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Seminar für Filmwissenschaft

Ästhetik und Gestaltung

Vorlesung 15

Am Ende der letzten Vorlesung zitierte ich aus Italo Calvinos Roman „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“, einem Roman, der aus Anfängen von Erzählungen besteht, die nicht beendet werden, so dass der Leser für sich ein Ende finden muss, falls er es finden und nicht die Erzählung dort belassen will, wo sie im Flusse des Lesens abbricht.

Der siebente Leser unterbricht dich: „Glauben Sie etwa, jede Geschichte müsste einen Anfang und ein Ende haben? In alten Zeiten konnten Erzählungen nur auf zwei Arten enden: Nachdem Held und Heldin alle Prüfungen überstanden hatten, heirateten sie oder starben. Der letzte Sinn, auf den alle Erzählungen verweisen, hat zwei Gesichter: Fortgang des Lebens, Unausweichlichkeit des Todes“.

Unser kinematographisches Spiel mit den Miniaturdramen in Bildern, in Einzeleinstellungen aus Robert Wilsons VIDEO 50 führte uns zwar nicht zur Unausweichlichkeit des Todes, aber es zeigte uns auf, dass in den einzelnen Bildern viele Geschichten liegen und, wenn diese in den Bildern innewohnenden Geschichten mit anderen Bildern verbunden werden, die Möglichkeit einer einzigen Geschichte erwächst.
Mit Wilsons Miniaturdramen stieg ich in die Thematik von Erzählstrukturen ein. Sie lassen sich auch im historischen Kontext beibringen. Nämlich: Was wir experimental anhand von Wilsons Bild-Bedeutungsexperiment versuchten – die im Bild innewohnende und durch den Bildbezug sich ergebende Vieldeutigkeit oder Eindeutigkeit der Aussage und somit der Folgerichtigkeit einer Erzählung aufzudecken – lässt sich filmgeschichtlich genau fixieren. Die Erfahrung, dass Bedeutung im Bild liegt und durch Bildbezug sich verändert, steht am Anfang filmischer Erzählstrukturen.
Dabei lassen sich zwei Tendenzen feststellen. In Totalen werden Nah- und Grossaufnahmen eingeschnitten, so dass eine Handlungsabfolge entsteht. Totale: Ein Verkäufer passt einer Kundin Schuhe an.
Wie auf einer Bühne werden verschiedene Dekors nebeneinandergestellt und die Handlung findet entweder gleichzeitig oder sukzessiv im jeweiligen Raum statt. So gehen z. B. Ivette und Pierreuse in einem der frühesten Pathé-Gaumont Filme – um 1900 – zu Bett. Die Szene zeigt zwei Zimmer. Links legt sich eine Prostituierte, die von ihrem Zuhälter gequält wird, in ihrem lumpigen Zimmer schlafen. Rechts geht eine hübsche Dame in einer schönen Wohnung schlafen. Unzählige solche Milieufilme kamen um 1900 als Umsetzungen der Zeichnungen aus der Zeitschrift „La Vie Parisienne“ in die Kinos. Grundlage war stets eine Parallelhandlung. Die Trennwand war die in die Dekoration gelegte Schnittstelle.
Damit stellt sich die Frage, was geschieht, wenn die in theatralischer Anlehnung in ein simultanes Dekor gelegte Parallelhandlung in eine bildliche Sukzession umgesetzt wird – d. h. die Schnittstelle der Dekoration zum zeitlichen Schnitt einer bildlichen Abfolge wird, so dass eine Chronologie der Ereignisse entsteht.
In LOVE'S PERFIDY (Biograf, 1905) liest rechts eine Frau in einem Buch. Links steht die Zofe vor einem Spiegel. Gemäss der Handlungssimultanität haben die beiden Frauen nichts von einander zu wissen. Daraus ergibt sich folgende Umsetzungs-Möglichkeit: Die Frau liest im Buch. Schnitt. Die Zofe steht vor dem Spiegel. Schnitt. Die Türe geht auf und die Zofe überrascht die Frau bei der Lektüre. Das Erschrecken der Frau lässt auf den Inhalt des Buches schliessen: „La Vie Parisienne“.
Nun lässt sich filmgeschichtlich ein faszinierender Prozess verfolgen. Weil parallele Handlungen – auf Grund des inhaltlichen Plots – unterbleiben, bringen bildliche Sukzessionen die an verschiedenen Orten angesiedelte Handlungen in eine kausale Abhängigkeit. Dadurch entsteht eine folgerichtige visuelle Erzählung.
Zu den beliebtesten Themen der filmischen Frühzeit gehören die sogenannten „Fireman-Filme“: Einsatz der Feuerwehr und Rettung von Menschen. Zwei Handlungen spielen sich nebeneinander ab, bis sie ineinander greifen. Der Brand und die Menschen, die gerettet werden sollen, und der Einsatz der Feuerwehr – d. h. parallel und simultan eine Handlung im Innern und eine draussen, bis die Rettung ins Haus eindringt und Innen und Aussen sich verbinden.
Der bekannteste Film aus diesem Umkreis der Feuer- und Rettungsfilme ist Edwin Porters THE LIFE OF AN AMERICAN FIREMAN 1903.
Bereits die 1. Einstellung des Films thematisiert die Simultanität. Der Feuerwehrhauptmann ist eingeschlafen und träumt, wie seine Frau das Kind zu Bett bringt. Sein Traum ist simultan im Bild sichtbar. Er wacht auf und beginnt unruhig hin und her zu gehen, als wäre etwas geschehen. Eine Ahnung tendiert zur nächsten Einstellung:

