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Seminar für Filmwissenschaft

Ästhetik und Gestaltung

Vorlesung 10: Grossaufnahme

In LA PASSION DE JEANNE D'ARC erzählt Carl Theodor Dreyer mit dem Instrumentarium von Schwenks, Kamerafahrten und Grossaufnahmen stumm und dennoch ungemein bewegt, dialogisch, zwingend die Geschichte eines Prozesses, die Geschichte der Verurteilung, des Widerrufs und des Todes Jeanne d’Arcs auf dem Scheiterhaufen. In VIVRE SA VIE lässt Jean Luc Godard die Prostituierte Nana S. ihr Leben leben, so wie es auch Jeanne d’Arc bis zu ihrem Ende durchlebt hat. Nanas Ende ist zwar erbärmlich. Sie steht einem Schusswechsel zwischen ihrem Zuhälter und einem Kollegen im Wege, an den sie verkauft werden sollte, nachdem sie beschlossen hatte, ihr Leben zu ändern. Was Godard zeigen will, ist nicht eine rührselige melodramatische Geschichte eines gefallenen Mädchens, sondern wie ein Mädchen zu Einsichten kommt, über sich und das Leben nachzudenken beginnt. Doch denken, zu Bewusstsein vorstossen, kann ein tödlicher Vorgang sein.
Godard lässt Anna Karina – seine Schauspielerin – ins Kino gehen und sich Dreyers Jeanne d’arc anschauen.
Auf der Leinwand ersteht die bestechende Bildgestaltung Dreyers: Cadragen, in die Köpfe, Gegenstände, Blicke, Ausdrucksformen, Haut, bis zu den Poren erfahrbar, bis zu den innersten Erregungen sichtbar gemacht, zur Form gebunden werden.
Die Leinwand wird bewusst als weisse Fläche – von Godard gebraucht, auch wenn sie von Dreyer stammt. Denn dem Gesichte Falconettis schneidet er zweimal die Grossaufnahme Anna Karinas entgegen: Auf schwarzem Hintergrund, ohne irgendwelches Lichtflattern auf ihrem Gesicht, wie es so üblich ist, wenn in einem Film ein Film in einem Kinosaal angeschaut wird.
Zwischen den beiden durch Dreyers Bilder getrennten Grossaufnahmen Anna Karinas spielt sich eine subtile Veränderung ab. Aus dem klaren schönen Gesicht wird das Bild einer Regung, als hätte Erkenntnis stattgefunden. Und tatsächlich: Nana S. antizipiert ihre eigene Geschichte stumm in einen Tonfilm.

1. VIVRE SA VIE, 2-3 Min.

35 Jahre liegen zwischen den Aufnahmen von Maria Falconettis und von Anna Karinas Gesicht: Grossaufnahmen, als Zitat Stummfilm gleich, doch montiert in einem Tonfilm, dessen Stummheit den Atem anhalten lässt. Damit sein ein erster Aspekt gesetzt, der uns durch den Tonfilm begleiten wird. Die Grossaufnahmen behalten auch im Tonfilm die Kraft des Stummfilms.
Schauen wir uns einen Ausschnitt aus einem anderen Tonfilm an, d. h. er wurde bewusst im Tonfilmzeitalter als Stummfilm gedreht.
Ein alter Mann irrt taumelnd in sein Haus auf sein ihm vertrautes Zimmer zurück. Im subjektiven Blick der Kamera erscheinen Gegenstände, Wände, Ansätze von Räumen als Abgebrauchtes, Verbrauchtes, als Alterslandschaft.
Fast zwanzig Minuten dauert die subjektive Fahrt hinter dem Mann her, dessen Silhouette bekannt erscheint, als wäre er selbst der Ausdruck eines versteinerten Alters, bis schliesslich über eine Fotografie das Gesicht sichtbar wird: Die Grossaufnahme ist wie das Gemäuer, zerfurcht, abgebröckelt, von der Zeit und an der Zeit zerbröckelt.
Seine Altershände decken das entdeckte Gesicht ab. Ich zeigen Ihnen die letzten sechs Minuten dieses Films. Leben wird beendet, eine Biografie, noch in Erinnerungsbildern anwesend, wird hinter sich gebracht. Zerrissene, zerfetzte Resten, was als Fotografie einst die Zeiten anhalten liess. Der Blick des Augenblicks zählt nicht mehr, zu sehr ist die Zeit nur noch Altern geworden, abschiedslos. Wer sollte es noch merken, wer dieser alte Mann ist, der in seine Behausung irrt. Alles lässt sich abdecken: Den Nagel, die Fische – doch das Gesicht trägt man auf sich. Und wenn das Gesicht nicht mehr sichtbar ist, sagen es die Hände, wie alt das Gesicht hinter den Händen geworden ist.

