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Seminar für Filmwissenschaft

Ästhetik und Gestaltung

Vorlesung 14: die lange Einstellung

MACUNAIMA, der brasilianische Film von Joaquim Pedro de Andrade verstand ich als Aufforderung, in eine andersgeartete Bilderwelt einzusteigen: Eine grelle, volkstheaternahe Rhapsodie in bunten Bildern über den brasilianischen Helden, der ohne Charakter sich allen Einflüssen aussetzt, ohne sich selbst bestimmen zu können oder zu wollen. „Ach welche Faulheit“ ermöglicht ihm da zu sein ohne drinnen zu sein. Das politische Engagement wird austauschbar in einer Welt der Verpflanzungen, wenn der Dschungel als Hinterhofwüste in der Stadt sich wiederfindet und die Farben der Papageien im Kuriositäten-Kabinett eines grossbürgerlichen Sammlers sich in erotische Materialien verwandeln. Die reale Gefahr der Piranhas in den Urwaldgewässern wird zum Swimmingpool Arrangement einer Gesellschaft, [daran?] Kreuzfeld verschiedener Kulturen und Ethnien sich nicht mehr zu situieren vermag. Hier tummelt sich der Held ohne Charakter, seiner gewiss, nie einen Charakter finden zu müssen. Für den Schriftsteller Mario de Andrade, der Macunaima 1926 als eine Auseinandersetzung mit den Bildern, Mythen und Fabulierungen indianischer Kulturen schrieb, nennt seinen Helden eine Metapher für Brasilien. Der Urwald blieb sich gleich, auch die Rückkehr zu den Wurzeln, die auch keine mehr sind, denn die Hütte zerfällt in den neuen Zeiten. Die Welt der Städte jedoch setzt der Regisseur um in ein knalliges Brasilien immer wiederkehrender Umbruchzeiten zwischen Revolutionen und Reformen und der Realität stets wieder neu erstehender Militärjuntas, die dem vegetativen Chaos ihre Ordnung chaotischen Willkürs entgegensetzen.
Inmitten des Terrors Ende der Sechzigerjahre wird Pedro del Andrade karnevalesk der Terror persifliert karnevalesk der Terror persifliert. Auch er ist austauschbar. Mit Bomben im Kinderwagen ist nicht ganz klar, wer in die Luft geht: Das Baby, der Täter oder das nicht bezeichnete Opfer. Inmitten von Männerträumen von aktiven Frauen – welche Faulheit der Männer – verkommen die Aktionen zu erotisch-sexuellen Spielformen.

Alles wirkt gleichsam aufgehoben. Alle Schichten werden gleich bös und verachtend anvisiert. Ob links oder rechts, ob oben oder unten, jegliche Form von Klassenkampf, alles wird durch den gleichen farbigen, lautstarken, theatralischen Wolf gezogen.
Am Ende des Films, wie der Held – welche Faulheit und Müdigkeit – ins Wasser schaut und die nackte Wassernymphe auftaucht, glaubt man sich im Narzissmus-Mythos: Man glaubt endlich dem Helden ohne Eigenschaften eine Erklärung für seine Handlungen respektiv Nicht-Handlungen zuzuschreiben. Doch was uns als „Echo“ erscheinen könnte, wird auf einem kannibalischen Hintergrund zur Menschenfresserin. Mit dem kriegerischen Nationalsong garniert wird der idyllische Weiher zur Blutlache – zur Blutfläche: Brasilien blutend, verblutend und selbst nur noch Blut. Die Aktualität politischer Morde verdichtet sich zum Kinobild, das nicht dem Narzissmus-Mythos, sondern dem Grand Guignol des Volkstheaters angehört: – Ein Kasperli-Kinobild.
Was wir in Macunaima vorfinden, sind andere Bilder, andere Metaphern, andere visuelle Sprachen, die zwischen den Bildern lesen lassen, was der Tradition des Volkstheaters und des Karnevals angehört. Dies hat nun gar nichts mehr mit der Kinomaschine Hollywoods zu tun oder mit den Anlehnungen der monopolitischen Kinoindustrien Mexikos, Brasiliens, Argentiniens...
Wenden wir uns wieder unseren eigenen Bildern zu. In Une aussi longue absence von Henri Colpi (1960) kehrt einer aus dem Krieg zurück, ohne Gedächtnis, als hätte der Krieg nicht stattgefunden. Er kehrt zurück ohne Vergangenheit und Geschichte. In der langen Abwesenheit ist die Vergangenheit als Lebenssubstanz für die Gegenwart verloren gegangen. Er tastet – mittellos – durch eine Gegenwart, die für ihn nur noch soziales Überleben heisst. Seine Frau – sie führt sozial abgesichert ein Bistro – glaubt im Heimkehrer den vermissten Gatten wieder gefunden zu haben. Um ihrem Mann zur Entdeckung seiner Ich-Identität zur Wiederfindung der Vergangenheit zu verhelfen, damit die Gegenwart als solche wieder fassbar wird, inszeniert sie ein Stück Vergangenheit: Die Lieblingsmusik von einst aus dem Schallplattenautomaten, die Zeitungen von einst, das Bier von einst und wie in einem Beschwörungsritual die Namen geschichtlich verloren gegangener Identitäten. In Antonionis Professione: Reporter führt Antonioni in einer sechsminütigen elliptischen Kamerafahrt den Helden zu sich selbst zurück: Die Identität ist der Tod, die der Reporter zu Beginn des Films dem Ermordeten abgenommen hat. Die Kamerafahrt wird bei Antonioni zur Darstellung einer Lebensbahn, die sich in sich selbst schliesst: Den zu Erkennenden – den zu Identifizierenden – hat seine Frau nie gekannt. Erkennen und kennen zerbrechen in der wirklichen Identitätssuche. In Colpis Film UNE AUSSI LONGUE ABSENCE kennt die Frau den Mann und will ihn zum eigenen Erkennen verhelfen.