2. Einstellung: Grossaufnahme einer Feueralarmanlage, die genau angeschrieben ist. Eine Hand öffnet das Gehäuse und der Alarm wird ausgelöst.

3. Einstellung: Totale des Mannschaftsraumes. Die Wirkung des Alarms ist sofort ersichtlich. Die Männer stehen auf, rennen zur Stange und lassen sich hinuntergleiten. Die vorangegangene Grossaufnahme löst visuell einen Effekt aus. Sie löst die folgende Einstellung aus.

4. Einstellung: Als Weiterführung der vorangehenden Einstellung sieht man die Feuerwehrleute in den unteren Raum gleiten und mit dem Feuerwehrwagen davonfahren.

5.-7. Einstellung: Sie fahren durch die Strasse und kommen vor dem brennenden Haus an, wo bereits die Rettungsarbeiten begonnen haben.

Wie die Feuerwehrwagen bei der Brandstelle eintreffen, fallen die verschiedenen Beschreibungen und erhaltenen Fassungen auseinander. Entweder werden in einer linearen Erzählform und mit minimen Ansätzen zu einer Parallelmontage zwei Handlungen gezeigt: Was sich im Hause abspielt: Die Verzweiflung der Mutter, welche ohnmächtig zusammenbricht und die Rettung durch den Feuerwehrmann.
In der Folge werden in anderen Fassungen und Beschreibungen die zwei parallel verlaufenden Handlungen alternierend geschnitten.
Wahrscheinlich bestand zunächst eine linear erzählte Fassung und wie die Rezeptionserfahrung vielschichtiger wurde, wurde auch der Ansatz zu einer Parallelmontage gewagt. Denn es war in der Frühzeit des Films durchaus üblich, dass selbst der Filmvorführer den Film kreativ um änderte. Schauen wir uns die ungefähre Originalfassung von 1903 an:
Bezeichnend ist, solange linear erzählt werden kann – die Feuerwehrleute erheben sich, gleiten an den Stangen herunter, sprengen mit ihren Wagen durch die Stadt – sind die Schnitte als Anschlussstellen im Übergang von einem Ort zum anderen gelöst. Es entsteht eine folgerichtige Kontinuität. Es gibt zwar auch hier motorische Störungen, z. B. bei der Stange vom oberen in den unteren Raum, beim Öffnen der Tore, aus denen die Pferde raus sprengen.
Doch wie nun die Rettung der Frau und des Kindes gezeigt werden sollte, werden die beiden Erzählstränge einfach aneinander gehängt: Einmal die Rettung von innen, dann die Rettung von aussen. Zunächst die Originalfassung aus dem Jahr 1903

1. LIFE OF AN AMERICAN FIREMAN, 4 Min.

Je nach Katalogbeschreibung oder erhaltenen Fassung ist das Wechselspiel von innen und aussen dramatischer, mehr mit Handlung versehen und kausaler bezogen.
Im „Museum of Modern Art“ in New York findet sich folgende Kopie, die im 2. Teil eine zeitlich logische Abfolge wiedergibt.

8/1 Totale innen. Die Mutter erhebt sich und geht gegen das Fenster im Hintergrund.
9/1 Totale aussen. Die Mutter neigt sich zum Fenster heraus und fleht um Hilfe.
8/2 Totale innen. Die Mutter bricht auf dem Bett ohnmächtig zusammen.
9/2 Totale aussen. Ein Feuerwehrmann schlägt die Türe des Hauses ein und dringt ins Haus ein.
8/3 Totale innen. Durch die Türe rechts tritt ein Feuerwehrmann ein, zerschlägt mit einer Axt das Fenster.
9/3 Totale aussen. Die Feuerwehrleute legen eine Leiter an die Wand, während andere das Haus bespritzen.
8/4 Totale innen. Ein Feuerwehrmann nimmt die Frau in seine Arme und begibt sich durch das Fenster nach aussen.
9/4 Totale aussen. Der Feuerwehrmann steigt mit der Frau in den Armen die Leiter hinunter. Unten angelangt, fleht die Frau dramatisch, dass man das Kind rette.
8/5 Totale innen. Der Feuerwehrmann kommt durch das Fenster, nimmt das Kind.
9/5 Totale aussen. Die Frau ist verzweifelt.
8/6 Totale innen. Der Feuerwehrmann geht mit dem Kind durch das Fenster nach aussen.
9/6 Totale aussen. Der Feuerwehrmann steigt mit dem Kind die Leiter herunter. Die Mutter umarmt das Kind.
8/7 Totale innen. Durch das Fenster kommen zwei Feuerwehrleute und löschen das Feuer.

