der Strassenszene in keinem Verhältnis zur Aussage, - das heisst der Aufwand einer Einstellung, einer Filmszene, findet ihre Entsprechung in der Art der Erzählform. Man kann sich fragen, wie geht die Geschichte weiter, wenn für diese Ohrfeige ein ganz anderer Produktionsapparat in Gang gebracht worden wäre, also in einem Film mit kleinem Budget.

Dies besagt: Die ästhetisch illusionistisch aufgebaute, nachgestellte Strassenszene bedarf einer umfassenden Inszenierung – einer Regie, die Menschen und Materialien in eine Kamerabewegung versetzt, ein kalkuliertes Bewegungs- und Begegnungsballett auslöst, eingetaucht in ein bestimmtes Licht – ein eher neutrales, flaches Studiolicht, dem Nachmittag gemäss, denn spät abends würde die gleiche Szenerie anders aussehen.

Was ästhetisch sich als Kino-Illusionismus definiert, wird in der Gestaltung dieser Idee zu einem Stück Arbeit, die je nachdem die Qualität der filmischen, das heisst visuellen und akustischen Bildpräsenz bestimmt. Arrangieren von Personen, Kamerafahrten, Inszenierung von Umfeld – visuelle und akustische Umwelt und die Schürzung des erzählerischen Knotens durch das Herausgreifen zweier Personen als Fokussierung auf die mögliche Geschichte bedingen den Arbeitsprozess.

Wir finden eine Filmästhetik vor, die in einer durchaus gängigen Kino-Konvention ihr Vorbild hat: Es ist dies das amerikanische, von Truffaut bewunderte Erzählkino. Daraus resultiert die Anwendung der Gestaltungsmittel. Eine Geschichte wird erzählt, die sich finanziell – produktionsmässig – auch billiger erzählen liesse. Doch Truffaut inszeniert in einem französischen Film mindestens als Demonstration für 60 Sekunden amerikanisches Kino. Auch er stellt einen Arbeitsprozess dar. Hinter der Erscheinung steht die Erarbeitung der Erscheinung. Mit grosser Präzision werden Handlungs- und Kameraabläufe minutiös festgelegt, damit die Spielfilmszene auf der Leinwand illusionistisch, realistisch, wie nachgebautes Leben erscheint.

Zwischen den beiden Kino-Einstellungen wird die Arbeit kritisiert, über Interviews die Story kurz angedeutet – ein Schauspieler ist noch in Hollywood –, der Produzent hat im Versteckten zu bleiben. In der Zwischenszene haben wir eine andere Handhabung der filmischen Gestaltung. Während sich die vordemonstrierten Einstellungen am amerikanischen Kino orientieren, wirken knapp geschnittene Zwischenszenen eher reportagehaft, fernsehorientiert, denn das Thema ist ja auch, wie die Medien wiederum mit dem Medium Film umgehen.

Welchen Film möchten Sie eigentlich lieber weiterverfolgen – die Geschichte von den Folgen einer Ohrfeige oder den Film über die Entstehung eines Films? Wir können wiederum feststellen, wie die Gestaltung als Ausdruck konkreter Macharten die Erwartung des Zuschauers bestimmt.

Wir können zwei Fährten verfolgen: die Fährte der durch eine grosse aufwendige Kamerafahrt initiierten Kinogeschichte oder die Darstellung eines sich dokumentarisch gebenden Spielfilms, der uns in die Kino-Fabrik entführt. Bezeichnend ist, dass beide Formen – das inszenierte Kino-Arrangement und der hingeworfene erzählerisch-dokumentarische Stil – den Anspruch auf Realitätswiedergabe stellen. Und beide Formen wollen illusionistisch immanent sein: So ist es, wenn wir uns im Kino eine Geschichte näher ansehen.

Sehen wir uns die filmische Gestaltung näher an, und zwar der grossen Strassenszene mit der Begegnung zweier Männer. Welche der beiden sehr teuren Einstellungen würden Sie in den Film aufnehmen? Oder würden Sie die Einstellung – die Kamerafahrt – noch einmal drehen lassen? Zuerst die erste Fassung.