Wiederum – wie bei Antonio – ist auch bei Colpi die Schlüsselszene des „Sich Erkennens“ in eine einzige Einstellung eingegossen – zu einer bewegungslosen einzigen Einstellung gezwungen: Links im Bild die Protagonisten einer inszenierten sprachlichen Vergangenheitsbeschwörung, rechts der Mann der Vergangenheit ohne Wissen um die Vergangenheit. Der Zuschauer sitzt raum- und rezeptionsperspektivisch in der Bildmitte – im leeren Raum – und ist wie der Heimkehrer der Eindringlichkeit der Beschwörung ausgesetzt. Ausdruck dafür ist, dass die Kamera regungslos, schnittlos, uns zur visuellen und akustischen Beobachtung all dessen zwingt, dem als Identifizierungshilfe auch der Heimkehrer ausgesetzt ist: Ein schmerzvoller Vorgang. Bezeichnend für die filmästhetische Situierung der Einstellung ist, dass die Kamera zunächst durchaus konventionell erzählt: Bild an Bild im Sinne eines folgerichtigen Erzählduktus. Aus einer der Sehgewohnheit entsprechenden Erzählweise erwächst Colpis „Lange Einstellung“. In sie schauen wir hinein, zugleich zwingt sie uns zu einer visuellen und akustischen Konzentration.

1. Une aussi longue absence, Colpi, video 6 Minuten

In TOUTE UNE NUIT (1982) beobachtet und zeichnet Chantal Ackerman mit einer bewusst hinschauenden Kamera auf, was sich in einer schwülen Sommernacht zwischen Paaren abspielt. Auch Chantal Ackerman arbeitet mit einem Zugriff, der den Zuschauer zwingt, sich dem Bilde auszusetzen. Obwohl es um Paare geht, wird der Zuschauer nicht zum Voyeur. Die durch Titel und Situation evozierten Bilder finden nicht statt. Umso mehr wird der Zuschauer als Beobachter ernst genommen, indem er Prozesse Vorgänge, Entwicklungen sich anschauen muss, immer aus der gleichen Sehperspektive. Denn die Kamera schafft ihm nur selten über Standortwechsel, somit auch durch Perspektivenwechsel der Sichtweise, die Möglichkeit, sich abzusetzen und sich über Schnittsprünge zu erholen.