2. FILM, 6-7 Minuten

Es war – Sie konnten es aus dem Vorspann ersehen – Buster Keaton in einem Film, der sich Film nennt, von Samuel Beckett. – 1965! Erinnern Sie sich für einen Moment an den grossen Komiker der Zwanzigerjahre: Er war noch einmal zu sehen in Billy Wilders SUNSET BOULEVARD (1949). Man nannte ihn das steinerne Gesicht, das sich nie zum Lächeln bog, nie die Anbiederung des Charmes aufwies, stets schon wie ein Gemäuer war. Im Alter wurde das Gemäuer des Gesichts identisch mit dem Alter des Gesichtes.
Ein Selbstdarsteller des Gesichtes weist sich in der filmischen Präsentation auch als Darsteller von Genre-Masken aus.
Wenn z. B. in Samuel Becketts FILM jede Handlung, jede Geste – das Zudecken der Geld-Fische, das Abdecken des Bildes, das Überdecken des Nagels, das Schaukeln des Stuhles als Teil in Gross- und Detail-Aufnahmen zusammengezogen erscheinen, als wäre auch das Leben selbst zur Kurzsichtigkeit, zur Lupensichtigkeit geworden, wird das Gesicht in der Genre-Bestimmung mit Accessoires und Fetischismus-Zutaten versehen, die auch die Grossaufnahme unabhängig von der die Situation bestimmende Totale dem richtigen Film zuordnen.
Gabin bestimmt, ob er einen Lokomotivführer oder einen Grandseigneur spielt, die nationale Zugehörigkeit, Bogart zwielichtet zwischen Polizist und Gangster, die Gesichter des russischen Revolutionsfilms sind Spiegelungen von Klasse und Landschaft und Ingmar Bergmans Grossaufnahmen sind Seelenquellen des angeblich Unsagbaren.
Am prägnantesten spielt sich dies im Italo-Western ab, einem Kino-Fantasieprodukt, das sich seine eigene Bild- und Dramaturgie-Ästhetik schuf. So haben Männer auszusehen im Kino-Western aus der Spaghetti und Pirelli-Fabrik – mit Stoppelbart und langsamen bedächtigen Bewegungen, zum Slow-Motion gewordenes Leben, damit der Griff zur Pistole umso unmittelbarer und schneller wirkt. Ich zeige Ihnen einen Ausschnitt aus dem Wohlbekannten genialen Vorspann zu Giorgios Leones C'ERA UNA VOLTA IL WEST (Spiel mir das Lied vom Tode).
Drei Männer warten – wie oft in den Western – auf eine Ankunft – eines Zuges, eines Mannes, eines Geschehnisses auch –
Zu den Grossaufnahmen der Gesichter, Gesten, Gegenstände werden in der Sprachlosigkeit der drei Männer auch die Geräusche wie akustische Grossaufnahmen einmontiert: Ein Wassertropfen, eine Fliege, die je nach Ort einen anderen „Ton“ von sich abgibt. Dann auch Geräusche, die stören, z. B. der Morseschreiber.
Bezeichnende ist – man fühlt sich an russische Stummfilme erinnert, an denen Leone die visuelle Qualität der Grossaufnahmen gelernt hat – die Sprachlosigkeit wiederum, welche Gesichter, Gesten, Gegenstände und Geräusche visuell Sprache werden lässt.