2 LA NUIT AMÉRICAINE (1. Fassung der Strassenszene; 1 Minute)

Nun die andere Fassung der Szene. Es ist tatsächlich eine andere Fassung. Wir könnten nämlich das Experiment weitertreiben und eine Täuschung proben: nämlich zweimal die gleiche Fassung zeigen und behaupten, es seien zwei verschiedene Fassungen – und Sie würden vielleicht tatsächlich – für Ihre Geschichte – zwei verschiedene Fassungen sehen.

3 LA NUIT AMÉRICAINE (2. Fassung der Strassenszene; 1 Minute)

Nun meine Frage: Welche Fassung würden Sie nehmen? Wer die erste? Wer die zweite? Wieso?

Unterschiede? Wer würde die Szene noch einmal drehen lassen? Wer würde nach Hause gehen und nie die Wahl einer Entscheidung auf sich nehmen?

Léaud kommt in der zweiten Fassung präziser, nicht zu spät, doch fast zu spät: dann wird der zweite Mann eingeführt. Erste Fassung: K. folgt dem Auto, sodass man glaubt, die Geschichte gehe mit dem Auto weiter. In der zweiten Fassung ist das Auto nur erfasst und hinter dem Auto taucht der andere Mann auf. In der zweiten Fassung wird Léaud – der Mann aus der Metro – besser von der Kamera eingeführt, und beim zweiten Mann – Aumont – ist es genau umgekehrt. Nach der Täuschung, als würde die Geschichte beim Auto weitergehen – also in der ersten Fassung –, wird der zweite Mann wie von ungefähr aufgegriffen und verfolgt, während in zweiten Fassung der Mann einfach plötzlich da ist.

Die Entscheidung liegt dort, welcher Figur Sie mehr Gewicht geben wollen – oder Sie lassen die Szene noch einmal drehen, wobei sicher wieder etwas anderes schief gehen würde. Wenn Sie auf die Statisterie achten, können Sie zum Beispiel feststellen, wie die Frau mit dem Hündchen plötzlich in der zweiten Fassung Regieanweisungen folgt und unverhofft schneller läuft.

Also schauen wir uns die beiden Fassungen noch einmal an. Wir überprüfen unsere Feststellungen. Vielleicht stört Sie jetzt anderes.

Mit Ihrer Entscheidung arbeiten Sie auch an der Bedeutung. Sie entscheiden, was Ihnen am Schneidetisch wichtiger erscheint: die korrekte Inszenierung des Umfeldes. Das in der ersten Fassung ausgesprochen dramatische Zusammentreffen der beiden Männer, auch wenn Léaud wie nachgezogen, nachgeschmiert aus der Metro auftaucht. Indem Sie den Einsatz ihrer Gestaltungsmittel werten, beurteilen, schaffen Sie Bedeutungswandel – fast unmerklich –, aber eine Folge von kleinen Veränderungen ergeben für den Zuschauer eine andere Rezeption, eine andere Erfahrung des Films. Er setzt sich sein Verständnis von der Vermittlung einer Bedeutung anders zusammen.

Wir haben bereits das letzte Mal festgestellt, dass Werbefilme uns recht viel Material abgeben können über den Zusammenhang zwischen ästhetischen Vorstellungen der Anwendung bestimmter filmischer Gestaltung und der Vermittlung von Bedeutung durch die visuell-akustische Erscheinung. Denn der Werbefilm arbeitet bewusst auf der Grundlage einer allgemein verbindlichen normierten Ästhetik mit der filmischen Gestaltung. Die Machart des Films hat Sinn und Zweck, dem Zuschauer die Bedeutung eindeutig zu erschliessen.

Gehen wir zunächst von einem Beispiel aus, dessen Grundlage eine bekannte filmische Erzählstruktur bildet: Eine Frau verlässt ein Haus. Sicher schon tausendmal gefilmt, ist dies eine Szene, die ganz verschiedene Geschichten zulässt. Dass verschiedenen Geschichten mit diesem Grundmuster erzählt werden können, hängt damit zusammen, was man unter dem Begriff "Diegese" oder auch "diegetisch" subsumiert. Darunter versteht man, was zur einfachen Erzählstruktur hinzukommt. Je nach Ton – Autos, Schiffssirenen, Vogelgezwitscher, süssliche oder dramatische Musik – ist es bereits eine andere Geschichte, ist es eine andere Frau, auch wenn es jedes Mal die gleiche Frau ist, die ein Haus verlässt. Je nach Licht – heiteres Morgenlicht, Mittagssonne, lange Schatten wie am Abend, Nacht, farbloser Nebel, schwarzschillernder Regen – ist es eine andere Geschichte.

