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Seminar für Filmwissenschaft

Ästhetik und Gestaltung

Vorlesung 13: MACUNAIMA

Wir beschäftigen uns mit der Funktion des Blickes. Blicke auf der Leinwand. Blicke von der Leinwand zum Zuschauer und Blick des Zuschauers auf die Leinwand
Antonionis Schlusssequenz aus Beruf Reporter wies uns auf die kreative Möglichkeit des Sehens und des Hörens [hin].
Die Entdeckung eines Geschehens ausserhalb der Leinwand. Film. –

Film als Akt der Imagination, der Vorstellung
Der Voyeur wird im Sehen und Hören kreativ
Heute: Schauen wir uns einen Film an: D. h. wir richten unseren Blick, unsere Wahrnehmung auf einen Film. Wir wählen bewusst – einen nicht europäischen Film, einen für unser Seh- und Hörvermögen ungewohnten Film.
Es handelt sich um einen brasilianischen Film des Cinema Novo und um einen populären Erfolgsfilm in Brasilien.
Kunstfilm und Trivialfilm bricht nicht auseinander.

Cinema Novo: Hiess zweierlei
1963 dem brasilianischen Kino, das ein Produkt des amerikanischen Kinos [war], einen eigenen Film entgegen setzen. D. h. eine eigene Kultur: [?] – mulattisch
indianisch
portugiesisch
afrikanisch
und entgegen [?] eine eigene Landschaft: Vom Urwald bis zu den Städten
Damit auch eine eigene Form: die viel mit Fabulieren zu tun hat; im Aufbruch der Fantasie
und zugleich: auch eine politische Potenz entdecken – das Umgehen mit Halbfertigem, mit Entwürfen
Soziale Realität
Mit den Bildern gegen die Zensur: deshalb die Fabeln, die Metaphern, die Entwicklung einer Metasprache, welche vom Volk verstanden wurde
Also unser Blick gilt einer filmischen Realität, die sich selbst definieren musste: als Cinema Novo. Neues Kino, Nouvelle Vague, Free Cinema, Tauwetter
Der Inhalt verlangt auch neues Sehen und Umgehen mit film. Gestaltung
Einerseits soziale Realität (das Elend) und zugleich die Realität der Fantasie, welche film. Sprache wird:
Wir sehen uns an Macunaima
von Joaquim Pedro de Andrada nach dem brasilianischen Eulenspiegelroman von Mario de Andrade 1893-1945
1926 entstanden, in einer Woche niedergeschrieben
Ethnologische Studie, Geschichte eines Helden ohne jeden Charakter

[»]Macunaima, „pechschwarz und Sohn der Nachtangst“, wurde tief im Urwald geboren, ein kleiner brasilianischer Herkules, der es an Beweisen früher Männlichkeit nicht fehlen lässt. Schon bald verlässt er seine Sippe, zusammen mit seinen beiden Brüdern, heiratet Ci, die Mutter des Urwaldes, und gelangt dann, auf der Suche nach seinem verlorenen Amulett, nach Sao Paulo, der modernen, hochtechnisierten Millionenstadt.
In einem Brief an seine amazonischen Untertanen berichtet der „Kaiser“ Macunaima von der Prunksucht der Reichen, der Allmacht und Korruption politischer Cliquen, den ständigen Militärparaden und der allgegenwärtigen Polizei, die „leichtgläubige Bürger ausplündert, die Staatsgelder nach allen Seiten hin verschleudert und weisse Paläste von kostspieliger Architektur bewohnt.“
Nach zahlreichen teils pikaresk-realistischen, teils mythischen Abenteuern kehrt Macunaima in seine Heimat zurück, auf der Suche nach den Stätten seiner Kindheit. Sein letztes Liebesabenteuer mit der Lagunenfrau Uiara hätte ihn beinahe das Leben gekostet. Der aus den Fugen geratenen Welt überdrüssig, verwandelt sich Macunaima in das Sternbild des Grossen Bären.
Macunaima: Roman, Romanze, Rhapsodie? Herkömmlichen Zuordnungen entzieht sich dieses Meisterwerk der brasilianischen Literatur, dessen Rohfassung Mario de Andrade (1893-1945) Ende 1926 nach langen ethnologischen Vorarbeiten in einer Woche zu Papier gebracht hat.
Mario de Andrades Held ist böse und gut: Verschlagen und gutmütig, leichtgläubig und verlogen, feige und mutig, ein komischer, ein parodistischer Held. – In einer ersten Version eines schliesslich verworfenen Vorworts heisst es: „Was mich an Macunaima interessierte, war, die nationale Einheit der Brasilianer zu entdecken. Nach langem Ringen schien mir eines sicher: Der Brasilianer hat keinen Charakter. Mit dem Wort ‚Charakter’ meine ich nicht nur eine ethische Wirklichkeit, sondern die dauerhafte psychische Substanz, die sich in allem äussert, in den Bräuchen, den Verhaltensweisen, im Empfinden, in der Sprache, der Geschichte, im Gang, im Guten wie im Bösen…Der Brasilianer ist wie ein Zwanzigjähriger: Zwar kann man an ihm allgemeine Tendenzen, doch noch nichts Bestimmtes wahrnehmen.“
Mit „Macunaima“, einem der Hauptwerke des brasilianischen Modernismus, beginnt sich Brasilien aus seiner literarischen Abhängigkeit von Europa – und Europa ist für die Brasilianer Frankreich – zu lösen, den stilistischen Vorbildern eines abgehalfterten Symbolismus endgültig den Rücken zu kehren.
Mario de Andrade entdeckt die gesellschaftliche Realität des Brasilien der Zwanzigerjahre mit all ihren Widersprüchen und Konflikten, er sprengt in „Macunaima“ die Fesseln eines akademischen, wirklichkeitsfernen Portugiesisch und macht Ernst mit der Frage nach der Identität der Brasilianer, die als Kontrast, Nebeneinander und Verschmelzung europäischer, afrikanischer und indianischer Tradition zu verstehen ist.[«]