Ich zeige Ihnen eine Sequenz, in der sich ein Mann und ein Frau finden: Ein Paar entsteht. Zwei Einstellungen – lang, eindringlich, unausweichlich – geben die Sucht nach Berührung wieder.
Eingeschnitten ist das Aufbrechen und Einbrechen einer Dreieckssituation: Kurze harte Schnitte, konventionelle Erzählstruktur, wie eben Kino eine Situation erzählt – dies im Gegensatz zur Beobachtung einer Begegnung. Zwei verschiedene Erzählstrukturen stehen einander gegenüber: Die langandauernde Beobachtung der Annäherung und der Vereinigung im Tanz und dazwischen das Schnittmuster filmgewohnter Sehweise für die Vereinzelung dreier Menschen.

2. Toute une nuit, Video, Farbe, 5 Minuten

Der Zuschauer hat sich ins Bild einzusehen – ohne Standortwechsel der Kamera sich ganz der Emotionalität – z. B. eines Tanzes – auszusetzen. Auf diese Weise wird die Unausweichlichkeit der Begegnung bildstark betont.
Antonioni verwies uns in der Endsequenz von Beruf: Reporter auf die innere Dramaturgie eines Bildes. Die Kamera nicht nur im dokumentarischen Bereich im Sinne einer filmischen Langzeitbeobachtung auf dem Geschehen zu belassen, sondern auch die Fiktion als eine Inszenierung der Zeit zu verstehen, hat die Filmemacher immer wieder beschäftigt. In grossen Plan-Sequenzen an einer Handlung zu hangen, im Raum zu verbleiben, die Geschichte als Einheit von Zeit und Ort zu verstehen, um im Sinne antiker Tragödie die Unausweichlichkeit zu betonen, faszinierte stets von neuem. Godard fährt in Weekend 7 Minuten lang dem Schlachtfeld einer Strasse entlang, kreist über den Platz eines Bauernhofes, Hitchcock baut in Rope einen ganzen Film in einer einzigen filmischen Bewegung auf und versucht selbst teilweise die Übergänge der Filmrollen unsichtbar zu machen. Morrissey aus der Andy Warhol-Factory verstand Fiktion als Dokumentation der Fiktion und beliess die Kamera in Blue Movie auf den endlosen Selbstdarstellungen seiner Protagonisten. Für Warhol war ein Bauchnabel Grund genug, ihn filmisch 6 Stunden lang anzuschauen – als Akt eines Seherlebnisses, als Akt visueller Konzentrationsübung.

Wer jedoch die Plansequenz zur dramaturgischen Funktion verdichtete, war Theodoros Angelopoulos, besonders in seinem Film O THIASSOS (Die Wanderschauspieler) – 1975 beendet – Angelopoulos geht es jedoch nicht darum, die Einheit von Zeit und Fiktion darzustellen, sondern im Gegenteil in der Einheit einer Einstellung verschiedene Zeiten, verschiedene Situationen und politische und historische Zustände als innerbildliche Dialektik vorzudemonstrieren.
Der Zuschauer hat sich ins Bild einzusehen – ohne Stanortwechsel der Kamera. Auf diese Weise wird die Unausweichlichkeit der Beziehung bildstark betont. Noch einen Schritt geht Theo Angelopoulos in seinem Film O THIASSOS weiter. Ich werde Ihnen diesen Film das übernächste Mal – in der Vorlesung – zeigen. Der Film dauert fast vier Stunden und ist meines Erachtens eines der wichtigsten Werke der Nachkriegszeit.

O THIASSOS erzählt von einer Gruppe von Wanderschauspielern, welche durch Griechenland und seine Geschichte ziehen. Ihre Wanderung durch ein graues, sonnenloses, ja verschneites Griechenland ist zugleich – wie die Errichtung der Bühne – ein immer neuer Standortbezug innerhalb der griechischen Geschichte von den Dreissiger- zu den Sechzigerjahren. Mit ihrer Wanderung geraten sie in eine Geschichte, die sich stets wiederholt: Die Geschichte von Unterdrückung, Faschismus, Verlust der nationalen Identität und die immer wieder erneute Rebellion gegen die Schändung des griechischen Menschen durch Zeit und Herrschaft.
Da der Film unter dem obersten Regime der Siebzigerjahre entstand und deshalb die Zensur zu unterlaufen hatte, findet die Erzählung der Historie Geschichte auf verschiedenen Ebenen statt: Die Schauspielergruppe und ihre Befindlichkeit in immer neuen Zeitabläufen, die sich durchkreuzen, spiegeln, sich verwirren, so dass die Fixierung konkreter Situationen und konkreter Fakten in Assoziationen sich verwebt – das Theaterstück, das je nach Zeit sich neu verstehen lässt und stets ein griechisches Stück bleibt, wer auch immer die historische Kulisse bildet: Diktatoren, Könige, Deutsche oder englische Besatzungsmacht, Intervention von USA und NATO, Rebellion der Kommunisten.