Die Diegese – also alles, was an filmischer Gestaltung über Licht, Farbe, Bewegung, Ton usw. hinzukommt – verändert den Plot und gibt ihm die entsprechende inhaltliche Aussage. Was die erzählerische Grundstruktur umspielt, schafft die Bedeutung.

Die Szene heisst diegetisch: Nach einem Streit verlässt eine Frau ein Haus, reisst sich einen Ring von der Hand (man erahnt einen Stein), wirft ihn in den Briefkasten – sie gibt ihn also zurück, was ja noch anständig ist –, reisst sich die Perlen vom Hals, sie befreit sich von der dekorativen Umschnürung, hängt ihren weissen Pelz an den Strassenrand. Sie reisst sich die Vergangenheit vom Leib.

Was ihr bleibt, ist ein Schlüssel. Die Assoziation ergibt: Es ist der Schlüssel zur Wohnung, den sie in die Kanalisation versenken will. Alles ist fertig. Kein Happy End. Diegetisch ist die Aussage klar. Schauen wir uns den Film an:

4 VW-Reklame

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Das Happy End wird durch die Vermaterialisierung der Gefühle unumgänglich. Die VW-Reklame wird zu einem Film über Lebensbewältigung. Wie lässt sich ein Streit, eine Trennung, ein Bruch, ein Ende bewältigen? Man reisse sich vom Leib, was klebt und sanft umhüllt. Die verlorene Erotik, der verlorene Luxus, die verlorene Liebe findet in der Konsumption den vollwertigen Ersatz. Im Besitz eines VWs findet die Befriedigung eines Vollbedürfnisses statt. Die dramaturgische Lehre vom Happy End, die das Glücksgefühl des Hollywoodfilms der Dreissiger- und der Fünfzigerjahre ausmachte, erfährt ihre Auflösung im Volkswagen, dessen Schlüssel man nicht wegwirft, sondern auch im Moment emotionaler Katastrophenstimmung für sich behält, für sich rettet.

Diegetisch wird der Plot einer Story (eine Frau verlässt ein Haus, sie verlässt ihren Geliebten, ihren Mann) zur Reklame für einen Volkswagen, den man auch in höchster emotionaler Not für sich behält – nicht als Trost, sondern als Akt für die Zukunft: Man beachte das letzte Bild. Lebensbewältigung, Problembewältigung, Überlebensstrategie fixiert sich am Objekt. Dass das diegetische Umfeld einer filmischen Grundstruktur zum Werbegag gereicht, ist für ein Medium bezeichnend, dessen Ästhetik so sehr durch den Umgang mit der Gestaltung für einen Bedeutungswandel gebraucht werden kann.

1. Wie erscheinen filmische Gestaltungsformen? Was sind sie in Wirklichkeit?

2. Was sagen sie aus oder was wollen sie aussagen? Welche Bedeutung wollen sie uns vermitteln? Und 3.: Welche Bedeutung billigen wir als Zuschauer ihnen zu?

Auf diesen drei Ebenen hat einmal unsere Fragestellung zu erfolgen. Der Sinn der Fragestellung ist, näher an die filmische Erscheinung heranzukommen, nicht nur die Bilder anzuschauen, sondern in die Bilder hineinzuschauen.

Ich stelle zunächst Verbindungen her:

1. Die Erscheinung filmischer Gestaltungsformen lässt sich auch über den vermittelten Inhalt fixieren, denn der Inhalt braucht als Gefäss die filmische Gestaltungsform.