Der Roman beginnt folgendermassen: Ausschnitt
Dieser schwarze Brasilianer begibt sich auf eine Wanderung durch Brasilien und wird ein weisser Brasilianer der Städte
Eine mythische Geschichte – eine brasilianische Geschichte: Flug über Urwald
Rio-Bahia (die Feuchtigkeit Brasilia in der trockenen Luft.
1969
Die Fünfzigerjahre: Starke Entwicklungsfinanzierung
1955 Kubitschek – Brasilia wird gebaut
1963 Cinema Novo
1964 Nach Goularts Reformen
Errichtung einer Militärdiktatur
1967-1969 Arturo da Costa e Silva
1969 Die Militärjuntas an die Macht
Zeit der Repression
Terror
Stadtguerillas entstehen
Staatlicher Terror
Massenmorde an Indios am Amazonas
In dieser Zeit dieser Film
Tropische Bilder. Wilde sinnliche Bilder. Tropikalismus
Lesen zwischen den Bildern – Flüstern
Metasprache oder wild fabulieren
In der Mischung von Trivialität und Popularität und eigenen Bild- und Kunstanspruch.
Die kulturelle Kolonialisierung abwerfen und zu eigenen Bildern vorstossen, die auch dem Volke angehören
Filmpodium: Brasilianische Filme

[»]Inhalt
„Macunaima ist die Geschichte eines Brasilianers, der von Brasilien gefressen wird“, definiert Joaquim Pedro de Andrade seinen Film, der nach dem 1928 publizierten Roman gleichen Titels von Mario de Andrade entstand. Hier präsentiert sich in rabelaisscher Übertreibung ein Brasilien mit allen seinen Widersprüchen, personifiziert in dem lateinamerikanischen Pantraguel Macunaima. Gleichzeitig faul und listig, sentimental und zynisch, untreu und aufrichtig, sinnlich und großherzig, durchlebt er eine Odyssee, die mit seiner Geburt beginnt und mit seinem Tod endet. Schon als erwachsener Mann mit schwarzer Hautfarbe geboren, gibt ihm eine magische Quelle eine helle Haut. Er zieht vom Busch in die Stadt, bereichert sich an einer bombenlegenden Revolutionärin, sucht und findet bei dem reichen Riesen, der in seiner Villa kannibalistische Orgien feiert (die makabren Szenen sind mit Wiener Walzerklängen unterlegt), den magischen Stein der Macht und kehrt am Ende wieder zurück in den Busch, wo er in einem See von der schönen Amazone Viara verschlungen wird.
Andrade serviert dieses bitter-böse Lehrstück vom Fressen und Gefressenwerden in symbolischer Verkleidung und surrealistischer Aufmachung, wobei die mythologische Vorlage zu einem aktuellen parabelhaften Modell von Macht und Unterdrückung umfunktioniert wurde.
WDR-Pressetext