Doch zugleich spielen griechische Geschichte und die Geschichte der Schauspielergruppe, die auch eine Familiegeschichte ist, die ewigen griechischen Mythen von Kampf, Verrat, Rebellion, Leiden und Leidensfähigkeit: Agamemnon, Klytaimnestra, Elektra und Orestes, der in die Berge geht – als Kommunist – der grosse Rächer, der auch schuldig wird – Elektra, die als leidendes Griechenland den Film durchzieht.
Mythen lassen sich nicht verbieten. Sie sind Erzähl- und Volksgut. Sie kann man erzählen. Auch wenn sie der Machthaber versteht kann er sie nicht vorenthalten. – So belässt die Zensur die Erzählung der Mythen in der Spiegelung von Theaterschauspielern auf ihrer Wanderung durch die griechische Landschaft und die griechische Zeit. Was kann der Erzähler dafür, dass die jüngste Geschichte schon in den Mythen erzählt wurde.
Angelopoulos entwickelt nun gerade im Hinblick auf die Durchdringung der Ebenen der Verschmelzung verschiedener Geschichten, so dass sie von der Zensur, der Macht, nicht mehr ausmachen lassen, die Plansequenz: Sequenz als eine Erzähleinheit und die Einstellung fallen vielfach zusammen. Manchmal erweitern einzelne Einstellungen den Kontext doch sie bilden mehr Übergänge – Pausen zwischen den Plansequenzen.

Entscheidend ist, dass Angelopoulos’ Plansequenzen eine in sich ruhende Bedeutung erlangen. Ein Ort verändert innerhalb der gleichen Einstellung seine Bedeutung. Auch wenn die Zeiten sich ändern, bleibt die Situation die gleiche. Nicht der Schnitt signalisiert den Zeitsprung, sondern im Bild selbst verändert sich die Zeit, fliessend, oft fast unmerklich, so dass man genau hinschauen, hinhören muss, dass wir uns chronologisch in eine andere Zeit begeben haben, auch wenn die Situation – trotz Wechsel der Machthaber – die gleiche geblieben ist.
Die Plansequenz kann auch zur Metapher werden: Sie steht für etwas anderes, was nicht gezeigt werden kann und dennoch gezeigt wird, weil die Metapher genau für das steht, was ausformuliert der Macht nicht gefallen würde, aber als Metapher verständlich ist für jenen, der Zeit und Geschichte verstehen will.
Hier geht [es] also nicht nur darum ins Bild hineinzuschauen und hineinzuhören, sondern Wissen – literarischer, mythischer und politischer Art – beizubringen, damit das filmische Erzählgut Aussagekraft erhält. Es ist wiederum der kreative Zuschauer gefordert. Dabei ist Angelopoulos Film in keiner Weise elitär, intellektualisiert, sondern von jener sinnlichen Verständlichkeit, die trotz seiner verklausulierten Art der Visualisierung, den Film zu einem populären Erfolg werden liess.
Einer der berühmtesten Festivalfilme, der als Kunstprodukt gefeiert wurde, hatte als Basis, dass er in Griechenland verstanden wurde.
I

ch zeige Ihnen, was ich Plansequenz nenne – also die Einheit von Sequenz und Einstellung – an einem ganz einfachen Beispiel.
Die Schauspielergruppe bezieht eine Herberge. Die Struktur eines Ortes entsteht: Der Innenhof, die Aufgänge, die Balustrade, die Zimmer, die man nicht sieht. Das Holzgebälk schafft Konstruktion, Tiefe und Enge. Die Geräusche, Töne, besonders die Schritte lassen den Bezug der Zimmer erstehen. Lautlosigkeit setzt Zäsur. Die Schauspieler stehen wie in einer Loge. Die Kamera schwenkt in den Hof. Er ist verbarrikadiert. Die Zeit: Metaxas’ faschistische Diktatur der Dreissigerjahre: Die Zeit der griechischen Schwarzhemden wie in Italien und Ungarn. Die Zeit hat sich geändert. Aus der Ankunft wird eine Theaterprobe. Die private Handlung bricht ein, welche Teil der politischen Situation ist. Im Dunkeln verschwindet der Verräter. Zweimal erklingt Musik wie angedeuteter Szenenwechsel.