Heute nimmt man an, dass diese Fassungen erst in den Dreissigerjahren mit solchen Kausalbezügen geschnitten wurden. Ich zeige Ihnen eine solche Fassung. Wann auch immer diese Fassung entstand, zeigt uns der Vergleich zwischen der Originalfassung aus dem Jahre 1903 und den späteren Variationen auf, welch langer Weg beschritten wurde, bis man wagte, parallele Handlungen ineinander greifen zu lassen. Obwohl die Handlungsorte getrennt sind, gilt es, die Kausalität der Ereignisse und damit auch die Handlungsabfolge in eine Handlungschronologie zu bringen.
Mit ungeheurer Mühe wird über Schnittmuster, Bildbezüge, präzisen Schnittstellen aufgebaut, was ein Angelopoulos schliesslich in der Plansequenz in eine einzige Einstellung zusammenfassen wird.

2. LIFE OF AMERICAN FIREMAN, 2 Minuten

Dies war der Anfang einer langen Auseinandersetzung mit filmischen Erzählstrukturen, die über Schnitte und Montagen versuchten verschiedene parallel und simultan verlaufende Handlungen in ein kausal bezogenes Schnittmuster zu bringen, so dass trotz Brechung der filmischen Zeit, indem ineinander verschachtelt gezeigt wurde, was parallel sich abspielte, eine erzählerische Folgerichtigkeit entstand.
Ich zeige Ihnen ein Beispiel aus THE BIRTH OF A NATION (1915). Griffith versuchte immer wieder, in Anlehnung an Dickens' realistische Erzählweise, über Parallelmontage linear zu erzählen, indem er die Bildfolge einem Kausalitätsprinzip unterwarf.
In ein Städtchen im Süden dringen schwarze Banditen ein und bedrohen eine weisse Familie. Griffiths Film ist sehr rassistisch. Die Bewohner ziehen sich ins Haus zurück. Wir schauen uns zunächst die Sequenz an.

3. THE BIRTH OF A NATION, 3 Minuten

Machen wir zunächst die Schauplätze aus: Auf welchen Schauplätzen spielt sich die in sich geschlossene Sequenz ab:
1. Die Strasse vor dem Haus und der Eingang zum Haus.
2. Der erste Innenraum, das Entrée – wie ist die Struktur des Hauses.
Der zweite Innenraum, der in einen dritten führt.
Der dritte Innenraum mit dem Zugang in den Keller.

4. Der Keller
5. Die Situation hinter dem Haus.

6. Die freie offene Landschaft, aus der die Hilfe auf die Kamera zukommt.

Was wir also vorfinden, ist ein Innen und ein Aussen. Und durch das Vordringen der Angreifer wird diese Struktur ins Innere des Hauses verlegt – es gibt immer ein neues Innen und Aussen.
Die Parallelität der Handlung verschiebt sich durch die Räume nach Innen. Verwirrend ist, ist, dass die Parallelmontage in der Ortsverschiebung wie eine Klammer den Aussenraum belässt: 1. die Strasse, 2. die Landschaft, welche die Funktion der Hilfe bekommt, und 3. der Kampf hinter dem Haus.
Eine literarisch epische Schilderung, die Seiten zu umfassen vermag – man denke an die realistische Literatur des 19. Jahrhunderts mit ihren akribischen Beschreibungen von Orten und Situationen – eine breit angelegte epische Schilderung wird in die Dramaturgie einer mehrfach in sich verschachtelten Parallelmontage gebracht. Dies 1915, in einer Zeit, da man erst beginnt in grossen Bögen visuelle Geschichten als verständlich und nachvollziehbar zu entwickeln.

In der Verbindung von Innen- und Aussaufnahmen als Grundstruktur einer Parallelmontage wollte Griffith literarische Erzählung in eine visuell-filmische Story binden, episches Erzählgut in dramatische Aktion umsetzen.
Für eine Citroën-AX-Reklame ist dies heute als teurer Kinospass zum filmästhetischen Spielvergnügen geworden. Auch im folgenden Beispiel spielen Innen und Aussen eine entscheidende Rolle. Doch die formale Thematik wird linear gelöst, obwohl in der inhaltlichen Klammer eine Parallelmontage vorliegt.