3. C'ERA UNA VOLTA IL WEST, Video, 5-6 Minuten

Kino-Männer, die je nach Zeit und Ort auch modisches Attribut werden können.
Anna Karinas Madonnenbild auf schwarzem Hintergrund stellte Godard dem gemeisselten Gesicht Falconettis entgegen. Beide Gesichter in Gross hatten Aussagen, innere Geschichten, Darstellung und Verwandlung einer Innerlichkeit zu vergegenwärtigen.
Zwischen Dreyers und Godards Grossaufnahmen liegen 35 Jahre, und beide Aufnahmen stehen dem entgegen, was in der Zwischenzeit aus dem Frauengesicht gemacht worden ist. Der Vamp des Stummfilms wird zum Glamour Star des Tonfilms, je nach Land und Kultur mit anderen Attributen und Zuweisungen versehen. In Hollywood wurde in den Dreissigerjahren der grosse Fabrikant des Glamours Josef von Sternberg.
Bezeichnend ist der Vorgang: Alles, was eine visuell-filmische Ausstrahlung aufzuweisen vermag, eine optische Sinnlichkeit wiedergibt, wird mit einer aus Licht und Materialwirkung versehenen Aura umgeben.
Ich zeige Ihnen einen Ausschnitt aus SHANGHAI EXPRESS (1932). Der englische Dokumentarist Grierson bezeichnete den Film einmal als ein „Meisterwerk der Toilette“. Ich zeige Ihnen diesmal nicht die berühmte „Zigarettenszene“, in der das Spiel von Hell- und Dunkelwerten Marlene Dietrich zur schönen Ware moduliert und die Zigarette als Darstellung reiner filmogenen Lust erscheint –
Die „arrogante Geste“, wie selbst Josef von Sternenberg seine Glamour Inszenierungen umschreibt, spielt sich beim folgenden Beispiel auf der Plattform eines imaginären Eisenbahnzuges ab, der mit einer ganzen Fauna kolonialer Gäste durch das revolutionäre Kino-China fährt.
Shanghai Lily (gespielt von Marlene Dietrich, dem von Sternenberg geliebten Kino-Objekt) spürt ihren früheren Liebhaber Donald Harvey auf, gespielt von Clive Brook. Shanghai Lilys Porträt, im Uhrendeckel zum Amulett des Hauses geworden, und einzelne Dialogfetzen lassen eine tragische Biografie erstehen.
Wichtiger aber als die tragische Geschichte einer Vergangenheit ist das verführerische Arrangement der Gegenwart. Im Lichte zittern leicht die Haare der Dietrich, aber auch der Pelz scheint sich kaum merklich zu sträuben. Die Umhüllungen enthüllen, was wohl zur Geschichte, aber ebenso sehr zum visuellen Reiz als Anreiz für den Kinogänger gehört.
Sternberg filmt Materialien. Ob Mensch oder Ding, Arrangement oder Geste, wichtig ist nur, was sich mit Hilfe filmischer Gestaltung aus diesen Materialien für das visuelle Reizvergnügen machen lässt.

4. SHANGHAI EXPRESS

Die filmische Vermaterialisierung in ein Glamour-Produkt lässt sich aus dem szenischen Arrangement heraus, versehen auch mit den entsprechenden sinnlichen Hörvorgängen, Wind, Geräusche der Eisenbahn, der lang anhaltende Pfiff, der für die Kussszene steht, die filmische Vermaterialisierung lässt sich bis in die Details verfolgen.
Eine Grossaufnahme aus Shanghai Express:
Dia: Gross
und ihre Auflösung in Details:

Dia: Kopf
Dia: Hand
Dia: Hand
Oder im Dunkeln, ihr Gesicht ist in undurchdringlichen Schatten getaucht – betet sie für ihren Geliebten, was Sternberg Anlass gibt, Hände wie ein Bijou zu modulieren:
Dia: betende Hände
Schliesslich in Lautlosigkeit verharrend in der Stummheit des Bildes sich verlierend, nur von Licht umglänzt, die filmogene Brillanz eines Gesichtes, einer Hand: Selbstdarstellung eines Manierismus, der zur Darstellung filmischer Gestaltungsmittel wird: Modulation durch das Licht, sinnliche Wahrnehmung im Reiz des Wahrgenommenen. – die Erzählung selbst ein Parfum voller Trauer.
Dia: Gesicht und Hand hinter Fenster
Dass in diesem Umkreis narzisstischer Verliebtheit in die filmische Machart unverhofft Subtilität möglich werden, gehört in die Übergangszone zwischen Kitsch, Darstellung dessen, was der gute Geschmack zu verbieten scheint und filmischer Magie, visuell-akustischen Raum.
Von Sternberg ist ein Regisseur, der im Grunde zu viel weiss, um noch bei einer ursprünglichen Visualität zu verbleiben, sondern der mit den Gross- und Detail-Aufnahmen den Glamour-Arrangement die filmische Machart selbst inszeniert.
In SCARLETT EMPRESS (1934) – der Film stellt dar, wie aus der kleinen harmlosen deutschen Prinzessin Sophia Frederika die berüchtigte Katharina II wird – findet sich eine Szene, die alles an filmogener Verführung umschliesst, die Sternberg als die „arrogante Geste“ wohlgefällig abtut.
Es ist die Hochzeitsszene: Während die kommende Katharina den verrückten Peter III heiratet, taucht bereits der Liebhaber auf.
Am Flattern einer Kerze, die unter den Atemstössen der Braut zu erlöschen droht und doch nicht erlischt, wird die innere Erregung visualisiert.
Dabei wird in die Grossaufnahme von Marlene Dietrichs Gesicht die Kerze wie ein lebendes Detail eingesetzt. Schliesslich deckt die rhythmisch flackernde Kerzenflamme fast das Bild ab.
Die Szene, welche in der Montage der Einstellungen immer enger, geschlossener, wie zu einem magischen Kreis zusammengezogen wird, ist in Totalen eingebettet, welche auch die Ton-Ambiance abgeben.
Wiederum ist es das Stumme, das zugleich das Beredte der Gegenwart von Gross- und Detailaufnahmen ausmacht.

5. SCARLETT EMPRESS, Video, 3 Minuten

Josef von Sternberg braucht die Gross- und Detailaufnahme, um den sinnlichen Glanz der Dinge, wozu auch zufällig der Mensch gehört, als Reiz entstehen zu lassen. Gross- und Detailaufnahmen brauchen jedoch auch einen Rahmen, aus dem sie entwickelt werden können. Dazu dienen Sternberg die Totalen und die in den Totalen arrangierten Szenerien aus Menschen, Dingen und Bewegungen. In den Totalen wird auch das Licht, das in den Grossaufnahmen trotz der Milde und der Grautöne die Konturen schafft, zur Szenerie.
Wie aus den Totalen die Grossaufnahmen erstehen, möchte ich Ihnen an einem weiteren Beispiel aufzeigen: Es ist die Anfangssequenz aus THE DEVIL IS A WOMAN (1935).
Der Ambiance Hintergrund bildet als Bewegungsballett hin inszeniert ein spanischer Karneval. In ihm taucht der Held in nah, maskiert, zorrogleich mit blitzenden Zähnen auf. Die Grossaufnahme ist der Dietrich vorbehalten: Ein klares Kalkül visueller Präsentierung. Auch sie trägt eine Maske, doch ihre Maske ist durchsichtig-durchbrochen, schleiergleich, fetischistisches Attribut für die Rätselhaftigkeit der Frau. Beim Mann bedeckt die Maske die Augen so, dass nur noch der Blick aggressiv suchend irrlichtet: Bei der Frau ist die Maske sorgsame Enthüllung, so dass die Augen durch den Schleier verschönert zum Versprechen werden.
Aus der Begegnung in nah und gross entwickeln sich Dialog und Duell der Blicke. Die Masken entpersönlichen, doch [sie] schaffen zugleich präzises intimes Schauen. Bezeichnend ist auch, wie die Masken zum Detailbild innerhalb der Cadrage der Gross- und Nahaufnahmen werden. Man fühlt sich an die Kerze in Scarlett Empress erinnert. Die Kerze evoziert als Bilddominierendes Detail die Aussage zum Hintergrund der Grossaufnahme der Dietrich. Die Maske akzentuiert den Blick, der verhängnisvoll tödlich sein wird. Schliesslich wird die Annäherung des Paares als Darstellung gegenseitiger Verführung durch die chaotische Wirrnis des Karnevals getrennt; die Szene löst sich in der Zauberlandschaft von Treppen und verwunschenen Parks auf. Gitter setzen Grenzen. Nur eine schwarz behandschuhte Hand reicht noch eine Botschaft, und wieder ist es die Grossaufnahme, die den Zuschauer zum Mittäter macht.