3. O Thiassos I, Herbergshof, 4 Minuten

In Filmen ist [es] üblich über Schnitte, oft auch mit Überblendungen, mit Inserts, mit sprachlichen Hinweisen, mit Rückblenden, Zeitsprünge miteinander zu verbinden respektiv den Zeitsprung an der Schnittstelle zu fixieren.
1952 gewinnt am 16. November trotz den klaren Wahlerfolgen liberaler Politiker, der rechtsextreme Marschall Papagos die Wahlen – mit Hilfe der Amerikaner, um mit einer sogenannten stabilen Regierung in Griechenland den kalten Krieg im Sinne der Vereinigten Staaten zu führen.
Angelopoulos setzt in einer Plansequenz das Jahr 1952: Visualisiert durch die Wahlpropaganda für den Marschall. Die Stimme verklingt, bis schliesslich ein Wagen aus jenem Winkel des Bildes wieder auftaucht, in welchem die Geschichte des Marschalls entlassen worden war. Und mit diesem Auto geraten wir in die deutsche Besatzungszeit. Auf diese Weise werden im gleichen Bild nicht nur zwei verschiedene Zeiten eingebracht und es wird nicht einfach eine Rückblende eingeleitet, sondern im Bild selbst wird die Wahl des Marschalls in die Tradition einer bestimmten griechischen Politik gestellt, welche ihre Wurzeln in den Dreissigerjahren (in der Diktatur Metaxas) und in der deutschen Besatzungszeit hat.
Die Darstellung einer Zeitspanne in der Einheit einer einzigen Einstellung wird zur Interpretation griechischer Geschichte. Dabei ist einzubeziehen, dass Angelopoulos selbst seinen Film zur Zeit der Obristen vorbereitete und auch teilweise noch drehte. Die Einstellung, welche den Zusammenhang zwischen der Rechtsdiktatur von Papagos und der deutschen Besatzungszeit herstellt, ist zugleich Teil der Analyse gegenwärtiger Diktatur der Obristen, die 1967 an die Macht gekommen waren und in der Tradition eines Metaxas der Dreissigerjahre standen. Die filmästhetische Vision erhält eine historische Perspektive. Zu Beginn der Sequenz spaziert die Schauspielergruppe buchstäblich in die Geschichte hinein.

4. O Thiassos, Papagos und Nazizeit. 3 Min.

Bei Antonioni verfolgten wir, wie der Off-Ton das Unsichtbare sichtbar macht: Die sinnliche Rezeption des Zuschauers gestaltet imaginativ den Film. Wie Sie bereits feststellen konnten, bringt in den Plansequenzen Angelopoulos über den Ton die zusätzlichen Geschichten ein.
Dazu ein weiteres Beispiel: Zwei Männer der Rechtsextremisten holen Elektra ab, um von ihr den Aufenthalt Orestes zu erpressen. Um den akustischen Hintergrund der Einstellung zu erfassen, zeige ich Ihnen noch einen Teil der vorangehenden Einstellung, in der die auditive Grundstimmung aufgebaut wird.
Leere Räume sind Tonräume. In leeren Räumen wird hörbar, was sich ausserhalb des Filmbildes abspielt.
Auf dem Tonhintergrund der laufenden Schallplatte werden Geräusche und Schritte der beiden Männer eingebaut. Die Geräusche ausserhalb des Bildes geben nicht nur eine Geschichte wieder, sondern sie geben Auskunft über die Beschaffenheit des Innenhofes und der Treppe: – Steinboden – Holztreppe. Die sich in Lautlosigkeit auflösenden Schritte der Männer evozieren das heimliche Anschleichen. Das abrupte Abbrechen der Musik steht für den Zugriff und erst jetzt wird die Länge des Treppenhauses, die Zahl der Stockwerke nachvollziehbar. Der Ton zeichnet die Struktur des Hauses auf, als wäre die Kamera dem Geschehen gefolgt.

