Navigation auf uzh.ch

Suche

Seminar für Filmwissenschaft

Ästhetik und Gestaltung

Vorlesung 16: WAS IST FILM?

Das letzte Mal wurde uns in der Auseinandersetzung mit der Frage nach der Gestaltung im Raum, nach der Ordnung im Raum mit Hilfe der optischen Achse Raumarchitektur als visuelle Vergegenwärtigung dramaturgischer Strukturen zum Thema.
In THE LITTLE FOXES von William Wyler wird in klares Licht getauchte, stimmungslos neutralisierte Raumarchitektur ein innerbildliches Bezugssystem der Handlungsstruktur. Jeder Gang, jede Geste, jedes Wort stehen im Spannungsfeld eines durch Podeste, Treppe, Ballustrade, Möbelstücke gebauten Innenraumes. Was man über Film und Visualität, über stimmiges Licht, Räumlichkeit und Plastizität, über den Schmelz des Filmischen und Filmogenen zu wissen glaubt, scheint hinfällig geworden zu sein. Nur wenn man genauer hinschaut, glaubt man sich in einem Lehrbuch über die subtile Anwendung der optischen Achse zu befinden, – ein Lehrbuch über den Einsatz der Schnittstellen, ohne sich in einer Montage zu fühlen.
Welles appliziert in CITIZEN KANE, wie dann übrigens auch in allen späteren Filmen, in der angewandten Demonstration seines „ästhetischen Realismus“ eine visuelle materielle Gegenständlichkeit, die Grossaufnahme und Totale als Überwindung der menschlichen Sehweise im gleichen Bild zur ebenbürtigen Plastizität werden lässt, als gälte es über eine Filmästhetik, die nur Expression – Ausdruck – (also nicht Expressionismus) sein will, die menschliche Sehweise der Realität in eine gestaltete, wenn nicht gar manipulierte Sehweise zu zwingen. Sein letzter Film F FOR FAKE, sein Film über Magier, Illusionisten, Künstler und Fälscher lässt sich in dem Sinne als Credo über die Hinfälligkeit des Kunstbegriffes verstehen, falls es gelingen könnte, Kunst im Leben aufgehen zu lassen, sodass die schmerzliche Spaltung in Kunst und Lebern zerbräche. Die Falschmünze Kunst würde hinfällig.
Magier und Illusionisten bräuchten kein Zauberland mehr zu beschwören, denn. Leben und Kunst wären im farbigen Ballon des Kindes eins geworden. Für seine Phantasmagorien beschwört Orson Welles Kunsträume als ästhetische Orte des Realismus mit allen Zaubermitteln filmischer Gestaltung und Machart. Für Wyler wird im neutralen, schlichten Licht ohne Stimmungsmalerei der Dekor-Ort der begehbare Raum eines Familiendramas. In der Kühle des Bildes handeln die Figuren, von einem Normalobjektiv angeschaut, wie gemeisselt scharf und klar. In beiden Filmen (CITIZEN KANE und THE LITTLE FOXES) arbeitete der gleiche Kameramann: Gregg Toland. Und beide Filme, so unterschiedlich sie sind, sind von einer intensiven Aussagekraft. In beiden Filmen werden implizit Aussagen, die ihre Bedeutung abverlangen, vorgenommen, und es wird nicht filmische Gestaltung veräusserlicht.
Dabei liesse sich Orson Welles CITIKEN KANE – wie übrigens auch F FOR FAKE wie eine Vorlesung über Filmästhetik und filmische Gestaltung visuell lesen, und Wylers Film wirkt wie die Verfilmung eines Theaterstückes, die nach Filmkunst befragt als unfilmisch abgetan würde. So stellt sich die Frage: Was ist Film?

