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Seminar für Filmwissenschaft

Ästhetik und Gestaltung

Vorlesung 1

Die Lehrveranstaltung in diesem Semester heisst "Ästhetik und Gestaltung". Hinter der thematischen Formulierung einer Vorlesung stehen Absicht und Aussage des Dozenten. Deshalb sind die Begriffe zu definieren. Auf den ersten Blick erscheint der Titel wie ein Pleonasmus. Denn was ist Ästhetik anderes als Gestaltung, die als Formungsprozess der Ästhetik zugehört? Das eine steht für das andere, sich zugleich gegenseitig durchwirkend. Wenn wir das filmische Produkt als Ergebnis von Ästhetik und Gestaltung verstehen, reduzieren wir Gestaltung auf den Begriff "Technik". Auf welche Weise werden technisch-filmische Gestaltungsmittel wie Kamera, Bild, Ton und Schnitt eingesetzt? Gestaltung wird auf Handwerk eingeschränkt – auf die Handhabung visueller und akustischer Mittel.

Die Einengung des einen Begriffs provoziert die Verengung des anderen. Ästhetik droht auf eine Theorie der filmischen Gestaltung verkürzt zu werden. Wenn dies so wäre, könnten wir uns getrost auf die Prolegomena verbürgter Ordnung und Normierung zurückziehen und sie als ein System handhaben, das theoretisch formuliert und mit Beispielen belegt als Kanon der Richtigkeit ohne Verlust der Mitte filmhistorische Entwicklung zur Theorie verdichtet. Das würde uns erlauben, Massstab für Kritik, Wertung und Schulung zu setzen: gleichsam das Ergebnis einer Übereinkunft von Produzenten, Realisatoren und Rezipienten, welche die Beschäftigung mit Film zur Wissenschaft erklärt und jenen Erfahrungsraum beschneidet, der stets von neuem den Weg vom Realisator über das Produkt zum Zuschauer als einen kreativen Rezeptionsprozess erlebbar werden lässt – das heisst: je nach Zeit und Raum auch wieder anders neu oder bestätigend erlebbar werden lässt.

Der theoretisch abgesicherten Ästhetik stünde dann als Mittel der Verwirklichung die Gestaltung entgegen, wie sie uns in der mannigfachen Produktion von Filmen entgegentritt, die sich auf dem Hintergrund theoretischer Übereinkunft einordnen und werten lassen. Damit der Titel der Lehrveranstaltung nicht endgültig zum Konstrukt entartet, sei allen möglichen Missverständnissen und Missdeutungen zum Trotz mein Eigenverständnis hier eingebracht, das zugleich Absicht und Zielvorstellung umschreiben soll. Schaffen wir Klarheit.

Was sich als Pleonasmus ausweist, will ich als eine dialektische Spannung verstanden wissen, die die Entstehung des Produktes als einen Prozess des Werdens – als einen immer wieder neu an- und eingesetzten Prozess der Verwirklichung begreift. Ästhetik, ob theoretisch formuliert oder nur über das Produkt des Realisators quasi verinnerlicht fassbar, verwirklicht sich im Prozess der Gestaltung. Gestaltung wiederum ist stets Teil angewandter Ästhetik, die sich im Produkt selbst – im filmischen Werk – ­ ausweist. Dass dieser Prozess die Handhabung der Technik einschliesst, ergibt sich schon allein aus der Tatsache, dass Ästhetik über den Gestaltungsprozess zu einer faktischen Verwirklichung drängt. Sie bedarf einer handwerklichen Bestätigung.

"Ästhetik und Gestaltung" heisst somit – programmatisch, wenn Sie wollen – die Entstehung eines Films als einen lebendigen Schaffensprozess zu begreifen, der die Frage "Was ist Film?" immer wieder von neuem in der Frage aufnimmt "Auf welche Weise erscheint ein Film?" und "Welche formale und inhaltliche Bedeutung will dieser Film mir als Zuschauer vermitteln?" Dies bedingt die Frage: "Was nehme ich als Zuschauer von der mir inhaltlich und formal vermittelten Bedeutung wahr?" So hiess denn auch der ursprüngliche Titel der Lehrveranstaltung "Versuch einer Phänomenologie des Films". Schauen wir uns ein Filmbeispiel an.

1 BLINKITY BLANK von Norman McLaren ^

"Versuch einer Phänomenologie des Films" nannte ich den ursprünglichen Titel der Lehrveranstaltung. Die Fragestellung hat dabei auf drei Ebenen zu erfolgen.