2. Was wir als die Wirklichkeit filmischer Gestaltung, die sich aus der Machart erschliesst, bezeichnet haben, lässt sich an der Wirkung der Machart ablesen. Die Inhaltsanalyse – was sehen wir?, was hören wir? – findet ihre Entsprechung in der Wirkungsanalyse.
Dabei ist folgendes einzubeziehen – und wir werden uns damit noch ausführlich beschäftigen: Die Wirkung des Mediums ist nicht nur das Ergebnis von Gestaltung und formaler Machart, sondern sie liegt in der Gewalt des Mediums selbst.

3. Bedeutung erschliesst sich in der Rezeption. Sie ist jener Erfahrungsprozess, der dem Zuschauer aufzeigt, welcher Inhalt auf welche Weise und weshalb ankam und wirksam wurde.

Dringen wir in die Details ein. Wir beginnen beim einzelnen Bild, das wir uns ganz genau anschauen. So arbeite ich jetzt zunächst einmal mit Fotografien, das heisst mit Dias.

Inhalt, Wirkung, Rezeption – übertragen auf einfache Fragen heisst dies: Was sehen wir? Wie ist es gemacht? Was geschieht mit uns? Auf welche Weise nehmen wir die Bedeutung wahr, die in der Aussage liegt?

Ich zeige Ihnen zunächst das Bild eines Autounfalls, erschienen an einem bestimmten Datum in einer bestimmten Zeitung auf der Seite "Vermischte Nachrichten". Der Text ist variierbar. Die Aussage liegt im Bild.

DIA 1

Eine dokumentarische Aussage, würden wir im filmischen Bereich sagen. Ein weisser Mercedes kam von der Strasse ab und wurde von der Wucht des Aufpralls um eine Stange geschmiegt. Der Wagen zog sich um die Stange zusammen. Die Karosserie verkürzte sich. Feststellungen bewirken Folgerungen. Damit setzt bereits die Interpretation des Bildes ein: Der Fahrer ist sicher tot. Da die Unglücksstätte ohne Bezug erscheint, weder die Strasse noch weitere Unfallobjekte sichtbar sind, könnte es sich möglicherweise um einen Selbstunfall handeln: Der weisse Mercedes machte sich selbständig, ging mit seinen Pferdestärken durch.
Oder war es Selbstmord? Gedanken beginnen diegetisch den bildlichen Sachverhalt zu umspielen. Die Informationsquelle – ein Unglücksbild – löst über Interpretation Assoziationen aus, die wie visuelle Ahnungen innerhalb optisch gesicherter Feststellungen mitschwingen. Den Inhalt anschauen setzt bereits urteilsfreie Rezeption voraus. Ich will aussagen, was ich sehe. Sehe ich, was ich aussage oder sage ich aus, was ich sehen will – und nicht was das Bild aussagen will. Meine Seh-Intention und meine Seh-Intensität spielen bereits rein, selbst wenn ich nur die visuelle Erscheinung wahrnehmen und beschreiben will. So reduziere ich meine Aussage auf angeblich Gesichertes: Ein weisser Mercedes liegt, von der Wucht des Aufpralls um eine schwere widerstandsfähige Stange geschlungen, ohne Bezug zu weiteren sichtbaren Aussagen über den Vorgang des Unglücks. Menschen sind keine sichtbar.

Wenn ich von der Machart ausgehe, um damit auch die Wirkung des Bildes von der Gestaltung her zu erschliessen, stelle ich fest: Die Unglücksstätte ist von oben fotografiert. Offensichtlich liegt die Wiese tiefer als die Strasse. Oder der Fotograf ist irgendwo hinaufgeklettert. Die tödliche Stange ist genau in die Bildmitte gesetzt. Sie ist der Blickpunkt: ein Mast, um den sich das weisse Blech wie ein Segeltuch legt. Das Weiss hebt sich von der dunklen Stange und den Grauwerten der Wiese ab.
Da jeder Bezug zur weiteren Umwelt fehlt, ist das Bild vom weissen Unglückswagen geradezu beispielhaft erfasst. Der Unfall um des Unfalls willen. Wie ein Denkmal fotografiert, was eine Information sein sollte.