5. O Thiassos, Elektra wird abgeholt, Video, 5 Minuten

Angelopoulos setzt die Plansequenz nicht nur ein, um historische Zeiten mit einander zu verbinden und in eine dialektische Spannung zu bringen, um Orte visuell und akustisch zu strukturieren, sondern um Einblicke in innere Zusammenhänge der griechischen Geschichte und in das Verhältnis des griechischen Menschen zu seiner Geschichte aufzuzeigen.
So zieht eine Gruppe von Monarchisten am Morgen nach einem feuchtfröhlichen Fegt, an welchem sie den König hochleben liessen, recht unbefangen, harmlos, ungefährlich unordentlich durch eine Strasse. Die Männer kommen zufrieden ohne Engagement daher bis schliesslich ein antikommunistisches Lied, wie man es eben so singt nach einer feuchtfröhlichen Nacht, langsam Ordnung, Richtung, Disziplin schafft. Mit Waffen wird kein Griechenblut vergossen, nur das der Partisanen und Kommunisten, was soviel heisst, dass die Partisanen keine Griechen sind. In einem unspektakulären Travelling zeigt nun Angelopoulos auf, wie aus dem antikommunistischen Lied ein Marschlied wird und die unordentliche Bande von Monarchisten sich zur Marschkolonne formt und mitten in den Wahlkampf um Marschall Palagos hineinmarschiert. Wieder sind wir im Jahre 1952, da in Griechenland eine faschistische Diktatur geschaffen wurde. Und wieder spazieren die Schauspieler an der Geschichte vorbei. Nur Elektra, welche wie eine Chronistin alles beobachtet, bleibt stehen. Die nächste Einstellung zeigt die Konsequenzen der sogenannten nationalen Einheit.

6. O Thiassos, Monarchisten bilden Marschkolonne, und nächste Einstellung, 5 Minuten

Wir schaute und hörten uns in Bilder hinein. Bilder erschliessen sich aus ihrer inneren Struktur heraus. Die Einstellung an sich wird zum Kosmos. Geschichten liegen in Einstellungen, sie ergeben sich aber auch aus dem Bezugsystem zwischen den Einstellungen, aus der Folge der Einstellungen. Ich möchte im folgenden von einzelnen Einstellungen ausgehen, sie selbst zu ihrem Nennwert nehmen und sie in Verbindung zu weiteren Einstellungen bringen, um zu ersehen, was im Bilde selbst liegt, was das Bild an sich zu leisten und was aus der Verbindung der Bilder zu erstehen vermag.
Für die Darstellung, wie aus Einstellungen ein Film wird, benütze ich Robert Wilsons Fernseh-Film VIDEO 50, der nur aus Einstellungen besteht, die wie Bruchstücke eines Films schliesslich einen Film ausmachen, der stets wieder neu zusammengesetzt und vom Zuschauer anders verstanden werden kann. Es handelt sich um eine Fernseharbeit, die aus 50 Miniaturdramen zu je 30 Sekunden besteht. Aus diesen Miniaturdramen montiert sich der Zuschauer, je nachdem er die Bilder bezieht, seine eigene Geschichte. Wilsons Film ist somit nicht nur ein Film über Bildbedeutung und Montagebezüge, sondern über den kreativen Akt der Rezeption des Zuschauers. Es gibt Geschichten, die im Bilde selbst liegen und Assoziationen auslösen, welche sich auf dem Hintergrund gesehener Bilder und Filme ergeben.
Schauen wir uns eine Einstellung an

7. Wilson 1, Video, Vorhänge

In welchen Film sind Sie hineingeraten. Welche Geschichte denken Sie sich aus?
Als filmischer Topos lässt Hitchcock grüssen. Horror-Assoziationen tauchen auf. Ein verwunschenes Schloss, eine Villa, Spielberg raunt im Hintergrund, Rebecca, Untergang des Hauses Uscher? – Dracula schwebt an. Wehende Vorhänge gehören in ein Bildgewebe, in dem sich verschieden fabulieren lässt.
Schauen wir uns eine weitere Einstellung an.

8. Wilson 2, Video, läutendes Telefon

Ein Telefon läutet. Welche Geschichte liegt für Sie in dieser Einstellung? Welche Geschichte? Es ist niemand zu Hause. Der vergebliche Anruf. Oder liegt eine Leiche auf dem Teppich, unter dem Tisch, in der Badewanne. Je nachdem geht die Geschichte weiter. – Ein Kontroll-Anruf – die Verweigerung den Hörer abzunehmen? – Der Mörder klingelt. Ein gewöhnliches Telefon. EIN Bild und tausend Geschichten – Bleiben wir beim Telefon und sehen uns eine kleine Veränderung des Bildes an. Statt gross – nah – Erwartung liegt im Raum.