  1. Wie erscheinen filmische Gestaltungsmittel?
  2. Was sind sie in Wirklichkeit?
  3. Was sagen sie aus oder wollen sie aussagen? Welche Bedeutung wollen sie uns vermitteln? Verbunden mit der impliziten Aussage ist auch die Frage: "Welche Bedeutung billigen wir als Zuschauer ihnen zu?" Damit sei ein subjektiv bedingter Bedeutungswandel eingeschlossen, der sich aus der jeweiligen Position des Rezipienten ergibt.

Übertragen wir die Fragestellung auf das eben gesehene Beispiel BLINKITY BLANK.

  1. Die filmische Gestaltungsform eines für McLaren typischen Animationsfilms erscheint als Evokation von Licht und Farbimpulsen, die die Leinwand pointillistisch provozierend überziehen. Discolicht-artige Reizungen des Auges – ein Feuerwerk von Formen, Farben und Licht. Visuelle Kaskaden, über die Tonpartitur zusätzlich rhythmisiert und mit motorischer Atemlosigkeit versehen. Die Gestaltungsformen von McLarens Animationsfilm erscheinen wie die lustvolle Selbstdarstellung eines Animationsfilms: ein Provokationsspass aus Licht, Farbe und Bewegung. Aufregung der Sinne und der Wahrnehmung.
  2. Wenn wir die Frage nach der Wirklichkeit von McLarens Gestaltungsformen stellen, sind sie Ritzungen des Filmmaterials, direkt auf das Filmmaterial applizierte farbig lichtstarke Zeichen – Bild um Bild ins Filmmaterial eingeritzte Graffiti: spontane Einfälle, dem jeweiligen Bild eingerastet, die durch den technisch bedingten Ablauf des Films – 24 Bilder pro Sekunde – zu leben beginnen, sich verändern, Formen bekommen und Beziehungen zwischen den einzelnen Zeichen innerhalb des Bildes entstehen lassen. Durch die Bewegung des Filmstreifens wird das statische Zeichen und seine erstarrte Ikonografie [in Bewegung] gebracht und stellt durch die Veränderung im zeitlichen Ablauf ein Bezugsystem her, das nur bedingt anhand des einzelnen Bildes ersichtlich war.
  3. Stellen wir die Frage nach der Aussagen der von McLaren im Bereich des Animationsfilms angewandten filmischen Gestaltung. Aus dem Zusammenspiel der farbigen lichtstarken Bildzeichen-Evokationen versucht der Zuschauer eine Geschichte herauszulesen. Er begibt sich auf Entdeckung, versucht mitzubekommen, was als Feuerwerk auf ihn niedergeht. Er nimmt wahr: ein Spiel von Formen und Farben, von harten und weichen Formen, von eckigen und plüschigen, von quadratisch ornamentalen und zeichnerisch aufgefächerten Formen. Er nimmt farbig brillierende Gebilde wahr, die sich öffnen und schliessen, Punkte werden, zerplatzen, von neuem werden. Im Gegensatz dazu einfarbige Striche, skelettartig. Man glaubt aus dem Chaos eine Geschichte zu erkennen. Ein Federvieh hat Berührungsangst. Hingeknallt findet ein Tod statt. Ein Ei spielt rein. Eine Palme wird aufgesogen. Am Ende ist alles klar: Es war eine Entstehungs-, eine Entwicklungs-, eine Schöpfungsgeschichte. Ob Huhn oder Ei am Anfang war, lässt sich im Chaos nicht klären. Am Ende ist es eine Liebesgeschichte, die nicht ohne Folgen bleibt. Falls der Zuschauer die Geschichte nur stückweise mitbekommt, errät und sieht, ergötzt er sich am filmisch visuell-akustischen Wirbel.

So kommt McLarens BLINITY BLANK eine zweifache Bedeutung zu:

1. Die in Bewegung geratenen Licht- und Farbzeichen genügen sich selbst – ihre Aussage erschliesst sich im ästhetischen Rezeptionsvergnügen.

oder/und

2. Die Licht- und Farbzeichen werden über den Animationsvorgang zu Materialien, aus denen sich unsere Wahrnehmung eine Geschichte baut.

Je nach Wahrnehmung des Zuschauers verändert sich jedoch die inhaltliche Bedeutung und somit auch die Aussage. "Versuch einer Phänomenologie des Films" heisst somit, die Erscheinung einer filmischen Wirklichkeit auf ihre Machart zu hinterfragen, um die Bedeutung ersichtlich zu machen, die stets hinter der Erscheinung filmischer Gestaltung und ihrer Machart steht.