An einer Ausstellung realistischer Kunst liesse sich die Fotografie nachbauen: eine Materialplastik als Beispiel für den illusionistischen Realismus – in Szene gesetzter Fotorealismus der Siebzigerjahre. Bewusstseinsdeskription eines alltäglichen Unglücks, von prägnanter visueller Präzision. So perfekt kann nur ein Ausstellungsobjekt einen um eine Stange geschlungenen Mercedes veranschaulichen. Doch wir haben festgehalten: Es handelt sich um ein Informationsbild aus der Presse. Es ist nicht das Bild eines realistisch gestalteten Kunstobjektes aus einer Ausstellung über die Siebzigerjahre, auch wenn die Aufnahme so aussieht, als wäre es die Fotografie eines Kunstobjektes.

Oder doch? – Denn wo ist der Motor hingekommen? Ist er nicht sichtbar, weil die Fotografie zu wenig deutlich ist? Oder - ich fantasiere schon wieder, um mir die Fotografie erklärlich zu machen - wurde er gestohlen, abmontiert? Oder gab es gar nie einen Motor, da es sich ja um ein Ausstellungsobjekt handeln könnte?

Welchen Prozess sind wir durchgegangen? – Ein bildlich klarer Inhalt wird durch die Frage nach der Gestaltung des Bildes – Kadrage, Standpunkt des Fotografen, Sichtbarkeit der Details - Freigut der Interpretation und Imagination. Ich werde als Betrachter kreativ und damit aktualisiert sich im Rezeptionsprozess die Frage: Welche Bedeutung bekommt das Bild für mich?

Beachte ich das Bild überhaupt? Löst es eine Reaktion aus - eine Emotion, eine Einsicht –, beeinflusst es meine Entscheidung. Kaufe ich keinen weissen Mercedes – ein Anti-Public-Relation-Bild?

Oder übersehe ich das Bild, besonders wenn ich einen weissen Mercedes fahre? Hat das Bild einen Abschreckungseffekt – einen Erziehungseffekt? Wenn ich nach der Bedeutung in der Rezeption frage, wird aktuell, welche Reaktion löst der durch eine bestimmte Machart vermittelte Inhalt in mir aus?

DIA 2: Polizeichef in Saigon

Im Februar 1968 erschoss der Polizeichef von Saigon Nguyen Hgoc eigenhändig einen Mann auf der Strasse, weil dieser Mann als Vietcong verdächtigt war. Die Wirkung dieses Bildes beruht, wenn wir von der textlich vermittelten Information absehen, in einer Kadrage, die dem Geschehen eine intensive Präsenz verleiht. Das Opfer sieht man von vorne, den Polizeichef von hinten, sodass er fast anonym wirkt im Gegensatz zum Opfer, dessen Gesicht auf uns – auch auf den Fotoreporter – ausgerichtet ist, wobei die Augen an uns vorbei in die Weite schauen. Hinter den beiden Figuren flimmert ein weisses Licht, das den Hintergrund in Unschärfe und Ahnungen verlieren lässt – zum Beispiel: was liegt schwarz auf der Strasse?

Für die Gestaltung dieser Fotografie ist beizufügen: Das ursprüngliche Bild sah anders aus. Verschiedene Personen umstanden aufgeregt das Geschehen. Für die Veröffentlichung wurde das Umfeld – Menschen, andere Handlungen – abgeschnitten, so dass nur ein Bild übrigblieb: Der Polizei-Chef erschiesst untersuchungslos einen Mann auf der Strasse, nur weil er verdächtigt ist, ein Vietcong au sein.

Das Bild – wenn wir seine Bedeutung erschliessen wollen – vermochte damals, 1968 kurz vor den Maiunruhen in Paris und dem Globuskrawall in Zürich, wirksam die öffentliche Meinung zu mobilisieren. Damit taucht ein neuer Aspekt auf. Das Opfer ist uns zugewandt – also auch dem Fotografen. Der Fotograf greift nicht ein, sondern er schiesst Bilder von der Erschiessung und übergibt die Kadrage des Ereignisses der Weltpresse. Die Bedeutung des Bildes liegt somit in der Macht des fotografischen Mediums, das in unserem Falle nicht nur eine Information vermittelt, sondern diese Information mit einer bewusst gestalterischen Wirkung versieht. Dazu gehört auch, dass der Fotograf nicht eingreift, sondern seine Bilder schiesst und von all den Bildern, nur eines, das Wirksamste, zur Verbreitung ausliest.