In der Filmtheorie schlich sich über den filmischen Kunstbegriff eine gefährliche Unterscheidung ein, welche den Erzählcharakter des Films auf den Machcharakter eines Filmes – die Visualität der im Film selbst innewohnenden Welt auf eine bewusst gestaltete visuell und akustisch transformierte Welt einschränkte. Die Frage nach der filmischen Seinsweise wurde in der theoretischen Fixierung und unter dem Druck, Film als Kunst zu legitimieren, zur Darstellung dessen, was überhaupt an einem Film mit Kunst zu tun haben könnte. Damit wurde die Montage als bewusste Bearbeitung des kruden Filmmaterials zum Apodikt eines filmisch deklarierten Kunstbegriffes, und die beobachtende Kamera wurde in den Abbildrealismus verwiesen, selbst als es darum ging, die äussere Wirklichkeit zu erretten. Bleiben wir zunächst einmal beim Faszinosum der Montage.
Die Faszination über Montage der Bilder, den Bildern Sinn und Zusammenhang zu geben und aus der Abfolge der Bilder eine Bedeutung zu erschliessen, wurde Grundlage eines Filmkunst-Begriffes: In der bewussten Machart im stringenten Eingreifen des Regisseurs in das filmische Material sollte Film als Kunst ersichtlich werden – dies im Gegensatz zur rein realistischen Sehweise: Eine Kamera nimmt lumièregleich auf, was sich dem Kamera-Auge darbietet. Film-Kunst wurde somit mit der bewussten, vielfach auch theoretisch formulierten, tendenziellen Verarbeitung des filmischen Materials gleichgesetzt.
Deshalb erhielt z. B. Robert Flaherty als Dokumentarfilmer die Wertschätzung der Filmkunst-Sachverständigen, weil er das dokumentarisch, reportagehaft und vielfach chaotisch gewonnene Material in monatelanger Montagearbeit am Schneidetisch zur Fiktion einer zu vermittelnden Weltanschauung verarbeitete. Er produzierte Kunst, indem er die Bedeutung des Materials nicht in der im Material innewohnenden Bedeutung beliess, sondern das Material durch eine handwerkliche, ideologisch bestimmte Verarbeitung zum Kunstprodukt ausformulierte.

Was einem Flaherty recht war, war einem Wertow – dem russischen Dokumentarfilmer – Sinngebung. Der Unterschied ist nur, dass Wertow seine Montagearbeit als ideologisch und politisch wirkungsorientiert bezeichnete. Wenn ein Eisenstein im Umgang mit dem Bildmaterial von der Filmfaust spricht, welche den Zuschauern die Ideen und Beweggründe und Handlungsweisen und Denkmodelle einzuhämmern habe, wird die als Kunstmittel deklarierte Montage wiederum ersichtlich als das, was ist: nämlich nicht eine Erzählweise, sondern ein Kampfmittel, das weniger mit Kunst als vielmehr mit Propaganda zu tun hat. Nur eine Leni Riefenstahl hat es bis heute nicht erfasst, dass gerade ihre Verarbeitung eines immensen, dokumentarischen Materials über den Kunstgriff der Montage ins Vermittlungsschema faschistischer Ideologie einpasst.
Filmkunst hiess somit – durch alle filmtheoretischen Ideologien hindurch – Materialverfügbarkeit – d. h. filmisches Aufnahmematerial, ob dokumentarisch oder fiktiv, für die Gestaltung am Montagetisch gefügig zu machen.
Bei der Reduzierung des Kunstbegriffes auf die bewusste Montage dialektischen Zuschnitts wird übersehen, dass die seit Griffith entwickelte Erzählstruktur der unmerklichen Montage ebenso der Künstlichkeit bedarf. Denn durch die funktionelle, kausal bedingte Abfolge von Totalen, Nah-, Gross- und Detailaufnahmen wird der Zuschauer in die Handlung hineinversetzt, als wäre er voyeurhaft bei der vorgespielten Geschichte zu Gast. Die Unmerklichkeit des Schnittes hat zur Voraussetzung die Merklichkeit, genau dort den Schnitt zu applizieren, wo er am unscheinbarsten erlaubt, in Kongruenz, in emotioneller Übereinstimmung mit der Handlung, den Sprung in der Handlung, im Raum, im Bezugsystem zwischen den Personen situationsimmanent vorzunehmen. Übersehen wird auch, worüber wir zu Beginn der Lehrveranstaltung sprachen, dass die Wahl des Standortes, die Kadrage, die Sichtweise auch einer statischen Beobachtung, Schwenk, Kamerabewegung, Aussparung dessen, was man nicht zeigt oder hört, Haften am Objekt bewusste Gestaltung der vorgegebenen Wirklichkeit bereits bedeutet.