Ein modernistischer Samba
Der tropikalistische Film findet einige erste Bilder: Brasil ano 2000, Macunaima, Os herdeiros, O dragao da maldade contra o santo guerreiro sind prähistorische Filme wie die anderen brasilianischen Filme, die die Bilder des Hungers oder die Bilder der Politik gefunden hatten.
Brasil ano 2000, Macunaima, Os herdeiros erzeugten die Bilder des brasilianisch-lateinamerikanischen Gefühls.
Die Leute mögen Macunaima, weil der Film von Joaquim Pedro de Andrade „wahnsinnig originell“ ist. Macunaima ist eine Tragödie, weil der Schwarze-Indio von seinem eigenen Wahnsinn gefressen wird. Kann man sagen, daß die tropische Traurigkeit schön ist? Macunaima ist nicht tragisch-komisch wie ein Film von Chaplin oder von Tati. Macunaima ist kein einsamer, linker, romantischer Held. Er ist auch kein abenteuerlicher Ritter. Er hat nicht den gleichen Rhythmus wie A falecida von Hirszmann, diesem ersten Meisterwerk des tropikalistischen Intimismus.
Macunaima ist ein modernistischer Samba in Kino-Form.
(Glauber Rocha: „Das sequoias äs palmeiras“, zitiert nach seiner Aufsatzsammlung „Revoluçao do cinema novo“, S. 206 f., Rio de Janeiro 1981. Der Text ist Teil einer Kritik, die 1970 geschrieben wurde.)