4. CITROËN-AX-REKLAME

Zunächst: So teure Filme können in Frankreich nur in der „Pub“, wie die Franzosen liebevoll neben dem Minitel ihr liebstes audiovisuelles Kind – „Publicité“ – nennen, gedreht werden: reines Action-Kino. In diesem Reklamefilm wird jedoch nicht nur Action unterhaltsam angeboten, sondern sekundenschnell über Innen- und Aussenmontage ein reichhaltiges Erzählgut vermittelt. Draussen eine asiatische Landschaft, drinnen das Liebespaar, draussen die rasante Autofahrt über einen Zug hinweg, der überall sein könnte, drinnen der Speisewagen, der parallel zum Eisenbahncoupé zu setzen ist. Denn es ist Essenszeit, der Speisewagen ist voll, während die Frau für ihren im Schlafwagencoupé dösenden Mann ein Schinkensandwich holt. Wie eine Klammer schliessen die Innenaufnahmen im Kontrast zu den Aussenaufnahmen einen pointierten Inhalt zusammen. Geradezu eine Parodie auf eine mögliche Metasprache ist der Dialog „Revolutionärin?“, fragt der Kellner im Speisewagen. „Sind Sie eine Revolutionären?“ – will dies heissen. – „Nein, nur zwei Schinkensandwich“. Dazu das Victory-Zeichen, das zugleich die Bestellung signalisiert.
Dabei gilt es einen Citroën-AX publizitätswirksam anzubieten.
Schauen wir uns noch einmal Montagestruktur, Inhaltsfülle und die über Action vermittelte Ideologie an. Selbst Montagefehler lassen sich finden. Nämlich die optische Achse wird gebrochen. Achten Sie, von welcher Seite der Citroën in den Speisewagen einfährt, desgleichen schlägt sich die Akrobatik auf diesen Zug in Brechungen der optischen Achse nieder.

Es fiel ein Stichwort: Optische Achse. Ich blende auf Griffith zurück. Mit der Parallelmontage versuchte Griffith verschiedene Orte und Handlungsverläufe so miteinander zu verbinden, dass trotz der Brechungen der Eindruck einer linearen Erzählweise entsteht. Die Verstrickung verschiedener Handlungsabläufe wird einer formalen Ordnung unterworfen. Die Form bekommt die Aufgabe für die Darstellung einer in sich verschachtelten Erzählung eine dramatische Ausgestaltung zu schaffen, welche den Handlungsablauf einsichtig und verständlich macht.
Zu diesem Anspruch, den Fortgang einer Erzählung zu verstehen, gehört: Die optische Achse – d. h. die Ordnung im Raum.

Bauen wir um.
Die Tische hier sind eine Bartheke in einem Westernsaloon. Hier von Ihnen aus links geht die Türe hinaus auf den Platz, wo sich auch Coiffeur, Landbank und der Sheriffposten mit dem kleinen Gefängnis befinden. An der Wand sind die Flaschen und Gläser, die als Zielscheiben geeignet sind. Rechts oben, von Ihnen aus, kommt eine Treppe runter, vom oberen Stockwerk, wo die Mary in der Badewanne liegt. Hier sind einige Tische.
Wer würde den Outlaw spielen?
Wer den Sheriff?

Auftritt des Outlaw von oben
Der Sheriff kommt zur Türe rein – beide stellen sich hin an die Theke – Spiel an der Pistole, – Wechsel der Position – er schiesst oder sie ziehen, beide rechts, und beide schiessen in die gleiche Richtung. Optische Achse.
Dritte Figur, der Freund des Outlaw, der zwischen Gesetzestreue und Freundschaft steht: Grenzgänger zwischen Böse und Gut.
Die optische Achse schafft Ordnung im Raume.
Daraus entsteht auch der Eindruck von natürlicher Kontinuität: Eine Figur läuft von links nach rechts durch eine Stadt.
Kommt eine Figur plötzlich von rechts nach links, schaut genauer hin, ob dies die gleiche Figur ist.

Sie drehen einen Film über die Sicherheit der SBB: Ein Zug fährt von rechts nach links, über Wiesen, durch Schluchten, Seen entlang, und Sie drehen, weil das Licht so schön ist, der Hintergrund so pittoresk, einen Zug, der von links nach rechts fährt, und schneiden dies ein, und schon ist es um die Sicherheit der SBB schlecht bestellt.
Wie lässt sich das Problem lösen: Zwischenschnitte, z. B. auf die beiden Schienen, und der Zug kommt entgegen, oder ein paar Bilder, Travellings über Landschaften usw. so dass die optische Achse neu eingeordnet werden kann.