Selbst die Zufälligkeit einer Aufnahme kann wie geplantes Produkt erscheinen. Der fotografische Schnappschuss ergibt als Selektion aus der Vielzahl von Aufnahmen die Richtigkeit des Moments. Die Zufälligkeit des Augenblicks vermag dem Momentanen durch die Bannung auf das Zelluloid Gültigkeit zu verleihen.
Wenn man eine Ontologie des Films versucht, also auf die Seinsweisen des Films eingeht, sieht man sich immer wieder mit der Erscheinung konfrontiert, dass was sich sich als Sprache des Films, als das sogenannte Filmische ausmachen lässt, Schnitt, Montage, Visualismus, „Photogénie“, sich des Zugriffs entzieht.
André Bazin war der Filmtheoretiker, der sich bewusst diesen Kunstgriffen entzog und deshalb nicht nur Orson Welles entdeckte, sondern auch den Cartesianismus, die filmische Kargheit eines William Wyler, von dem wir das letzte Mal uns einen Ausschnitt aus THE LITTLE FOXES anschauten. Zunächst ein Zitat zu Wylers THE LITTLE FOXES:

Das Kino fängt ganz und gar nicht, wie Marcel Pagnol naiverweise möchte, mit dem Opernglas der Zuschauerin auf dem Balkon an. Die Größe und auch die Zeit tun nichts zur Sache. Das Kino fängt an, wenn der Rahmen der Leinwand oder die Nähe der Kamera und des Mikro dazu dienen, bei Handlung und Darstellung etwas hervorzuheben. In The Little Foxes hat Wyler am Stück, am Text und sogar am Dekor praktisch nichts geändert: Man könnte sagen, er hat sich darauf beschränkt zu inszenieren, wie ein Theatermann dies hätte können mögen, über den Rahmen der Leinwand verfügend, um gewisse Teile des Dekors abzudecken, und über die Kamera, um die Sessel näher heranzuholen. Welcher Schauspieler träumt nicht davon, den Unbeweglichen auf einem Stuhl zu spielen, vor fünftausend Zuschauern, denen keine Bewegung seiner Augen entgeht? Welcher Theaterregisseur möchte nicht den Zuschauer zwingen können, die Gänge der Personen ganz zu verstehen, in jedem Augenblick der Handlung seine Absichten leicht abzulesen? Wyler hat nicht mehr gewählt, als im Kino das Wesentliche einer Theaterinszenierung zu verwirklichen, besser noch, einer Theaterinszenierung, die sich bis hin zu Licht und Dekor weigert, dem Schauspieler und dem Text etwas hinzuzufügen. Aber es gibt zweifellos keine Einstellung in Jezebel, The Little Foxes oder B, keine Minute in diesen Filmen, die nicht reines Kino wäre.
Aus: Revue du Cinéma, 1948.