Den Standort wählen, selbst wenn der Zufall reinspielt, das fotografische Produkt bearbeiten – das hat mit jener gestalterischen Machart zu tun, die die Bedeutung des Bildes in der Wirkung des Bildes erschliesst.

DIA 3: Napalm-Angriff

Das Gesagte lässt sich auf das nächste Bild übertragen: Juni 1972, ein südvietnamesisches Flugzeug bombardiert irrtümlicherweise ein südvietnamesisches Dorf mit Napalm. – Eine Zeitungsmeldung verdichtet sich in der Aufnahme des Ereignisses, durch einen Fotoreporter zu einem Bild, das in der Vermittlung seiner Bedeutung kaum wirkungsvoller sein könnte. Vor einem schwarzen Hintergrund, in den die Strasse eintaucht, treiben drei amerikanische Soldaten Kinder vor sich her. Die Soldaten, obwohl sie die Kinder retten wollen, wirken bedrohlich, denn sie sind mit ihren Helmen identisch mit dem Schrecken des Krieges, den der schwarze Hintergrund verkörpert. Doch was dem Bild das Stigma gibt, ist das schreiende nackte Mädchen in der Mitte des Bildes.

Auch dieses Bild erlangte seine Bedeutung durch die Wirkung in der Öffentlichkeit: eine Wirkung, welche im Medium Fotografie – in der Gewalt des Mediums selbst – angelegt ist. Die Erschiessung in Saigon und der Napalmangriff wurden weltweit bekannte Bilder wie Frank Capas Fotografie aus dem spanischen Bürgerkrieg: das Bild eines Soldaten, der von einer Kugel getroffen nach hinten stürzt, das eigene Gewehr entgleitet der Hand. Starke Aussagebilder werden zu Signalen einer Aufmerksamkeit, die auch Bewusstseinsveränderung einschliesst.

DIA 4: Selbstverbrennung eines buddhistischen Mönchs

Gehen wir noch einen Schritt weiter. Im Juni 1963 erschien folgendes Bild: Aus Protest gegen das Diem-Regime verbrennt sich ein dreiundsiebzigjähriger buddhistischer Mönch auf offener Strasse. Das Geschehen ist wie ein Schauspiel fotografiert. Der Benzinkanister vorne, das Auto, die Motorhaube offen, im Hintergrund. Auf dem Bild lässt sich anhand der Dinge eine bereits verflossene Geschichte ablesen: Ein Auto fährt auf einem Platz vor, ein Benzinkanister wird ausgeladen. Was wir sehen, ist die bereits begangene Tat der Selbstverbrennung. Entscheidend für die Einsamkeit der Tat ist: Die Menschen – kaum wahrnehmbar – schauen zu, als wäre es eine Attraktion.

Dieses Bild, verbunden mit weiteren Bildern und Nachrichten, löste eine Selbstverbrennungswelle aus. Wie eine Epidemie ging die Nachahmung um. Ein Mensch als brennende Fackel wurde zum visuellen Zeichen von Verzweiflung, Protest, hilfloser Rebellion, demonstrierter Ohmacht. Nicht nur die Flut der Bilder, sondern auch die Tat wurde inflatorisch.

Selbst Ingmar Bergman konnte sich nicht enthalten, als Zeichen für den Wahnsinn in der Welt über einen Fernsehschirm Bilder der eben vorgezeigten Verbrennung eines buddhistischen Mönchs in eine psychiatrische Klinik reinzuholen und seine psychisch kranke Heldin mit diesen Bildern zu konfrontieren. Die Fotografie könnte ein Standbild aus dem Film sein – gleichsam eine Einstellung aus einer Folge von Bildern.