Sie haben einen Kampf zwischen zwei Gruppen, wie lassen Sie die Hilfe ins Bild kommen – denken Sie an Griffith's Parallelmontage, die Hilfe kommt dynamisch auf die Kamera zu, als würden die Unionstruppen der Kamera resp. dem Zuschauer, der auf der Seite der Weissen steht, zu Hilfe eilen.

Optische Achse hat mit Raumgefühl zu tun.
Goebbels, der sich bekanntlich sehr um den Film kümmerte und Eisensteins BRONENOSSEZ POTJOMKIN (Panzerkreuzer Potemkin) liebte, wies die Kameraleute der Wochenschau an: An der Ostfront schiessen die deutschen Kanonen nach rechts, – an der Westfront nach links.
Stellen Sie sich vor, was geschieht, wenn der Sprecher sagt: An der Ostfront wurden einige Stellungen bereinigt, und man sieht deutsche Panzer gegen Westen ziehen.
Die reine Fluchtgebärde.
Die optische Achse schafft Ordnung im Raum. Wenn Sie in einem Film nicht mehr die Figuren eruieren können, den Mörder mit dem Detektiv verwechseln, erstaunt sind, die falsche Leiche vorzufinden, dann ist vielfach mit der optischen Achse etwas schief gegangen.
Die optische Achse schafft Ordnung im Raum. Eine andere Frage ist, wie wird Raum gestaltet.
Es ist die Frage nach dem Spannungsfeld zwischen Raum, Arrangement der Figuren im Raum und Lichtgestaltung.
Godard liebt flächige Inszenierungen, auf diese Weise erhalten eine Aussage und sein Spiel mit Aussagen etwas Abstraktes, Plakatives, Verfremdetes.
Um seine Italianità zur Geltung zu bringen, arbeitet Fellini mit mehreren Spielebenen: Vordergrund, Mittelgrund und Hintergrund. Fotografische Stimmung lässt einen Raum malerisch, flou, ohne Kanten werden.

André Bazin bezeichnet Orson Welles' Umgang mit filmischer Gestaltung als „ästhetischen Realismus“. In Bezug auf Raumgestaltung heisst dies, im Studio realistische Bauten entwickeln, mit sichtbaren Decken, geschlossenen Innenräumen, als gäbe es keinen Set, auf dem inszeniert wird, keine Notwendigkeit, Licht einzusetzen und zugleich wird der Realismus des Ortes einer stringenten Gestaltung durch Cadragen, Kamerabewegungen und expressive Lichtmodulation unterworfen. Zusammen mit seinem Kameramann Gregg Toland entwickelte Orson Welles in CITIZEN KANE – seinem gewaltigen Erstlingswerk – eine Sicht des filmischen Kosmos, die dem realistischen Sehen des Auges widerspricht und von der Sicht des Zuschauers auf die Leinwand lebt.
Das menschliche Auge richtet sich in seinem Sehprozess auf nah und weit ein. Dadurch entsteht ein auf Unschärfe und Schärfe beruhendes Raumgefühl. Je nachdem [wie] das Auge selektioniert und fokussiert, findet eine Verschiebung der Schärfe statt. Dieser Prozess wurde als Spiegelung des Auges vom Kameraauge übernommen. Das Objektiv wird auf eine bestimmte Raumtiefe eingestellt. Und je weniger Licht im Raum ist, umso geringer wirkt sich die mögliche Schärfentiefe aus. Auf diese Weise entstehen in Fotografie und Film Raumgefühl, Plastizität und vielfach auch Stimmung, malerische Atmosphäre.
Orson Welles geht nun folgendermassen vor:
Einerseits wird auf Grund des eingesetzten Breitwinkelobjektives die perspektivische Wirkung, die Flucht in die Tiefe des Raumes betont. Zugleich unterstützen in die Bildtiefe gelegte Diagonalen z. B. Deckenbalken, Bürogeländer und Abschrankungen, Lichtkorridore und Durchblicke in andere Räume die Ausrichtung auf einen Fluchtpunkt.
Andererseits wird die Schärfentiefe aufgehoben. Vordergrund, Mittelfeld und Hintergrund erscheinen auf dem Leinwandbild von gleicher plastischer Schärfe.