Die sich dabei ergebende Aussage kann durchaus widersprüchlicher Art sein, in der Rezeption durch den Zuschauer wie ein Fächer sich öffnen und verschiedene Erfahrungen zulassen. Sie muss jedoch nicht der Aussage des Autors kongruent sein. Der Autor kann durchaus eine andere Aussage, eine andere Zielsetzung gehabt haben. Hinzu kommt, dass nicht nur der Zuschauer in individueller Rezeption die Erscheinung anders wahrnimmt und für sich verarbeitet, sondern auch die Erscheinungsform einer bestimmten filmischen Gestaltung je nach Land, Kultur und Zeit anders wird – das Schnittmuster eines heutigen Videoclips wäre zum Beispiel in den Dreissigerjahren undenkbar gewesen und hätte zum Misserfolg geführt.

Übertragen wir das Gesagte auf den Trailer eines Italo-Western. Die filmische Gestaltungsformen – Bewegung, Farbe, Montagemuster, Handlungs- und Spielgesten, Dekor und Typen – erscheinen als Verschnitt, der das Genre eines Italo-Westerns ausmacht. In Wirklichkeit sind es die für das Genre bezeichnenden Elemente, die sich im angekündigten Film vorfinden oder sich mindestens vorfinden sollten, in der einen oder anderen Form. Die Machart ist einfach. Geschnitten wird auf Aktion und Ton: Kinowerbung als visueller und akustischer Anreiz. Die filmische Form geht in der Zielsetzung auf, mit den vorgezeigten Bildern das Produkt verkaufen zu können. Deshalb ist die Machart mit der Bedeutung ähnlich, nämlich Schnitt, Musik, Selektion der Bilder, die visuelle und akustische Grundstruktur, die auf die vermeintliche Aggression des Films eingeht, vermitteln sich selbst der genre-immanenten Selbstdarstellung.

Doch mit der Vorführung der Grundmuster hat man letztlich den Film bereits gesehen, und weil man ihn gesehen hat, geht man ins Kino, um eine dem Genre gemässe Unterhaltungserwartung zu befriedigen. Für den Produzenten geht es darum, mit der filmischen Machart die Erwartung aufzubauen, und für den Zuschauer liegt die Bedeutung darin, was er aus dem Trailer für seine Kinobedürfnisse macht.

2 DJANGO (Trailer)

Die filmischen Gestaltungsmittel erlangen im DJANGO-Trailer über die Machart genau jene Bedeutung, die ihnen zukommt: Nämlich dass der Zuschauer in ihnen erkennt, was er an einen Italo-Western liebt und deshalb den Film für den Kinobesuch wählt. Wir stellen fest: Über ästhetische Grundformen von Bild und Ton Bedeutung schaffen, ist eine Frage der Machart. Hier schliesst sich die Frage nach der Umsetzung einer Bedeutung an. Besonders im Reklamefilm liegt die Bedeutung in der Assoziation zum Produkt, das es zu verkaufen gilt. Im Gegensatz zum Filmtrailer, der als Film über ästhetische Grundmuster und Gestaltungsformen sich selbst verkauft, hat der Reklamefilm über einen filmisch fabrizierten Konsumreiz ein Fremdprodukt anzubringen. Was liegt dann näher, als dass der Bildreiz zur eindeutigen Symbolik verkommt?

3 "Matratzenreklame" (30 Sekunden)

Würden Sie auf dieser Matratze schlafen? Oder spielt sich vielmehr etwas anderes ab? Nicht die Matratze ist das Thema des Films, sondern der Unterhaltungswert des Werbespots im grauen Fernseh-Alltag. Dass ich für die Fortführung meiner Gedanken einen weiteren Werbefilm beiziehe, hängt damit zusammen, dass der Werbefilm auf der Grundlage einer allgemein verbindlichen, normierten Ästhetik bewusst mit der filmischen Gestaltung arbeitet – denn die Machart des Films hat Sinn und Zweck, dem Zuschauer die Bedeutung eindeutig zu erschliessen. Damit geht der Werbefilm ja auch in Produktion. Vertrackter wird die Bedeutung eines Werbespots, wenn sie sich zur Ästhetik selbst verdeutlicht. Das folgende Beispiel liesse sich als einen Experimentalfilm über Körperlichkeit und Bewegung in Verbindung zu einem assoziativen Ton verstehen.