9. Wilson 38, Video, Telefon mit Schatten

Durch den Schatten, der sich dem Telefon nähert, wird die Auswahl der Geschichten möglichen bereits eingeschränkt. Das nur läutende Telefon lässt mir die Freiheit, mir meine eigene Geschichte auszudenken. Der Schatten der Hand verlangt nach einer Fortsetzung. Der Schnitt wird zur Schnittstelle, welche das folgende Bild evoziert. In der Festlegung durch die Montage geraten wir über den Bildbezug in einen bestimmten Film, in eine bestimmte Story hinein. Wenn wir zunächst nach der möglichen Bedeutung fragten, die sich aus dem Bild – aus der Einzeleinstellung ergibt – wird im Bildbezug über den Schnitt die Bedeutung determiniert.
Kehren wir zum Telefon zurück, zum Schatten, zur Auflösung des Schattens und lassen wir eine weitere Einstellung folgen

10. Wilson 50/51, 2. Einst., Video, Telefon, Kralle und schaukelndes Kind

Unversehens sind wir nun tatsächlich in eine Horrorgeschichte hineingeraten. Das Mädchen im Walde assoziiert eine „La Belle et la Bête“-Geschichte. Wann greift die Hand des Monstrums, das wir zwar nicht gesehen haben, nach dem schaukelnden Mädchen? Der Bewegungsverlauf der Krallenhand, die zum Hörer greift und der Übergang zu den Schaukelbewegungen des Mädchens im Wald lassen die Geschichte weiterführen. Dabei animiert der Schnitt, das folgende Bild mit entsprechender Spannung aufzuladen und der Schaukelbewegung Bedeutung zu verleihen. Eine kleine Veränderung – die Verschiebung der Schnittstelle – d. h. der Schatten taucht früher auf – und die Verbindung mit einem anderen folgenden Bild lässt die Monstrumgeschichte in eine andere Stimmung und Bestimmung bringen.

11. Wilson 62/63, ohne Arm, Telefon, Kralle, Innenraum mit Türe

Ganz einfache Bilder, in Beziehung gebracht, lassen die in ihnen wohnende Bedeutung sich zu einer Geschichte verweben, Spannung entstehen, die Andeutung einer möglichen Geschichte erahnen. Damit werden wir durch die Genre bildende, Genre bestimmende Kraft des Films eingesogen.
Nehmen wir bekannte Bilder wieder auf und stellen uns die Frage, wie entsteht z. B. die Stimmung des Unheimlichen. – Drei Bilder, drei Einstellungen.

12. Wilson, 26/28/29

Das Telefon als 1. Einstellung und die wehenden Vorhänge als 3. Einstellung lassen den Blick des Babys in eine Bedrohungsstruktur einwachsen. Die wehenden Vorhänge erhalten eine Bedeutung: Die Angst des Babys, das von einem Telefon geweckt wurde, wird verständlicher. Zugleich lassen die wehenden Vorhänge Kommende Drohendes ahnen. Der Blick des Babies evoziert das Nicht-Sichtbare. Diese Geschichte muss weitergehen.
Doch wir können uns auch anders fragen: Ist der Blick des Babies wirklich angstvoll, forschend, verlangt er nach einer Geschichte?
Schauen wir uns nur die Grossaufnahme des Babys an – d. h. die Detailaufnahme der Augen an.

13. Wilson 28

Ich vermute – Sie können es für sich überprüfen – die Erfahrung, auf welche Weise die Augen des Babys wirken, hängt davon ab, was wir in dieses Gesicht hineinlegen – wie wir es ganz persönlich erfahren. Der Bilderbezug bestimmt die Grossaufnahme.
Bringen wir das gleiche Bild noch einmal in einen anderen Kontext. Die Montag könnte auch surrealer, avantgardistischer aussehen.