Stimmung wird von Orson Welles durch Licht geschaffen, aber nicht durch weiche Vordergründe oder in Unschärfe sich verlierende Hintergründe. Auf der Leinwand lässt Orson Welles einen realistisch plastischen Schärfenbereich entstehen, wie ihn das menschliche Auge in Wirklichkeit nicht zu schaffen vermag. Hingegen auf der zweidimensionalen Leinwand sieht das Auge eine Raumtiefe, in der, was vorne gross erscheint und in der Tiefe einer Weitaufnahme entspricht, von gleicher realistischer körperlicher Gegenwärtigkeit ist. Ich zeige Ihnen zunächst aus Citizen Kane ein Beispiel, in dem Orson Welles' Raumgestaltung, durch den Inszenierungsverlauf noch unterstützt, visuell kontrastisch forciert wird.
Welles lässt über die Handlungsabfolge, welche die Figuren von einem Raum in den anderen führt, den Raum bald sich öffnen und sich wieder schliessen. Gross- und Nahaufnahmen gehen in Totalen auf, bis schliesslich jenes Bild entsteht, das geradezu programmatisch die auf realistische Gegenständlichkeit beruhende filmische Vision zusammenfasst.
Links vorne gross Kane an der Schreibmaschine, hinter ihm die Tiefe des Raumes, in welchem in der Totalen die Gegenfigur erscheint. Ein Geländer und die Lichtlinien betonen noch zusätzlich die perspektivischen Fluchtlinien.
Was Welles mit filmästhetischer Bravour zelebriert, ist die Verbindung von Raum und Gegenstandsplastizität. Keine visuelle Trübung hat die materielle Wirkung von Ding, Mensch und Raum zu untergraben.
Die Szene gibt die Rückkehr Kanes nach der missglückten Opernpremiere seiner zweiten Frau Susan in die Redaktionsstuben seiner Zeitung wieder, um die Kritik zu organisieren.

5. CITIZEN KANE 1, 5 Minuten

Welles hat eine Vorliebe für programmatische Einstellungen. Immer wieder fasst er seine ästhetische Ideologie penetranter Gegenstandswirklichkeit in einzelnen Bildern zusammen. Auf diese Weise entsteht im Bild selbst zugleich eine Erzählmontage, welche z. B. verschiedene Ereigniszeiten in ein einziges Bild zwingt. Vgl. Angelopoulos, der die Plansequenz braucht, während Welles nur ein paar Sekunden [benötigt]
Vorne gross das leere Glas mit einem Löffel drin und daneben eine Giftflasche. Im Dunkeln, hinter dem Glas in Nah die zweite Frau Kanes – Susan – und vom Hintergrund her in Totale: Kane dringt ins Zimmer ein. Die Erzählung lautet: Die Frau hat Schlaftabletten genommen, mehrere. Der Löffel hat die Tabletten aufgelöst. Sie liegt im Koma seit einiger Zeit und Kane findet sie – später – auf. Die zeitlich verschobene Geschichte kristallisiert sich in der plastischen Gegenwärtigkeit des Bildes. Das Geschehene ist vordergründig im Gegenwärtigen anwesend.
Die zeitliche Dynamik als eine im Bild selbst sich darstellende Montage ist umso frappanter, als der Szene eine Montage von zeitlicher Überblendungen vorausgeht. Die durchaus konventionelle Erzählform, Zeit und Handlung verstreichen lassen, wird nach einer erlöschenden Lampe von einem Bild abgelöst, in welchem die Zeit im Bild selbst gegenstandsbezogen in simultaner Darstellung montiert erscheint.
Die Art, die Szene zu sehen, ist in Wirklichkeit nicht möglich. Wir können nicht vorne gross ein Glas in voller Schärfe wahrnehmen und zugleich den hereinstürmenden Kane in voller Schärfe erfassen. Wir müssen in Wirklichkeit in der Scharfeinstellung selektionieren und uns entschliessen die Augen auf gross oder weit zu fokussieren. Welles enthebt uns über sein Filmbild dieser Aufgabe und wir sind gezwungen auf dem Filmbild selbst zu selektionieren oder im Sinne einer inneren Bildmontage zu sehen. Es kommt uns weder eine Einstellungsfolge noch eine Gestaltung mit wechselnder Schärfentiefe zu Hilfe. Aufschlussreich ist auch der Schnitt auf die folgende Einstellung. Glas und Schlafmittelflasche sind weggeräumt. Susan liegt nicht mehr in der schonenden Dunkelheit, sondern in der schonungslosen Brutalität des Lichts.

2, 2 Minuten

Kane ist als Reisender und Sammler in die Welt hinausgezogen und hat an Antiquitäten und Kunst zusammengekauft, was er finden konnte. Bei seinem Tod bleibt eine Kunstsammlung übrig, die nur Ramsch ist – sein Geld hat er nicht in Zeitloses, sondern in unwerte Vergänglichkeit, in Abfallprodukte, in artifiziellen Schein investiert. Die aufgekaufte Kunst erweist sich als Wegwerfware.
Mit Kamerafahrten durch die riesigen Räume der Villa Xanadu – der Ton ist wegen der [?] unverständlich – wird die Darstellung künstlerischer Eitelkeit zu einem Trümmerfeld. Die Kisten wirken wie eine ausgestorbene Stadt. Zuletzt bleibt nur noch Verpackungsmaterial übrig. Die Kamera lässt über eine grosse Bewegung alles zurück: Das Leben ein Schutthaufen, der Reichtum nur Illusion, Kunst ist Müll. Und dann wird jener Schlitten herausgegriffen, der den Namen „Rosebud“ trug, Citizen Kanes letztes Wort, als er starb – das Zeichen seiner Kindheit. Im Ofen schmilzt es weg.
In Räumen zeichnet Welles seine Kamerafahrten hinein und bleibt schliesslich in der Intimität der verlorenen Kindheit haften. Einer der grossartigsten Filmschlüsse. Zugleich eine filmische Meditation über das Gigantische und über das Kleine, Nichtige, das so gross sein kann.