In der Auseinandersetzung mit William Wyler geht Bazin davon aus, dass man Wyler nie dabei ertappen konnte, dass er das Vertrauen auf die Form missbrauchte – dies im Gegensatz zu John Ford: „Es gibt einen John Ford-Stil und eine John Ford Manier“. Nicht einmal sich selbst hat Wyler nachgeahmt. Dies nennt Bazin die Ethik von Wylers Regie.
Damit kommen wir, im Zusammenhang mit der Frage, was ist Film, im Zusammenhang mit der Seinsweise des Films, mit der ontologischen Erscheinung des Films, zur Frage nach der filmischen Form, die über Gestaltung und Machart Filmästhetik definiert. Filmregie als Arbeitsprozess hat uns immer wieder beschäftigt. Ich nehme nun im folgenden einen längeren Text von André Bazin auf, in welchem er sich mit Wylers THE LITTLE FOXES und mit einer bestimmten Szene aus diesem Film auseinandersetzt. Es geht mir darum aufzuzeigen, dass wir uns nicht ein Bild davon machen, wie ein Film sein muss. Oder dass wir glauben, über theoretische Definitionen, wie sie auch immer lauten mögen, in filmkünstlerischer oder antifilmkünstlerischer Verbrämung und entsprechender Ideologisierung, das. Koordinatensystem gefunden zu haben, dass uns erlaubt, Wertungen abzugehen, die abgesichert erscheinen. Ein Problem, das nicht nur die Filmkritik angeht, sondern all die Förderungsgremien, Filmschulen und letztlich auch meine Vorlesung über das Spannungsfeld tradierter Filmästhetik und filmgestalterischer Praxis und Machart als Arbeitsprozess.
Doch zunächst der Text von André Bazin:

Wenn man versuchen wollte, die Regie dieses Films ausgehend von der „Form“ zu charakterisieren, müßte man eine negative Definition geben. Das ganze Streben der Regie geht dahin, sich selbst aufzuheben; der entsprechende positive Satz wäre, dass im Extrem die dramatischen Strukturen und der Schauspieler in ihrer höchsten Macht und Klarheit erscheinen.
Die ästhetische Bedeutung dieser Askese zeigt sich vielleicht klarer, wenn wir sie am Beispiel von The Little Foxes betrachten, weil sie dort bis zum Paradox getrieben wird. Das Stück von Lillian Hellmann ist kaum bearbeitet worden: der Film hat den Text fast vollständig respektiert. Unter diesen Umständen war es begreiflicherweise schwierig, die bewegten Aussenszenen einzubauen, die die meisten Regisseure als unerlässlich erachtet hätten, um etwas „Kino“ in diese theatralische Masse hineinzubringen. Die gute Bearbeitung besteht gewöhnlich genau darin, das Maximum dessen, was von den literarischen und technischen Zwängen des Theaters befreit werden kann, in die dem Kino eigenen Mittel zu „transponieren“. Wenn man Ihnen sagt, Herr Berthomieu zum Beispiel habe gerade das letzte Stück von Henry Bernstein auf die Leinwand gebracht, ohne eine Zeile daran zu verändern, fangen Sie an, unruhig zu werden. Wenn der Unglücksbote hinzufügt, dass neun Zehntel des Films sich im selben theatermäßigen Salondekor abspielen, werden Sie denken, dass Sie noch viel zu lernen haben über den Zynismus der Produzenten von verfilmtem Theater, aber wenn er dann noch verkündet, daß das Drehbuch des Films keine zehn Kamerabewegungen zählt und dass die Kamera die meiste Zeit darauf beschränkt ist, unbeweglich vor den Schauspielern zu stehen; wird Ihre Meinung endgültig feststehen: „Nun ist es aber genug.“ Und doch hat Wyler unter diesen paradoxen Voraussetzungen eines der reinsten kinematographischen Werke überhaupt geschaffen.
Das Wesentliche spielt sich in demselben Dekor von totaler Neutralität ab: Dem Salon im Erdgeschoss eines geräumigen Hauses im Kolonialstil. Im Hintergrund führt eine Treppe zu den Zimmern des ersten Stocks, das Zimmer von Bette Davis neben dem von Herbert Marshall. Nichts Eigentümliches gibt diesem dramatischen Ort, der so unpersönlich ist wie die Vorzimmer der klassischen Tragödien, eine realistische Note. Die Protagonisten haben einen wahrscheinlichen, aber konventionellen Vorwand, dort aufeinander zu treffen, indem sie von draussen oder aus ihren Zimmern kommen. Sie können dort auch zurückbleiben. Die Treppe im Hintergrund des Salons spielt exakt die Rolle eines Theaterpodests: Es ist ein blosses Element dramatischer Architektur, das dazu dient, die Personen in der Vertikale anzuordnen. Nehmen wir die Schlüsselszene des Films mit dem Tod Herbert Marshalls, die sich in eben diesem Dekor abspielt. Ihre Analyse offenbart deutlich die wesentlichen Geheimnisse von Wylers Stil.

