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Seminar für Filmwissenschaft

Komplexes filmisches Erzählen

Dr. Matthias Brütsch
Habilitationsprojekt

Seit den 1990er Jahren kann in Kino und Fernsehen eine Zunahme von komplexen Erzählformen beobachtet werden, die Normen der klassischen Narration in verschiedener Hinsicht überschreiten. Dazu gehören Filme und Fernsehserien, die ihre Geschichte mehrsträngig, multiperspektivisch, rückwärts oder unzuverlässig erzählen, Parallelwelten oder alternative Handlungsentwürfe einander gegenüberstellen oder die Grenzen zwischen Erzählebenen, Realität und Traum oder Realität und Fiktion verwischen respektive durchbrechen. «Mind Game» und «Puzzle Film» sind geläufige Bezeichnungen aus der Filmkritik, die auf eine spielerische Komponente, erhöhte Anforderungen im Rezeptionsprozess sowie ein starkes Interesse an Fragen der Figurenidentität und -subjektivität der meisten dieser Filme hindeuten. Das Forschungsprojekt möchte sich diesem vielseitigen Phänomen unter verschiedenen Aspekten annähern. Auf Basis der Sichtung des bereits recht umfangreichen Forschungsfeldes sollen einerseits Methoden zur Modellierung narrativer Komplexität sowie ein entsprechender Begriffsapparat erarbeitet werden. Dabei gilt es zu klären, in welche Richtung herkömmliche Modelle aus Dramaturgie und Erzähltheorie weiterentwickelt werden müssen, um das nötige Analysewerkzeug für eine adäquate Beschreibung der Struktur und Wirkung komplexer Erzählungen bereit zu stellen. Andererseits sollen kognitions- und emotionstheoretische Ansätze berücksichtigt werden. In einem zweiten Schritt sollen besonders auffällige Normabweichungen – etwa die durchgängige Umkehr der Ereignispräsentation in Rückwärtserzählungen, metaleptische Grenzüberschreitungen in Filmen mit multipler Diegese oder Formen des unzuverlässigen Erzählens – detailliert untersucht werden. Dabei geht es unter anderem um folgende Fragen: Nach welchen dramaturgischen Prinzipien funktionieren Filme dieser Art und welche besonderen Verstehensprozesse erfordern sie? Wie steht es um das Verhältnis von Innovation und Konvention? Wie verhalten sich komplexe Erzählungen gegenüber herkömmlichen Genres? Wie sind sie im Spannungsverhältnis von Immersion und Selbstreflexion zu situieren? Welche intertextuellen und intermedialen Referenzen unterhalten sie? Und welche Themen werden durch die aussergewöhnlichen formalen Strukturen begünstigt? Im dritten Teil geht es darum, eine filmhistorische Perspektive einzunehmen. Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede bestehen zwischen den filmischen Erzählexperimenten der vergangenen zwei Dekaden (die im Grenzbereich von Independent-, Art-House- und Mainstream-Produktion anzusiedeln sind) und solchen anderer Epochen, etwa im europäischen Kunstfilm der 1960er/1970er Jahre, im Film Noir der 1940er Jahre oder in Avantgarde-Bewegungen der Vorkriegszeit. Grundlegend wirft eine diachrone Perspektive auch die Frage auf, wie Erzählnormen und Traditionen entstehen, sich entwickeln, gebrochen und erneuert werden. Stehen einfache Formen am Anfang, die sich zu komplexeren Gebilden weiterentwickeln und verfestigen, oder bedingt das Herausbilden eines dominanten Erzählmodus vielmehr ein Eindämmen der Möglichkeiten und somit eine Reduktion des Komplexitätsgrades, der durch den Einfluss von Gegenbewegungen schliesslich wieder erweitert werden kann? Abschliessend soll die Frage nach medialen und kulturellen Kontexten gestellt werden, die komplexe Erzählformen besonders begünstigen.