Bergman baut jedoch die dokumentarischen Einstellungen in das Gefüge weiterer Bilder ein, und was wir vorhin als ein wirkungsvolles fotografisches Dokument erfasst haben, wird Bestandteil einer Geschichte, die nichts mehr mit dem ursprünglichen Bild zu tun hat, sondern nur noch die Geschichte der Protagonistin in der Klinik betrifft. Das ursprünglich politische Bild wird Teil einer filmischen Erzählstruktur. Die Fotografie wird tatsächlich im Ablauf der Bilder zur Einstellung. Was von uns als autonomes Bild mit allen seinen Implikationen gesehen wurde, wird zur Einstellung in einem Film verkürzt und gibt im Montage-Zusammenhang eine ganz andere Geschichte ab als die, von der wir bei der Betrachtung des Bildes gesprochen haben.

AUSSCHNITT: PERSONA

Eine Fotografie, die einer Einstellung im Film entspricht, wird als Einzelbild innerhalb einer filmischen Einstellungsfolge um ihre Autonomie gebracht. Das dokumentarische Einzelbild – quasi verlebendigt, vitalisiert, zu anderen Bildern in Beziehung gestellt – wird Teil einer Erzählung. Die Erzählung braucht das Bild nicht mehr um des Bildes und dessen immanenter Aussage willen, sondern weist in der Montage auf eine andere Aussage hin – konkret auf die Befindlichkeit der Frau im Zimmer. Die ursprünglich im dokumentarischen Bild eingeschlossene Aussage verlässt den Bannkreis des Bildes und erhält, zum Teil einer Geschichte geworden, eine andere Aussage. Die ursprünglich politische Information wird im Kontext einer psychiatrischen Klinik zum Psychogramm.

Zur Gestaltungsmanie Bergmans gehört in dem Falle, dass er ein ursprünglich anders determiniertes Bild gebraucht und verbraucht, um seine eigene Bilderwelt zu realisieren. Ein anderes Thema wäre, die Fotografie der Selbstverbrennung mit dem Filmdokument über die Selbstverbrennung zu vergleichen: das statische Bild, das uns das Hinschauen und Erschauen im Bild selbst erlaubt und das filmische Dokument, das uns mit Kamerabewegung und der atemlosen Erregung einer suchend verwackelten Kamera in das Geschehen hineinzieht, ohne dass wir Zeit finden, genauer präziser hinzuschauen.

In Bilder einzudringen, nannte ich zu Beginn der Arbeit mit Dias, den Prozess, den wir hier in den Dunkelheit des Raumes auf uns nahmen. Es ist zugleich auch eine Konzentration auf das Bild hin. Was sehen wir?, und wenn wir es sehen, was geschieht mit uns?

DIA 5: Brassaï: "Strasse"

Brassaï, der grosse Fotograf der Pariser Nacht, liebte es, in Häuser einzusteigen und aus Fenstern zu fotografieren. Was er in unserem Beispiel fotografierte, ist der Blick auf eine Strasse hinunter – es muss schon spät sein auf dem grossen breiten Boulevard. Was sehen wir? Den nächtlichen Boulevard? Brassaïs voyeuristischen Blick oder eigene Erinnerungen an eigene Fensterblicke, Balkonblicke, Kinoblicke - Ausblicke und Einblicke? Brassaï fotografierte eine Bildvorlage, die uns zu unseren eigenen Geschichten, Erinnerungen, Fantasien verhilft. Perfekter kann eine Vorlage nicht mehr sein, denn sie weist alles auf, was eine Geschichte abgeben könnte: die Lichter, die beiden Frauen, dann die Distanz, welche es erlaubt, drinnen zu bleiben und draussen zu sein. Die Situation des Erzählers. Deshalb formulierte ich vorhin: Brassaï fotografiert den Blick, die Sichtweise, die Bild-Perspektive.

DIA 6: Brassaï: "Die Mauer des Gefängnisses 'La Santé'"

'Die Mauer des Gefängnisses von 'La Santé'" am Boulevard Arago, ebenfalls von Brassaï: Wir sehen eine Mauer, Bäume werfen Schatten auf die Mauer, von der man nicht weiss, dass sie eine Gefängnismauer ist. In der Nacht wirkt sie unendlich lang, sich verlierend in einem Lichtpunkt. Brassaïs Fotografie ist von einfacher Machart. Das Objektiv nimmt eine perspektivisch wirkende Raumflucht auf. Eine Mauer mit Schatten von Bäumen.