4 Yamaha-Reklame (Cannes-Rolle, ORF 2; 30 Sekunden)

Der sich drehende Körper wird zur Bewegungsachse eines Kraftgetriebes. Meine Assoziation war für mich zunächst eine Schiffsschraube. Der Ton verweist auf Animalisches, auf einen heulenden Motor, der jedoch sehr vermenschlicht wirkt. Der Ton geht jedoch schliesslich auf im Urlaut "Yamaha", was in der Tonalität durchaus auf japanische Filme verweist, also genau das Produkt assoziiert. Mir scheint, als wäre der Film von Ton her – vom Urlaut Yamaha – konzipiert und entwickelt worden. In diesen Zusammenhang gehört vielleicht auch: dass Yamaha heute elektronische Musikinstrumente entwickelt, nicht nur Urwaldtieren gleiches Motorengeheul. Wie schwierig es jedoch wird, wenn es um mehr als um bedeutungsvolle Produktewerbung: um Bedeutungserlebnis geht, will ich an einem weiteren Beispiel aufzeigen.

In der Jubiläumssendung der Television Suisse Romande zur Cinémathèque Suisse in Lausanne wurde Freddy Buache, der Direktor der Cinémathèque, gefragt, welchen Film er auf die berühmte einsame Insel mitnehmen würde. Er antwortete, er würde nur eine Sequenz mitnehmen. Sie zeigt ein Video-Bild – eine Fernsehsendung also – in einem Film von Daniel Schmid mit Bulle Ogier über Cannes. Der Ausschnitt wird bei einer Fernseh-Live-Direktsendung eingespielt. Also ein Film, der über den Fernsehschirm in einem Film erscheint und zugleich in einer Fernsehsendung eingespielt wird, die als Live-Moderation "cinéma direct" sein will.

['Buache-Beispiel', Sendung über die Cinémathèque Suisse; 2 Minuten]

Was uns hier interessiert, ist nicht die Meta-Situation, wie Film im Film und zugleich in einer Fernsehsendung Bedeutung schafft, sondern was während der Sendung selbst geschah. Das heisst: inwiefern die Bedeutung dieses kleinen Ausschnittes total verschieden erfasst wurde. Buache will eine Sequenz auf die einsame Insel mitnehmen. Sie zeigt, wie Langlois, der grosse Konservator der Cinémathèque Française, durch sein Museum geht. Die Kamera folgt Langlois: ein Travelling von hinten. Das ist die äussere Form – die Machart, Langlois in seinem Museum zu zeigen. Wenn man jedoch genauer hinschaut und Buache kennt, weiss man nicht mehr, ob der Mann, der leichtfüssig beschwingt in einem leicht hingefilmten Travelling durch sein Museum geht, Langlois ist – oder Buache, der wie in einem Selbstzitat im grossen Langlois sich selber sieht und sich zugleich Langlois' Museum nach Lausanne holt.

Nach dem Filmausschnitt, sagt Buache, was auch wir gesehen haben: "C’était Langlois qui traverse son musée" und Defaye, der Moderator der Sendung, wirft ein: "Oui, oui de très, très, très belles images." Für Defaye ist das Filmbeispiel wie viele andere ein Filmausschnitt, den er kaum auf die einsame Insel retten würde. Für Buache ist dieses Travelling eine Hommage an den Film. Ein Selbstzitat, das wohl Langlois zeigt und in der Spiegelung auch Buache meint, aber als Travelling viel mehr bedeutet als was es erscheint, nämlich eine Liebeserklärung an den Film.

"Sehr, sehr, sehr schöne Bilder" und "C’était Langlois, qui traverse son musée", als würde er durch den Raum der Filmgeschichte gleiten – gleich wie die Kamera, die ihm folgt. Eklatant bricht die Erfahrung von Bedeutung, die in ein paar Sekunden Film liegen, auseinander. Schauen wir uns noch einmal das Beispiel an.