Eine Rhapsodie populärer Motive
Interview mit Joaquim Pedro de Andrade
von Fedcrico de Cardenas
(…) Macunaima ist fast das Gegenteil von O padre e a moça. Zunächst einmal handelt es sich um eine Komödie, die Geschichte eines brasilianischen Volkshelden. Sowohl die Geschichte selbst als auch ihr Held sind völlig extrovertiert. Dagegen war mein früherer Film völlig anders, ganz introvertiert. Diesen letzten Film habe ich mit viel Freiheit gemacht; nicht was die materiellen Mittel betrifft, die waren sehr knapp, aber immerhin die bestmöglichen, über die man zu jener Zeit verfügen konnte, so daß der Film nicht zu sehr darunter gelitten hat.
Du hast den Film als eine „Rhapsodie“ oder vielmehr eine „Orchestrierung populärer Motive“ definiert. Könntest Du diese Idee erläutern?
Die Geschichte von Macunaima ist folgende: Anfang des Jahrhunderts kam ein deutscher Forscher nach Brasilien, der eine Studie über die brasilianischen Indios machen wollte. Er sammelte eine Serie von Legenden und veröffentlichte sie in einem Band. Mario de Andrade, eine der wichtigsten Figuren der künstlerischen Erneuerung in Brasilien, interessierte sich um 1922 Tür diese Legenden und entdeckte darin eine sehr wichtige Figur, die in vielen dieser Legenden vorkam: einen Mann namens Macunaima – dieser indianische Name bedeutet „das große Übel“. Macunaima ist ein Held ohne Charakter, ohne Moral. Andrade vereinte in seiner Hauptfigur eine Serie von Elementen des brasilianischen Lebens und machte ein Buch mit dem Titel „Rapsodia“. Und genau das versuchte ich mit dem Film zu machen, indem ich das Buch in einen Film umgesetzt habe, so wie Andrade die Legenden und die populären Motive für sein Buch verwendet hat.
In diesem Film hast Du wohl wie die anderen Regisseure des Cinema Novo versucht, ein populäres Kino zu machen?
Die Filme, die wir alle jetzt machen, haben eine gewisse Identität, und das ist bei allen so, die dieser Bewegung angehören. Verschiedene Strömungen fliessen zusammen. Dieses Phänomen der populären Öffnung des brasilianischen Kinos hat auch zur gleichen Zeit im Theater stattgefunden. Es werden Themen und Werte aus der Erneuerungsbewegung von 1922 wiederaufgenommen und aktualisiert. Das geschieht mehr oder weniger gleichzeitig in den verschiedenen Bereichen der brasilianischen Kunst, obwohl die Filmregisseure keine Entscheidung a priori getroffen haben. Die nationalen Verhältnisse, die Probleme des Landes und die Entwicklung der brasilianischen Kultur haben uns alle zu diesem großen allgemeinen Thema geführt, das ein Teil unserer gegenwärtigen Problematik ist. Was das Kino betrifft, so wird der mehr oder weniger autobiografische Film, der unsere ersten Werke charakterisierte, mit vielen intellektuellen Figuren ohne soziopolitische Probleme, also der Film eines Intellektuellen, langsam durch Filme ersetzt, die sich mit der populären Kultur auseinandersetzen und für das Volk gemacht sind. Es gibt also eine größere Öffnung. Sicher ist dieser Begriff von Volk ziemlich eingeengt, denn die Leute, die in Brasilien ins Kino gehen, gehören einer nicht sehr breiten sozialen Schicht an.
Ich glaube, Macunaima wird eine gute Aufnahme bei einem Publikum finden, das normalerweise nicht oft ins Kino gehl, wenig gebildet ist; viele von ihnen können weder lesen noch schreiben. Ich glaube, sie werden sich den Film ansehen, ihn genießen und sich für ihn interessieren. Dennoch ist es kein Film, der nur gefallen will, denn er greift zwar auf die phantastischen Themen des brasilianischen Volksglaubens zurück, aber er wirft auch Probleme auf, mit denen der Zuschauer sich kritisch auseinandersetzen muß. Denn der Film ist ja die Beschreibung eines vollständigen Lebenszyklus, die gesamte Laufbahn eines Helden von seiner Geburt an bis zu seinem Tod. Es wird also eine kritische Betrachtung sein, denn die Leute sehen etwas, das lebt und stirbt, und so müssen sie über den Nutzen, den Wert und die Bedeutung dieses Lebens nachdenken.
Du hast doch darüber gesprochen, daß bei der Bearbeitung des Buches für den Film sich die Notwendigkeit ergab, einen sehr einfachen filmischen Stil zu finden…
Was ich gesagt habe, ist folgendes: Vor allem ist im Falle Macunaimas das Buch äußerst reich und frei. Die Einfälle im Buch sind sehr verschiedenartig, und die Geschichte spielt sich in mehreren Orten Brasiliens ab. Jeden Augenblick geschehen wundersame Dinge von großer Fantasie. Wenn ich also versucht hätte, eine buchstäbliche Bearbeitung des Buches für den Film zu machen, wäre ich mit unlösbaren Problemen konfrontiert worden und gleichzeitig hätte ich das Wesentliche, die wichtigsten Elemente des Themas verloren. Da die technischen und materiellen Mittel, über die wir verfügten, sehr begrenzt waren, mußten wir diese Einschränkungen schon beim Verfassen des Drehbuches berücksichtigen. Anstelle eines großen technischen Aufwands mit grandioser Szenerie begnüge ich mich damit, das zu zeigen, was im Buch wirklich von Bedeutung ist. Was jene Dinge betrifft, die ich erfunden oder hinzugefügt habe, so habe ich versucht, sie so lebendig wie möglich zu gestalten, das Ganze in einer direkten und einfachen Form zu zeigen.
Aber ich glaube, um einige Sequenzen des Films zu gestalten, hattest Du Probleme, die mit Magie und Hexerei zu tun hatten, und das wiederum war mit großen Ausgaben verbunden. Wie hast Du diese Probleme gelöst?
Ich habe folgendes gemacht: der Film, diese Geschichte des Volkshelden, sollte nicht so sehr in einem legendären Ton erzählt werden, sondern es sollte eine aktive Präsenz sein, so wie ein zeitgenössischer Zuschauer die heutige physische Well erlebt. Das Problem der Magie wurde nach diesem allgemeinen Prinzip gelöst. Ich habe die Magie zu etwas Konkretem gemacht, sie wurde physisch konkret. So fügt sich die Magie in die physische Welt ein, in der sowohl magische Dinge als auch andere physische Phänomene geschehen. Ich habe das gemacht, ohne auf irgendwelche komplizierten Filmtricks zurückgreifen zu müssen.
(Aus einem Interview in der Zeitschrift ‚Hablemos deCine’, Nr. 49, S. 12 ff., Lima 1969)