6. THE DEVIL IS A WOMAN, 35 mm, 6-7 Minuten

Die Auseinandersetzung mit Josef Sternbergs Glamour führt uns zu jenem Aspekt den Ester Carla de Miro in ihrem in „Film und Frau“ 1982 erschienen Artikel die Instrumentalisierung des Begehrens nennt: Durch eine subtile Verlagerung des Interesses von der Situation auf den Gegenstand wird zugänglich gemacht, was sich auch erwerben lässt. Die Frau bleibt unerreichbar, sie ist der Star am Himmel; jedoch kaufbar, wenn auch nur für wenige, sind die Attribute, die sie umgeben. Es gilt von der Unerreichbarkeit der Person abzulenken und auf die Pelze, Juwelen, Autos und Kleider hinzuleiten, die auf der Ebene von Besitz und Begehren immer gegenwärtig sind. Davon lebt das Frauenbild in der Werbung. Und davon lebt Hollywood als die Fabrik der Träume.
Zu den Stars gehörte auch Rita Hayworth, genannt „Göttin der Liebe“, bis sie – was eine Göttin nicht darf – wegen Fehltritten jegliche Liebe des Publikums verlor.
In GILDA von King Vidor – 1946 – wird sie von ihrem Kino-Ehemann mit allen ihren Attributen und Accessoires – als Überraschung – ihrem früheren Liebhaber vorgeführt.
Die Grossaufnahme, die in der Gesprächssituation zur Nahaufnahme tendiert, spiegelt gleichsam eine nur in Andeutungen gemachte Geschichte der Vergangenheit, während Dialog, typisch für einen gut gemachten Unterhaltungsfilm Hollywoods, bissig und untertönig eine nicht ungefährliche Gegenwart markiert.
Ich zeige Ihnen einen Ausschnitt aus Gilda, die sich selbst als „sichtbar“ deklariert.

7. GLDA

GILDA war ein solcher Erfolg, dass Rita Hayworths Bild die Atombombe von Bikini zierte.
Instrumentalisierung des Begehrens soll die Begehrlichkeit auf das Erreichbare justieren und somit Anreiz zu marktkonformem Verhalten sein. Wer diesen Mechanismus durchschaut, war Orson Welles. Er heiratete Rita Hayworth, schnitt ihr publizitätswirksam die rotbraunen Haare, liess was übrig blieb erblonden und machte sie in THE LADY FROM SHANGHAI gierig auf Geld. Was Orson Welles reizte, war die Zerstörung der Mythen. Unter der aalglatten Fläche der Hollywood-Ästhetik lauert der Abgrund. Das Glamour-Gesicht reizt Welles nicht um die Seele zu entdecken, sondern das ästhetisch präsentierte kalte Nichts, auch wenn der Ton so viel anderes verspricht. Orson Welles lässt Männer auf der Yacht über Geld sprechen – man beachte die Inszenierung der Köpfe – und nähert sich mit der Kamera der von Liebe und Umarmung singenden Lady from Shanghai, welche nur das Geld will.
Welles schnitt seiner Rita Hayworth nicht nur die Haare und liess sie nicht nur erblonden, sondern eiskalt gemacht, nimmt er ihr auch jegliche Form von Fetischismus weg, falls wir von der Zigarette und dem Lied absehen, und überlässt sie brutal ihrer eigenen Grossaufnahme. Das Bild zerbricht, auch wenn es noch so schön erscheint.

8. THE LADY FROM SHANGHAI, Video, 4 Minuten

Was wir bis anhin anhand der Gross- und Detailaufnahme im Tonfilm verfolgten, war ihre Funktion und Zielsetzung.
1. Aussage – Intensität
2. Schaffung eines Starbildes mit all seinen fetischistischen Attributen
3. Die Verbindung von Gross- und Detail mit Ton respektive mit bewusst gehandhabter Tonlosigkeit selbst im Tonfilm.
Es blieb ausgeklammert, dass die Montage von Gross- und Detailaufnahmen, wenn die Totale fehlen, eine eigene filmische Welt aufbauen.
Hier in diesem Vorlesungssaal liessen sich verschiedene Filme drehen, wenn wir nur mit Gross und Detail arbeiten, denn die Relation zu Ort und Raum, einmal unterbunden, erzeugt einen eigenen filmischen Raum.
Hellraumprojektor, die Anlagen -- wie wäre es mit einem Gruselfilm?