3, 6 Minuten

Was sich bei Orson Welles als ästhetischer Realismus ausweist, wird bei Peter Greenaway zur artifiziellen Montage innerbildlicher Bezüge.
In das Kunstbild des Films werden bewusst die Artefakte anderer Künste eingelassen. In THE BELLY OF AN ARCHITECT (Der Bauch des Architekten) wird Rom als Kunstbild zu Versatzstücken innerbildlicher Inszenierungen. Die Kamera ist auf einen Tempel ausgerichtet, fährt über Sträucher in eine Party ein, die als gesellschaftlicher Anlass den Tempel sich zur Kulisse gewählt hat. Die vom Architekten Stourley Kracklite arrangierte Ausstellung über den unbekannten visionären Architekten Etienne-Louis Boullé aus dem 18. Jahrhundert wird Anlass, Architektur-Kunst als Raumgebilde auf dem Hintergrund Roms Filmarchitektur einer Gegenwartsgeschichte zu werden.
Wenn bei Orson Welles die Gross- und Weit-Aufnahme im gleichen Bild zur gleichen materiellen gegenstandsbezogenen Wirkung gereicht, bilden bei Greenaway die Bilder selbst, die für Zitate anderer Bilder stehen, ein innerräumliches Bezugsystem. Die Leinwand als artifizieller Spielraum schluckt in innerbildlicher Montage auf, was an visuellem Kulturgut über Raumwirkung, Körperlichkeit und Plastizität erhalten geblieben ist. Davon leben touristische Postkarten, Kunstgeschichtsvorlesungen, Kulissen für Liebes- und Lebensdramen und Lehrveranstaltungen über Ästhetik und Gestaltung im Film. Wir sind wieder einmal mehr bei den Trümmern angelangt, die im vollendet ästhetischen Arrangement nur noch die Form zelebrieren: Vergnügen des Moments, so schnell vergessen, wie es genossen worden war. Momentaner Augenkitzel mit Aha-Erlebnissen vermischt, mit Assoziationen garniert, visuelles Gelage auf dem Hintergrund tradierten Kulturgutes
und auch eines Wissens, das bald vielleicht auch als überflüssig an den Schulen nicht mehr vermittelt wird. So können wir wenigstens dankbar sein, dass, in snobiger Manier präsentiert, mindestens die Artefakte, die Trümmer übrig bleiben.
Was war schon Orson Welles letzte Kamera-Geste in CITIZEN KANE anderes als eine Kamerafahrt über das Verpackungsmaterial von Kunst, die zur ramschigen Antiquitätensammlung verkam.
Dass ein Film, der sich als artifizielle Ästhetik-Collage versteht, auch den Raum thematisiert, ergibt sich schon aus dem Ansatz, Kunst in der Kunst mit dem Mittel der Film-Kunst zu reflektieren, was auch heisst, das Bild im Bild zu erfassen, und Bild im Bild hat stets auch mit Raum zu tun.
So zeige ich Ihnen einen Ausschnitt aus Greenaways Film Z00 d. h. Z und zwei Nulle – der Film über eine Frau, die zwar im Laufe des Filme ihre beiden Beine verliert, dafür der Symmetrie wegen – und Symmetrie hat mit dem ästhetischen Verständnis von Harmonie zu tun – ein paar Siamesische Zwillinge als Liebhaber gewinnt.
Der auf Beine versessene Chirurg bringt der Beinlosen einen fiktiven Van der Meer, der nie Frauen mit Beinen malte.
Bild im Bild heisst einmal, das nicht nur das Van der Meer-Bild die Tiefe strukturiert, sondern dass die Szene selbst über den Spiegel wieder zum eingerahmten Bild gerät. Im Gegensatz zur Szene links vorne steht die Tiefe des Bildes rechts im Bilde. Orson Welles gebrauchte die filmische Gestaltung als Steigerung seines realistischen Anliegens. Für Greenaway ist der Ästhetizismus selbst Thema artifizieller Verselbständigung.