Schauen wir uns zunächst einmal die entsprechende Szene aus William Wylers THE LITTLE FOXES an.

1. The Little Foxes, Ausschnitt Sterbeszene, 3 Minuten, Video s/w

Keine Minute in diesem Film sei nicht reines Kino, sagt Bazin in seinem Aufsatz „William Wyler oder der Jansenist der Inszenierung“.


Bazin nimmt folgende Interpretation vor (S. 43f.):

Bette Davis sitzt im Mittelgrund, dem Publikum zugewandt, ihr Kopf in der Mitte der Leinwand; ein sehr brutales Licht betont noch den weißen Fleck dieses sehr geschminkten Gesichts. Im Vordergrund angeschnitten Herbert Marshall, sitzend, im 3/4-Profil. Die unversöhnlichen Repliken zwischen der Frau und dem Ehemann folgen aufeinander, ohne dass die Einstellung sich ändert, dann kommt der Herzanfall des Mannes, der seine Frau anfleht, ihm seine Tropfen aus dem Zimmer zu holen. Von diesem Moment an liegt alles dramatische Interesse im Hervorheben der Bewegungslosigkeit. Marshall ist gezwungen, aufzustehen und selbst das Medikament zu holen. Diese Anstrengung wird ihn auf den ersten Treppenstufen töten.
Im Theater wäre diese Szene wahrscheinlich genauso aufgebaut worden. Ein Scheinwerfer hätte Bette Davis anleuchten können, und der Zuschauer hätte das gleiche Entsetzen empfunden über ihre kriminelle Bewegungslosigkeit, die gleiche Angst, den taumelnden Gang ihres Opfers zu verfolgen. Aber allem Anschein zum Trotz bedient sich Wylers Regie maximal der Mittel, die ihm die Kamera und die Kadrage bieten. Der Platz von Bette Davis in der Mitte der Leinwand gibt ihr eine privilegierte Position in der dramatischen Geometrie des Raums, die ganze Szene kreist um sie, aber diese fürchterliche Bewegungslosigkeit verdankt ihre Evidenz nur dem zweimaligen Heraustreten Marshalls aus dem Bild, im Vordergrund rechts und dann im Hintergrund links. Anstatt ihm in dieser seitlichen Bewegung zu folgen, was die natürliche Reaktion eines weniger intelligenten Auges gewesen wäre, bleibt die Kamera unerschütterlich bewegungslos. Als Marshall schließlich zum zweiten Mal ins Bild tritt und die Treppe hinaufgeht, war Wyler sehr darauf bedacht, seinen Kameramann Gregg Toland zu bitten, nicht die ganze Tiefe des Bildes scharf zu zeigen, so dass Marshalls Sturz auf der Treppe und sein Tod vom Zuschauer nicht klar erkannt werden können. Diese technische Unschärfe verstärkt unser Gefühl der Unruhe, wir müssen versuchen, in der Ferne und über die Schulter von Bette Davis, die ihm den Rücken zukehrt, den Ausgang eines Dramas zu erkennen, dessen Protagonist für uns halb unsichtbar bleibt. Man sieht nicht nur, was das Kino hier zu den Mitteln des Theaters alles hinzufügt, sondern ausserdem, dass der grösste kinematographische Koeffizient paradoxerweise mit dem Minimum an Inszenierung zusammenfällt. Nichts konnte die dramatische Kraft dieser Szene besser verstärken als die absolute Bewegungslosigkeit der Kamera. Die geringste Bewegung, die einem weniger klugen Regisseur genau als das unabdingbare filmische Element erschienen wäre, hätte die dramatische Spannung abfallen lassen. Hier nimmt die Kamera keinesfalls den Standpunkt irgendeines Zuschauers ein. Sie ist es, die durch die Kadrierung des Bildes und die idealen Koordinaten seiner dramatischen Geometrie die Aktion organisiert.