Filmästhetik und Gestaltung: der Prozess des Werdens erschliesst sich in der Bedeutung, die der Filmautor – es kann dies auch eine Gruppe oder der Produzent sein – in seiner Intention dem Film, einer Szene oder auch nur einer Geste, einem Gesicht, einem Lichtschimmer, einer Kamerabewegung geben will. Was der Zuschauer in der Rezeption daraus macht, ist wiederum eine andere Frage. Wenn wir die filmische Gestaltungsform, wie sie auf der Leinwand erscheint, sowohl in ihrem ästhetischen Bezug als auch in ihrer Machart hinterfragen, heisst dies noch nicht, dass die Bedeutung, die der Autor vermitteln will, kongruent geht mit dem, was der Zuschauer auf Grund der filmischen Erscheinung sich aneignet. Auf diese Spannung werden wir im Laufe der Lehrveranstaltung immer wieder stossen. Der Prozess des Werdens, der sich aus der Spannung von Ästhetik und Gestaltung ergibt, heisst nicht nur Anwendung der Filmtechnik als ein Stück handwerklicher Umgang mit Apparaten, mit der Sichtweise der Umwelt und mit Filmmaterial, sondern ganz einfach auch "Arbeit".

Frederick Wiseman, der grosse amerikanische Dokumentarfilmer, geht in seinen Filmreportagen den amerikanischen Institutionen nach. Ob Polizei, Schule, Militär, Tierversuche, Warenhaus oder Fleischverwertung – seine Filme haben stets Sachen – Dinge – zum Thema, aus denen sich Institutionen als das Werk von Menschen ablesen lassen. Zugleich sind seine Filme stets auch – wie oft im Dokumentarfilmbereich – Reflexionen über filmische Gestaltung. Die von Wiseman geforderte filmische Erfahrung an Authentizität kommt nicht darum herum, das Medium selbst zu thematisieren.

Für Wisemans Umgang mit der Wirklichkeit ist zunächst einmal bezeichnend, dass er sowohl Kommentar als auch Musik, sofern sie nicht zur Authentizität der hörbaren Umwelt gehört, als Erklärungshilfe, Interpretation oder emotionale Verstärkung ausschliesst. Seine Dokumentarfilme sind Montagen des nackten visuellen und akustischen Aufnahme-Materials. Für die Haltung – für die Ideologie der Sichtweise – ist es ebenso bezeichnend, dass Wiseman in seinem kleinen Team nicht die Kamera, sondern den Ton – das heisst das Mikrofon – handhabt, um über die Tonperspektive dem angegangenen Objekt näher zu kommen – zum Beispiel jenen Ton zu bekommen, deren Quelle off-mässig nicht das authentische Bild verstärkt, sondern das Hörbare so selektioniert, dass das Sichtbare eine Raumerweiterung oder Korrektur erfährt. Dadurch werden auch Sprechweise und Sprache der beobachteten Person aussagekräftiger.

Wisemans neuester Film heisst MISSILE (1987). Sein Thema ist, wie Offiziere der amerikanischen Armee lernen, Raketen mit Atomsprengkörpern zu zünden und auf die richtige Zielbahn zu bringen. Wiseman filmt den Unterricht, als wäre es ein ganz gewöhnlicher Unterricht, als ginge es um die Einübung einer Fremdsprache, die Handhabung eines Computers, die Vermittlung von irgendwelchem Wissen technischer Art, ohne den Hintergrund der tödlichen Mechanik zu thematisieren.

In den Cahiers du Cinéma wurde der Film als langweilig apostrophiert, da ja nichts geschehe. Doch dies ist ja gerade die Aussage von Wisemans Dokumentarfilm: Wenn Action eintritt und die Raketen wirklich gezündet würden, ist es zu spät, sich Fragen zu stellen, welchem Zweck der harmlose, fantasielose und langweilige Schulunterricht diente. Wiseman filmt akribisch, was die Offiziere ausbildungsmässig lernen und er filmt zugleich, worüber – wie oft in der Schule – nicht gesprochen, nicht nachgedacht wird. Thema ist gerade, dass die Spannung ausgespart bleibt, denn sie gehört einer Wirklichkeit an, die nicht mehr filmbar sein wird. Und dieser Wiseman drehte 1980 einen Dokumentarfilm über die Modewelt als amerikanische Institution, über ihre Agenturen, Fotografen und Mannequins. Und es ist zugleich ein Film über Arbeit – auch über filmische Arbeit. Ich werde Ihnen gleich einen längeren Ausschnitt aus diesem Film MODEL zeigen: Er beschreibt die mühsame Filmarbeit an einem Werbespot. Thema ist ein Arbeitsprozess, dessen Produkt sichtbar wird. Das Produkt selbst – der Werbespot – hat einen bewussten Konsumreiz zum Ziel: in Sekundenschnelle mit den entsprechenden filmischen Gestaltungsmitteln den Rezipienten, den potentiellen Käufer, anzusprechen. Es gilt, die Rezeption des artifiziellen Filmprodukts in den Konsum des realen Artikels umzusetzen. Die Produktion des Konsum-Anreizes hat als Hintergrund harte Arbeit im Umgang mit der filmischen Gestaltung und im Einsatz normierten Menschenmaterials, das in Anlehnung an Hitchcock – Schauspieler sind nur Bäume – wie Versatzstücke für das Werbeprodukt gebraucht wird.