8. A ZED & TWO NOUGHTS, 2 Min.

Ich gehe auf einen weiteren Film ein, der von einem Regisseur gemacht, der Dekor, Licht, Raum und Inszenierung in den Dienst schauspielerischer Präsenz stellt: THE LITTLE FOXES (1941) von William Wyler nach einem Theaterstück von Lillian Hellman. Wyler, der für jeden Film wieder andere Stilmittel und Fotografien wählte und mit dem gleichen Kameramann arbeitete wie Orson Welles – nämlich mit Gregg Toland – setzt für sein Spiel um Macht, Geld, Hass, Unterdrückung innerhalb der Beziehungshölle einer Familie ein klares, neutral ausgeleuchtetes Dekor.
In diesen Raum werden wie Fäden die Konstellationen zwischen den Menschen eingelassen. Man braucht nicht einmal den Text zu verstehen, um aus den Bezugsdiagonalen innerhalb des filmischen Raumes Ablehnungen, Hinwendungen und Machtverhältnisse ablesen zu können.
Man könnte auch den französischen Kritiker und Filmanalytiker André Bazin beiziehen. Er geht der Frage, weshalb die oft kargen, wie auf eine Bühne ausgerichteten Inszenierungen Wylers, die sich jeglicher Stimmung enthalten und von der Präsenz des Schauspielers leben, so sehr kinogemäss sind, auch wenn sie so wenig mit dem zu tun haben, was man gemeinhin unter filmisch versteht.
Meisterhaft ist auch die optische Achse eingesetzt. Durch kleine Verschiebungen der Achsenebene an den Schnittstellen entstehen laufend neue Konfrontationen.
Das Treppengeländer des Salons, das in einer leichten Beugung die beiden Stockwerke verbindet, schneidet in optischer Gewalttätigkeit das Bild in Teile. Die aufgestützte Hand, dunkel vor der Helle des im Lichte spiegelnden Geländers, erhält eine behutsame Bedrohlichkeit.
Der Rauminszenierung entspricht eine neutrale Gegenständlichkeit des Dekors. Durch beides wird die Handlungsarchitektur in den Griff gebracht.
Eine Abschiedsszene einer abendlichen Gesellschaft: Kaum ist die Luft rein, bricht der Konflikt auf allen Ebenen des Hauses als dramatischer Raum-Ort aus.

9. THE LITTLE FOXES, Treppenhausszene, 5 Minuten

Nun, Raum lässt sich auch anders verstehen: Als Weite, als Evasion, als Reise durch Raum, als Travelling im Raum. Wichtig ist nur, dass der Bremsweg kurz ist, was dann auch mit einem Kuss verdankt wird.

10

Guten Bremsweg und das nächste Mal die letzte Vorlesung.

Filmografie:

  • LIFE OF AN AMERICAN FIREMAN (US 1903) R: George S. Fleming, Edwin S. Porter, B: Edwin S. Porter: K: Edwin S. Porter, P: Edison Manufacturing Company, D: James White (Feuerwehrchef), Arthur White (Feuerwehrmann), Vivian Vaugham (Mädchen)
  • THE BIRTH OF A NATION (US 1915), R: D. W. Griffith, B: D. W. Griffith, Frank E. Woods, Thomas F. Dixon Jr., nach Romanen und dem Theaterstück von Thomas F. Dixon Jr., K: G. W. Bitzer, P: Griffith Feature Films, D: Lillian Gish (Elsie Stoneman), Mae Marsh (Flora Cameron), Henry B. Walthall (Col. Ben Cameron), Miriam Cooper (Margaret Cameron), Mary Alden (Lydia Brown), Ralph Lewis (Austin Stoneman)
  • CITIZEN KANE (US 1941) R: Orson Welles, B: Herman J. Mankiewicz, Orson Welles unter Mitarbeit von Joseph Cotton, John Houseman, K: Gregg Toland, M: Bernard Herrmann, P: Mercury Productions, D: Orson Welles (Charles Foster Kane), Joseph Cotton (Jedediah Leland), Dorothy Comingore (Susan Alxeander), Agnes Moorehead (Kanes Mutter), Ruth Warrick (Emily Norton)
  • A ZED & TWO NOUGHTS (Z00, GB/NL 1985) R: Peter Greenaway, B: Peter Greenaway, K: Sacha Vierny, M: Michael Nyman, P: Kees Kasander, Peter Sainsbury, D: Andréa Ferréol (Alba Bewick), Brian Deacon (Oswald Deuce), Eric Deacon (Oliver Deuce), Frances Barber (Venus de Milo), Joss Ackland
  • THE LITTLE FOXES (US 1941) R: William Wyler, B: Lillian Hellman nach ihrem Bühnenstück; zusätzliche Szenen und Dialoge: Dorothy Parker, Alan Campbell, K: Gregg Towaldn; M: Mereith Wilson, P: RKO Radio Pictures (Samuel Goldwin), D: Bette Davis (Regina Giddens), Herbert Marshall (Horace Giddens), Teresa Wright (Alexandra Giddens), Richard Carlson (David Hewitt)

[Red. TC/Stand 29.4.14]

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