Es blieb bei unserer Beschäftigung bis anhin auch ausgeklammert die simple Folge von Grossaufnahmen in einem Dialog, wenn der Zuschauer in voller Selbstverständlichkeit in ein visuell und akustisch erfahrbares Gespräch einbezogen wird.
So z. B. in John Hustons THE MISFITS mit Marilyn Monroe und Clark Gable, beide in ihrer letzten Rolle, 1961. Man beachte, wie das Licht die Grossaufnahme zusätzlich cadriert. Gables Hut mit Licht betont, schafft die Abgrenzung des Gesichts, während das blonde Haar der Monroe, in einen Schatten getaucht, ihr Gesicht umso heller, die Haut umso durchsichtiger erscheinen lässt.

9. THE MISFITS, Video, 3 Minuten

Zum Abschluss der heutigen Vorlesung zeige ich Ihnen Borowczyks Verfilmung der Maupassant Novelle „Rosalie Prudent“.
Maupassant wird mit Vorliebe, weil dafür geeignet, realistisch naturalistisch verfilmt, voller Ambiance, Atmosphäre und Erzählduktus: ROSALIE ist die Geschichte eines Mädchens, das sich verführen liess, geschwängert wurde, statt ein Kind gleich zwei gebar, darob erschrak, verzweifelt und ihre beiden Kinder ermordete.
Borowczyks Film gibt das Gericht wieder. Wir sind das Tribunal. Wir, die Zuschauer, sind Monsieur le Juge. Die Angeklagte ist auf uns ausgerichtet. In den entscheidenden Momenten sieht die Angeklagte uns an. Die Geschichte selbst wird uns in der subjektiven Darstellung Rosalies und über Grossaufnahmen der Beweisstücke der Tat, und was zur Tat führte, erzählt. In Borowczyks Film ist nichts von Naturalismen vorfindbar, keine Ophüls Ambiance, nicht von Bel-Ami und Plaisir. In aller Ruhe können wir uns das Opfer der Anklage anschauen und uns an den Beweisstücken orientieren. Ein Travelling führt über die Beweisstücke den Zuschauer zur schluchzenden Angeklagten hin. Auf weissem Leinwandgrund zeichnet sich, fast vom Weiss der Leinwand aufgesogen, ihr Gesicht ein. Sie selbst erscheint in Nah-Aufnahme; die Gegenstände, die Dinge sind Grossaufnahmen: Das Porträt des Verführers als Fotografie, das Nähkörbchen, ein Gürtel, die Zeitungspakete.
Der Film besteht nur aus einer Nahaufnahme (die erzählende Rosalie) und aus Grossaufnahme (die Gegenstände).
Zwei Geschichten kreuzen sich, berühren sich, und entfernen sich von einander. Rosalies erzählte Geschichte – also die Sprachgeschichte – (in nah) und die Bildgeschichte (in gross), zeitlich dazu verschoben und hinzu kommt die Geschichte ihres Gesichtes, das wir anschauen, das wir suchen, wenn es sich dem Boden zuwendet.
Die Geschichte der Gegenstände – also die Grossaufnahmen – ist gegenläufig zur Geschichte, welche Rosalie erzählt. Auf dem Hintergrund ihrer erzählten Geschichte lösen sich die Beweisstücke auf: Was gross und mächtig auf der Leinwand war, löst sich auf – die Materialität hebt sich weg. Die Grossaufnahmen der Gegenstände zerfallen. Übrig bleibt Rosalie und ihre von ihr erzählte Geschichte: „C’est la vérité – Monsieur le Juge.“ „Das ist die Wahrheit, Herr Richter“. Und Rosalie wird freigesprochen.