Anhand der Unbeweglichkeit der Kamera zeigt André Bazin auf, wie Wyler im asketischen Einsatz filmischer Gestaltung genau das leistet, was nur, auch wenn auf der Bühne die Szene genau gleich inszeniert worden wäre, eine auf die Aussage bezogene Filmmästhetik zu leisten vermag.

Was ist Film?
In PIERROT LE FOU formuliert Samuel Fuller, der amerikanische Actionregisseur, der von Godard heiss geliebt wird: „Film is like a battleground. Love, hate, action, violence and death. In one word: Emotion.“

Chris Marker sieht sich als Dokumentarfilmer. Er sieht sich aber zugleich nicht nur als Kommentator seiner Filme, sondern auch seiner selbst, seiner vom ihm angewandten Gestaltung. Das Objekt ist gegeben, z. B. seine Sicht auf das russische Sibirien, auf den Aufstand in Algerien, auf das heutige Japan.
In SANS SOLEIL wird die Auseinandersetzung mit dem heutigen Japan eine leicht hingeworfene Causerie, als würden wir in einem Literaten-Caféhaus sitzen.
In seinem Film LETTRE DE SIBERIE – schon der Titel ist bezeichnend für die trotz des politischen Engagements gegebene Ambivalenz – schiebt er mitten in der Darstellung über das russische Sibirien eine Reflexion über dokumentarische Aussage ein.
Auf ein Lied, das uns russisch einstimmt – es ist ein Lied auf den fernen Sängerfreund Yves Montand – folgen vier Einstellungen, die Chris Marker zu drei verschiedenen Texten wiederholt.
Zuerst das Beispiel:

2. Lettre de Sibérie, Video, 3 Minuten

Sie haben den Text in Übersetzung.

Bilder1. Kommentar2. Kommentar3. Kommentar
Jakutsk, Hauptstadt der autonomen sozialistischen Republik Jakutien, ist eine moderne Stadt, in der bequeme, der Bevölkerung zu Verfügung gestellte Busse sich die Strassen teilen mit Zyms, dem Stolz der sowjetischen Automobilindustrie. ImJakutsk ist eine finstere Stadt mit einem üblen Ruf. Die Bevölker wird in blutrote Busse gepfercht, während die Angehörigen der priviligierten Kaste schamlos den Luxus ihrer Zyms zur Schau stellen, eines teuren, aber unbequemen Autos. In Jakutsk, wo moderne Häuser allmählich die düsteren, älteren Teile ersetzen, fährt ein Bus, der weniger überfüllt ist als sein Pendant in Paris während der Stosszeit, an einem Zym vorbei, ein ausgezeichneter Wagen, der – weil davon nur relativ wenige produziert werden – den öffentlichen Diensten vorbehalten ist.
freudigen Geist sozialistischen Wetteifers bemühen sich glückliche sowjetische Arbeiter, unter ihnen dieser pittoreske BewohnerUnter der Last der Arbeit, gebeugt wie Sklaven, mühen sich die armseligen sowjetischen Arbeiter, unter ihnen dieser finster dreinblickende Asiate,Mit Mut und Zähigkeit und unter sehr extremen Bedingungen bemühen sich die sowjetischen Arbeiter, unter ihnen dieser Jakute,
der arktischen Regionmit ihrer primitiven Arbeit ab,der an einer Augenkrankheit leidet,
Jakutsk noch lebenswerter zu machen. Oder anders:die Strasse mit einem Balken zu planieren. Oder einfach:das Aussehen ihrer Stadt zu verschönern, die es nötig hat.