Doch gerade diese Schatten sind es, die uns von der Bedeutung her ansprechen, denn sie verweisen auf eine Lichtquelle, die man nicht sieht. Ich nehme wahr, was ich nicht sehe. Was ich nicht sehe, ist meiner Imagination anheim gegeben. Sind rechts von der Mauer nur Strassenlampen, oder finden sich jenseits der Strasse Cafés, Garagen, erleuchtete Geschäfte? Ist der Boulevard Arago eine einsame, nicht ganz ungefährliche Strasse an der Mauer von "La Santé" vorbei, ist die Gegenseite ebenso einsam, menschenleer wie der langen Mauer entlang, an der man vorbei eilt? Oder ist es schon so spät in der Nacht, dass kaum ein Wagen noch dem Boulevard entlangfährt?

Hätten wir nicht eine Fotografie vor uns, sondern würden wir uns in einem Film befinden, in dem die Kamera auf der Mauer ruht, wartend, ihr entlang fährt, abtastend, dann würde der Ton assoziieren, was auf der Strasse und jenseits der Strasse wäre, im Bannkreis der visuell erahnten Lichtquelle. Autogeräusche, Lastwagengeräusche, Tangoklänge, leise Stimmen, Stille, Geschrei von Frauen, Schüsse, Kommentar. Und jedes Mal sässen wir in einem anderen Film.

Es ist an Ihnen, sich zum fotografischen Dia einen Film zu konstruieren, der Ihnen aufgrund der Bild-Impressionen und der Bild-Imagination durch den Sinn geht: "Policier", Liebesfilm, Dokumentarfilm, Jean-Gabin-Film, Alain-Delon-Film usw.

Wiederum weitet sich das fotografische Bild zur Einstellung eines Films, wenn wir diesem Bild eine weitere sensitive Aussage geben. Nicht weitere Einstellungen, wie bei Bergman, die über die Montage eine neu determinierte Geschichte entstehen lassen, bringen das Bild um seine ursprüngliche Bedeutung, sondern die Hinzufügung des Tones bestimmt das Bild, und zwar weil der Ton dort angesiedelt wird, wo sich die Lichtquelle findet, welche die Mauer mit ihrem Schattenwurf bestimmt. Wo Licht ist, ist auch Handlung, oder die Stille einer drohenden Handlung.

Mit Brassaïs "Minimal-Art"-Fotografie möchte ich Sie heute entlassen. Vielleicht schauen Sie sich auf dem Heimweg Bilder an, Mauern, Lichtquellen. Schauen Sie nicht zur Lichtquelle hin, sondern schauen Sie an, was das Licht Ihnen zeigt – die Szenerie – und fantasieren Sie ein wenig, welche Geschichte, welcher Film drin liegen würde. Es kann auch eine Geschichte zum Schreiben sein - aber bleiben wir beim Film -, auf der Strasse finden sich die Filme, in Gesichtern, die aus dem Dunkeln kommen, in Tönen, deren Ursprung Sie nicht sehen, in Fantasien, welche angeschnittene Gegenstände, sich verlierende Objekte evozieren.

Ihr Heimweg ist voller Geschichten. Sie müssen gar nicht mehr ins Kino gehen. Sie müssen nur einen Bildausschnitt nehmen – Geräusche, Töne, Sätze, Körper und Gesichter, Bewegungen, Schattierungen – und daraus ergeben sich Geschichten. So leicht ist es mit dem Schweizer Film, nur muss man eine unbändige Lust haben, aus Bruchstücken des Sichtbaren und Hörbaren, aus Bruchstücken der Wirklichkeit, der Sie täglich begegnen, eine Geschichte zu erzählen. Die Lust des Fabulierens entzündet sich am Detail, an der kleinen Beobachtung. Wenn Sie ihre Umwelt, zum Beispiel auf Ihrer Heimkehr, beobachten, sehen Sie auch Filme genauer. Und grosse Filme sind unglaublich reich an visuellen und akustischen Details. Sie gilt es auch in Wirklichkeit zu sehen – in der Szenerie der Wirklichkeit.

Filmografie

LA NUIT AMÉRICAINE (F/I 1973), R: François Truffaut.

PERSONA (S 1966), R: Ingmar Bergman.

Weiterführende Informationen

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