Simplicissimus in Brasilien
Der offene Faschismus des Militärregimes Brasiliens hat seit 1968 seine Spuren im Cinema Novo hinterlassen. Verhaftung, Emigration und massive Zensur kennzeichnen die heutige Situation. Mehr als je erzwingt die Zensur ein taktisches Vorgehen der Filmemacher; der Rückgriff in die Geschichte und die Mythologie wird zum Verschlüssler der aktuellen Situation, die gemeint ist.
Unter diesem Aspekt ist Joaquim Pedro de Andrades Film eine Kette akrobatisch waghalsiger Drahtseilakte. Die Szenerie, die Andrade in grotesker Opulenz aufbaut, ist bevölkert von Menschenfressern, Talismanen, kannibalischen Nixen und Tiersymbolen. Die Odyssee des Schelmenepos, in dessen Mittelpunkt Macunaima steht, der selbst eine Figur aus der brasilianischen Mythologie ist und in dieser mit eben den Tugenden von Bosheit, Geilheit und Verwandlungskunst gekennzeichnet ist, die ihn in Andrades Film zum idealen Mittler zwischen Mythos und Realität machen, stellt sich dar als eine faszinierende Analogie zu Godards WeekEnd und Kubricks Clockwork Orange. Dem Stationenaufbau des Schelmenromans entspricht die konsequente Darstellung in statischen Bildarrangements.
Die politischen Schlüsselfiguren sind der reiche Riese und seine kannibalistische Familie, die in einem großen Palast residieren, in dem Glasschränke mit lebenden Statuen aufgestellt sind, und Ci, die bombenwerfende Revolutionärin, deren Liebhaber Macunaima wird. Beide Figuren sind trotz der mythologisierenden Verschlüsselung eindeutig identifizierbar als Kapitalist und Guerrillera. Während der dicke Menschenfresser der Widersacher Macunaimas ist, ist Ci, die sich selbst und den gemeinsamen Sohn bei einem Bombenattentat in die Luft sprengt, die große Liebe. Obwohl gerade die Sequenzen der überdrehten Orgien im Hause der Ci mit satirischer Schärfe zugespitzt werden, wird sich am Ende erweisen, daß Ci die einzige ist, um derentwillen Macunaima, an der phantasmagorischen Virulenz des Films gemessen, zarte Trauer trägt.
Obwohl Andrade die Bilder der Mythologie als filmischen Code benutzt, gelingt es ihm noch, den Mythenglauben selbst als wirkungslosen Fetisch darzustellen. Der Talisman, den erst Ci, dann der reiche Riese und zum Schluß Macunaima besitzen, erweist sich als absolut wirkungslos: Ci fliegt in die Luft, der Riese wird von Macunaima während einer Orgie getötet. Macunaima von einer menschenfresserischen Nixe verschlungen, als er am Ende wieder in den Busch zurückgekehrt ist, in dem er als Schwarzer geboren und durch eine magische Quelle zum Weißen geworden ist.
Der volle Beziehungsreichtum des Films ist freilich für den, der die brasilianische Mythologie nicht kennt, kaum erfaßbar. Ein Beispiel macht immerhin deutlich, wie dicht die Anspielungen sind: als Macunaima am Ende verlassen im Busch lebt, gesellt sich ein Papagei zu ihm, dem er ein letztes Mal seine Erlebnisse erzählt. In der Mythologie ist der Papagei aber ein Tier, dessen Zunge verletzt ist, so daß es nicht mehr sprechen und darum Mitteilungen an die Menschen nicht weitergeben kann. Im Kontext der heutigen brasilianischen Zensur ist es also durchaus denkbar, daß der Mythos zur Charakterisierung der zensierten Filmmitteilung benutzt wurde.
Die grotesken und grausamen Schocks, die die Bilder provozieren, sprechen freilich eine eindeutige und direkte Sprache, die auch ohne literarische Übersetzung noch genug von der Realität eines Landes spiegelt, in dem imperialistische Menschenfresser ihre Folterhäuser errichtet haben.
(Gertrud Koch, in: Frankfurter Rundschau vom 10.6.1972)

Materialien aus: Peter B. Schumann: Handbuch des lateinamerikanischen Films. Frankfurt am Main, 1982, “. 198-200.[«]

Weiterführende Informationen

Title

Teaser text