Was macht eigentlich Chris Marker mit uns:
Anhand von vier Einstellungen und drei verschiedenen Texten schafft es Chris Marker, die dokumentarisch, abgesicherte Bedeutung seiner Bilder aufzuheben.
Dem Zuschauer wird angeraten, sich zwar die Bilder anzuschauen, aber hinfort den von Chris Marker vermittelten Text in Frage zu stellen. Und für den Rest des Films hat der Zuschauer mit seiner Verunsicherung zu leben.
Und wenn der Text als diegetische Bestimmung das Bild determiniert, bricht auch die Frage auf, wie steht es mit den Bildern, die gezeigt respektiv nicht gezeigt werden. Wir haben nicht nur mit der Fragwürdigkeit sprachlicher Diegese zu leben, sondern auch mit der Fragwürdigkeit der Bilder, die uns als abgesichert vorgesetzt werden. Darüber weiss nur der Autor Bescheid. Doch nicht einmal dies ist sicher, wenn der Macher seine eigene Macherei nicht reflektiert.
Schauen wir uns noch einmal das Beispiel an. Auch des Inhalts können wir nicht sicher sein. Durch den formalen Einsatz dreier Texte zu vier gleichen Bildern werden wir dieser Sicherheit beraubt.

Lasst uns Bildern vertrauen. Wir schauen, uns einen kleinen Stummfilm aus dem Jahr 1929 an.

3. Fräulein Else, s/w, 7 Minuten ohne Ton

Haben Sie die Geschichte verstanden?
Oder Sie assoziieren sogar den Stoff.
Es handelt sich um die Verfilmung von Arthur Schnitzlers Novelle „Fräulein Else“ durch Paul Czinner mit Elisabeth Bergner in der Hauptrolle. Es ist die Geschichte von Fräulein Else, die, um ihren hochverschuldeten Vater vor dem drohenden Bankrott zu retten, einen Freund der Familie, den reichen Kunsthändler von Dorsday um Hilfe angeht. Er ist bereit, ihr beizustehen unter der Bedingung, ihre nur mit dem Sternenlicht bekleidete Schönheit sehen zu dürfen.
1959 sprach Elisabeth Bergner zum Stummfilm den Text von Arthur Schnitzlers Novelle ein. Auch hier, wie Sie feststellen können, bestimmt die Sprache das Bild. Die Sprache verhält sich diegetisch zum filmischen Bild. Die Geschichte ist gegeben in der Abfolge der Bilder. Doch es ist nicht nur die Sprache, welche aus den Bildern einen anderen, einen neuen Film macht, sondern auch die Sprechweise der Bergner. Was der Film nicht zu vermitteln vermag oder der Film hätte vielleicht nur mit einer subjektiven Kamera gedreht werden müssen, ist die Vergegenwärtigung eines inneren Monologes. Auf Grund des Textes sieht man andere Dinge: Z. B. die Schlaftabletten „Veronal“ in der Schublade. Die Buchstaben VER erhalten über die Sprache einen Bildbezug. „Versuch einer Kombination“ wurde die nachträgliche Vertonung mit dem durch Elisabeth Bergner eingesprochenen Text bezeichnet.
Aufschlussreich im Sinne einer diegetischen Veränderung und Neubestimmung durch die Sprache ist, wie Text und Stimme das Bild zu dominieren, zu dramatisieren beginnen, wobei besonders der Sprachduktus Elisabeth Bergners die Bildsprache funktionalisiert.

4. Fräulein Else, 2. Visionierung mit Ton

Kehren wir zu einem Film zurück, der von Bildern und Tönen lebt: Peter Greenaway baut eine artifizielle Kunstwelt in seinen Filmen auf. Ihm gegenüber, gleichsam als Alternative zu einem ritualisierten manirierten Kunstverständnis steht ein Derek Jarman, der wild, chaotisch, formlos, aber ganz den Bildern und den Tönen vertrauend eine Film-Welt aus Video- und Super-8-Familienaufnahmen, aus 16mm-Inszenierungsstücken in einer Montage von Trümmern, Kitsch und Aussage die Leinwand wie eine Explosion behandelt.
Ich zeige Ihnen im folgenden zwei Ausschnitte aus THE LAST OF ENGLAND: eine ganz auf emotionelle Wirkung eingestellte Untergangsvision. Was von England übrig geblieben ist an verlorenen Utopien, Relikten industrieller und gesellschaftlicher Entwürfe, wird in direkten, wilden Bildern auf die Leinwand geschleudert.
Aus dem Dokumentaraufnahmen eines total verwahrlosten jungen Mannes im konservativen Wohlstandsengland entsteht die Montage des untergehenden Empire mit Bildern der Terroristen-Gegenwart, historischen Monumenten und englischer Kolonial-Vergangenheit.