Es wird mit zwei verschiedenen Teams gearbeitet: eines für Aussenaufnahmen, eines für die Studio-Arbeit. Der Kameramann ist zugleich auch der Regisseur, der sich den Wünschen der Produzentin gegenüber recht hilflos erweist: Wie lassen sich mit einem viel zu harten Sonnenlicht impressionistische Punkte auf Beine hinzaubern?

Ich wies bereits darauf hin, welche Bedeutung Wiseman, gerade weil er sich mit dem visuellen Ausdruck einer Institution, den visuellen Signalen einer Institution, der Sprache zumisst. In dem Sinne ist bezeichnend, wie er in der ersten Szene die Sprache und die Sprechweise des Kameramannes plastisch werden lässt. Für ihn, den Kameramann, hat "My Darling", "My Sweetheart" die Gesten zu produzieren, die Mechanik femininer Reize in Gang zu bringen, etwas Hübsches zu machen, sodass man sich an Truffaut erinnert fühlt, der auf die Frage, was Kino ist, antwortete: "Hübsche Frauen hübsche Sachen machen lassen"; dies im Gegensatz zu Godards "24 Mal in der Sekunde die Wahrheit zu sagen". Doch die vom Kameramann geforderte "Action" hat jene Wahrheit abzugeben, welche über die filmische Machart ein Produkt reizvoll – und somit konsumierbar – werden lässt.

Der Diktus des Kameramannes reicht von "Mach es für mich, Darling" bis hin zu jenem Satz: "Den Kopf brauche ich nicht mehr". Denn Filmen hat damit zu tun, die richtige Cadrage zu finden, was heisst, Welt und Menschen werden in Teile zerlegt. Die Sprache sagt bei Wiseman oft aus, was dem Bilde innewohnt und der Zuschauer sich nur denkt. Doch das ist, was Wiseman will: in der Erscheinung filmischer Gestaltungsformen aufzuzeigen, was sie in Wirklichkeit sind – nämlich die Selbstdarstellung einer aufgespürten Wirklichkeit, die (der Intelligenz und dem Spürsinn und der Beobachtungsgabe des Zuschauers überlassen) einen Denkprozess auslöst.

Wenden wir uns der mühsamen filmischen Arbeit zu. Die Dokumentation über filmische Arbeit am Drehplatz – also ohne Schnitt, Vertonung, Auswertung – dauert 25 Minuten. Und dies ist nur ein Bruchteil der Schaffensanstrengung. Gestaltung hat mit Arbeit zu tun, auch wenn es nur um einen Werbespot geht. Für jene unter Ihnen, welche konzentrierte Arbeit schlecht ertragen, entschädigen ein paar atmosphärische Bilder aus der New Yorker Strassenwelt.

6 MODEL (25 Minuten bis Mischpult)

Sie sahen den Arbeitsprozess. Können Sie sich den Werbespot vorstellen? Wie sieht er aus? Lassen sich die Teile zusammensetzen? Wie würden Sie die Szenen am Montagetisch schneiden? Wie lange dauert der Spot? Es sind 27 Sekunden – das heisst in Bezug auf die Auswertung: eine sehr teure Sendezeit. Schauen wir uns nach den 25 Minuten die 27 Sekunden an.

7 MODEL (der Werbespot; 27 Sekunden)

Würden Sie das Produkt kaufen? So schnell, pointillistisch hingeworfen und so teuer ist, was vorher so minutiös arbeitsintensiv war. Damit stellt sich die Frage, inwiefern das Spannungspotential zwischen Ästhetik und Gestaltung, und die Hinterfragung der Machart nicht letztlich eine Frage nach den Produktionsverhältnissen – das heisst nach den Machtverhältnissen ist.

Filmografie

BLINKITY BLANK (CAN 1955), R: Norman McLaren.

DJANGO (I/SP 1966), R: Sergio Corbucci.

MISSILE (USA 1987), R: Frederick Wiseman.

MODEL (USA 1980), R: Frederick Wiseman.

Weiterführende Informationen

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