14. Wilson 27/28 (Hammer, Baby)

Die Lautlosigkeit lässt den Einbruch des Tons ums plastischer werden und die Lautlosigkeit der Grossaufnahme des Babys bestimmt die innere Spannung des Bildes.
Wir gingen von der Einzelaufnahme aus, die das Bild über Assoziationen, Topos-Bildung, visueller Erfahrung mit Aussage auflädt und zugleich die Freiheit lässt, unsere Geschichte zu finden.
Die Verbindung von Bildern engt die Möglichkeiten imaginativer Betätigung ein, legt aber zugleich die Linie einer möglichen Geschichte fest.
Die letzten Beispiele zeigen zusätzlich auf, dass der Ton – der spezifische Klang, der hinter einem Bild steht – dem Bild eine dramaturgisch bestimmende Bedeutung verleiht.
Wir wenden uns noch einmal Einzelbildern zu. – Eine Grossaufnahme.

15. Wilson 34

Wir schauen uns die Einstellung noch einmal an

16. Wilson 43

Zweimal die gleiche Aufnahme. Doch das zweite Mal löste sich die Spannung in einer Aktion auf. Die Dämpfe bekamen ihren Sinn. Das erste Mal hatten wir das Bild einer noch ungeschriebenen Geschichte. Beim 2. Mal löste ein „Reklameeffekt“ die Einstellung auf. Die Blickspannung der Frau und die Bildung von Dämpfen ergaben einen inneren Zusammenhang. Mit dem Knall ist auch die Einstellung, d. h. auch der Kurzfilm zu Ende.
Wir brauchen keine Fortsetzung. Der Gag hat sich erfüllt. Man müsste mit der Geschichte wieder von vorne anfangen – was wir auch tun.

17. Wilson 57

Wiederum erfolgt die Auflösung anders. Ein emotionelles Element wird in das Bild eingebracht. Über eine unmittelbare Bewegung – das Gesicht wird sogar, da es sich in die Bildtiefe absetzt, unscharf und über Sprachfetzen wird das Erschrecken fassbar. Kleine Unterschiede innerhalb des gleichen Vorgangs und wir befinden uns in verschiedenen Aussagefeldern.
So wenig braucht es und wir sitzen in verschiedenen Filmen. So braucht es auch wenig, um als Zuschauer in die Absurdität eines surrealistischen Widerspruchs gebracht zu werden.

18. Wilson, 86

Ich habe bewusst die jeweiligen Einstellungen in der gesamten Länge, bis zu 30 Sekunden, gezeigt. So werden wir gezwungen, uns an das Bild zu halten. Wir können uns nicht einem Erzählrhythmus anvertrauten, sondern wir werden mit der Materialwirkung des Bildes konfrontiert und die Montage von zwei, drei Einstellungen, die wir in ihrer Länge belassen, zwingt uns, weil der sehgewohnte Erzählduktus fehlt, die Schnittstelle als Bezug wahrzunehmen.
Was wir anhand von Wilsons Miniaturdramen als Einstieg in Erzählstrukturen vornahmen, lässt sich im historischen Kontext in gleicher Weise verfolgen.

Filmografie:

  • UNE AUSSI LONGUE ANSEMCE (FR/IT 1961) R: Henri Colpi, B: Marguerite Duras, Gérard Jarlot, K: Marcel Weiss, M: Georges Delerue, P: Prociney-Lye, Galatea, D: Alida Valli (Thérèse Langlois), Georges Wilson (Clochard), Charles Blavette, Amédée, Paul Faivre, Pierre Farel
  • TOUTE UNE NUIT (BE/FR 1982) R: Chantal Akerman, B: Chantal Akerman, K: Caroline Champetier, M: Gustav Mahler, P: Avidia-Films, Paradise-Films, D: Aurore Clément, Pierre Forget, Michel Lussan, Isabelle Pousseur
  • O THIASSOS (Die Wanderschauspieler, GR 1975) R: Theo Angelopoulos, B: Theo Angelopoulos, K: Jorgos Arvanitis, M: Loukianos Kilaidonis, P: Georges Papalios Pruductions, D: Eva Kotamanidou (Elektra), Petros Zarkadis (Orestes), Vanghelis Kazan (Aegisth), Stratos Pachis (Agamemnon), Aliki Georgouli (Klytänmestra)
  • VIDEO 50 (BRD/FR 1981) R: Robert Wilson, B: Robert Wilson, K: Michel Grellet, M: Alan Lloyd, P: Robert Boner, Caroline Arright, D: Lucinda Cilds, Philippe Chemin, Laura Condominas, Robert Wilson

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