10. ROSALIE

Hätten Sie Rosalie auch freigesprochen. Oder gingen Sie dem Charme der Schauspielerin auf den Leim? Oder der filmischen Machart, die die Geschichte hautnah und zugleich abstrakt werden liess.
Stellen Sie sich die gleiche Geschichte – die gleichen Szenen – kinogemäss vor – mit Ankläger, Verteidiger, Zeugen, Publikum – vielleicht auch mit Rückblenden.
Was wir hier erlebten, war die Konzentration auf einen Film, der uns zugleich auf einen Menschen und auf Gegenstände konzentrieren liess, ohne dass ein Raum entstand. Denn wir, die Zuschauer, bilden diesen Raum zu diesem Film.

Filmografie:

  • VIVRE SA VIE (FR 1962) R: Jean-Luc Godard, B: Jean-Luc Godard, K: Raoul Coutard, M: Michel Legrand, P: Films de la Pléiade (Pierre Braunberger), D: Anna Karina (Nana), Sady Rebbot (Raul), André S. Labarthe (Oaul), Guylaine Schlumberger (Yvette)
  • FILM (KA 1963) R: Alain Schneider, B: Samuel Beckett, K: Boris Kaufman, P: Evergreen Theater Inc., D: Buster Keaton
  • C'ERA UNA VOLTA IL WEST (IT 1968) R: Sergio Leone, B: Sergio Leone, Sergio Donati, nach einer Geschichte von Dario Argento, Bernardo Bertulucci & Sergio Leone, K: Tonino Delli Colli, M: Ennio Morricone, P: Rafran Cinematpgrafica & Euro International Films, D: Henry Fonda (Frank), Claudia Cardinale (Jill McBain), Jason Robards (Cheyenne), Charles Bronson (The Man/Harmonica), Frank Wolff (Brett McBain)
  • SHANGHAI EXPRESS (US 1934) R: Josef von Sternberg, B: Jules Furthman, K: Lee Harmes, M: W. Frank Harling, P: Paramount, D: Marlene Dietrich (Shanghai Lily), Clive Brook (Donald Harvey), Anna May Wong (Hui Fei), Warner Oland
  • THE SCARLET EMPRESS (US 1934) R: Josef von Sternberg, B: Josef von Sternberg, K: Bert Glennon, M: Themen von Taschakowski, Mendelssohn und Wagner, arrangiert von John M. Leipold und W. Frank Harling, P: Paramount Pictures, D: Marlene Dietrich (Sophie Friederike/Katharina II), John Lodge (Fürst Alexaj), San Jaffe (Grossfürst Peter Feodorowitsch); Louise Dresser (Zarin Elisabeth)
  • THE DEVIL IS A WOMAN (US 1935) R: Josef von Sternberg, B: Josef von Sternberg, John Dos Passos, S. K. Winston, nach dem Roman "La femme et le pantin" von Pierre Louys, K: Josef von Sternberg, Lucien Ballard, M: Ralph Rainger, Leo Robin, P: Paramount Pictures, D: Marlene Dietrich (Concha Perez), Cesar Romero (Antonio Glavan), Lionel Atwell (Don Pasqual)
  • GILDA (US 1946) R: Charles Vidor, B: Marion Parsonett, Jo Eisinger, nach einer Story von E. A. Ellington, K: Rudolph Maté, M: Morris Stoloff, P: Columbia (Virginia Van Upp), D: Rita Hayworth (Gilda), Glenn Ford (Johnny Farrell), George Macready (Ballin Mundson), Joseph Calleia
  • THE LADY FROM SHANGHAI (US 1948) R: Orson Welles, B: Orsone Welles, nach dem Roman "Before I Die" von Sherwood King, K: Charlesd Lawton, Jr., M: Heinz Roemheld, P: Columbia (Orson Welles), D: Rita Hayworth (Elsa Bannister), Erson Welles (Michael O'Hara), Everett Sloane (Anthur Bannister), Glenn Anders
  • THE MISFITS (US 1961) R: John Huston, B: Arthur Miller, K: Russell Metty, M: Alex North, P: United Artists (Frank E. Taylor), D: Clark Gable (Gay), Marilyn Monroe (Roslyn), Eli Walach (Guido), Montgomery Clift (Perce), Thelma Ritter
  • ROSALIE (FR 1966) R: Walerian Borowczyk, B: Walerian Borowczyk, nach der Novelle "Rosalie Prudent" von Maupassant, K: Yann Le Masson, P: Pantaléon Films, D: Ligia Borowczyk (Rosalie)

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