5. The Last of England, Blumenkohl und Indien, 4 Minuten, Farbe

Ich zeige Ihnen zum Abschluss die ungemein emotionell intensive Schlusssequenz aus THE LAST OF ENGLAND.
Zur Hochzeit kostümiert sich  das noch verbliebene, der Utopien beraubte England. Der Kinderwagen ist mit einer Kriegsnachricht zugedeckt. Die Gruppe bricht zur Trauung auf. Bilder wie aus dem Familienalbum, dem Familienfilm, das Paar für den Fotografen. Hochzeit und Untergang, Schönheit und Zerstörung.
Es folgt eine Sequenz, die aus dem Underground-Kino genährt ist, jedoch in voller Selbstverständlichkeit als Kino auf der Leinwand expandiert. Die Kamera schaut die Braut an, die in wilder Auflösung, ihr Kleid zu zerfetzen versucht und in einen taumelnden Tanz verfällt, zerfällt.
Was sich abspielt, ist die vollkommene filmische Hingabe. Dazu gehört nun auch ein Ton, der der hektischen Bildbewegung den langen Atem eines akustischen Crescendo gibt.

6. Tha Last of England, Ensequenz

Erläuterungen:

  • Ontologie: Teilgebiet der theoretischen Philosophie, befasst sich mit einer Einteilung des Seienden und den Grundsätzen der Wirklingkeit und der Möglichkeit.
  • Photogénie: beschreibt die ästhetische oder poetische Bedeutungssteigung von Objekten durch ihre filmische Abbildung.

Filmografie:

  • THE LITTLE FOXES (USA 1941) R: William Wyler, B: Lillian Hellman, Arthur Kober, Dorothy Parker, Alan Campbell, K: Gregg Toland, M: Meredeht Willson, P: Samuel Goldwyn, D: Bette Davis (Regina Giddens, Herbert Marshall (Horace Giddeons), Teresa Wright (Alexandra Giddens), Richard Carlson (David Hewitt), Dan Duryea (Leo Hubbard)
  • LETTRE DE SIBERIE (FR 1957) R: Chris Marker, K: Sacha Vierny, Kommentar gesprochen von Georges Rouquier, M: Pierre Barbaud, Georges Delerue, P: Argos-Films und Procinex
  • FRÄULEIN ELSE (DE 1929) R: Paul Czinner, B: Paul Czinner nach der Vorlage von Arthur Schnitzler, K: Karl Freund, Adolf Schiasy, Robert Baberske, P: Poetic-Film, Berlin (Paul Czinner), D: Elisabeth Bergner (Else), Albert Basserman (Thalhoff), ALbert von Steinrück (von Dorsday), Adele Sandrock
  • THE LAST OF ENGLAND (GB 1987) R: Derek Jarman, B: Derek Jarman, K: Richard Heslop, Derek Jarman, Christopher Hughes, Cerith Evans, M: Simon Fisher Turner, Andy Gill, P: Angelo International für British Screen, Channel Four und ZDF (James Mackay, Don Boyd), D: Spring Mark Adley, Gerrard McArthur, John Philipps, Gay Gaynor, Matthew Hawkins, Tilda Swinton

Bibliografie:

  • BAZIN, André: Filmkritiken als Filmgeschichte. München: Hanser 1981. (=Arbeitshefte Film, 7), S. 41ff.

[Red.: TC Stand 15.4.14]

Weiterführende Informationen

Title

Teaser text