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Seraina Winzeler, M.A.
Referentin: Prof. Dr. Margrit Tröhler
In den letzten Jahrzehnten lässt sich in unterschiedlichen künstlerischen und kulturellen Praktiken sowie interdisziplinär in der Wissenschaft ein anhaltendes Interesse an Konzepten der Zeugenschaft beobachten. Insbesondere in einer neuen Ära der Zeugenschaft nach der Shoah rückten ab den späten 1970er Jahren die Überlebenden mit ihren singulären, auf Anerkennung und emotionale Anteilnahme zielenden Aussagen ins Zentrum der Erinnerungspolitik. Das Forschungsprojekt knüpft an die in diesem Rahmen entstandenen Diskurse und an die dort festgestellten Zusammenhänge zwischen Medien und Zeugenschaft an. Damit möchte es die auch dem technologischen Wandel unterliegende Entstehung und Wirkung der Zeitzeug*in historisch und theoretisch nachvollziehen.
Zugleich ist in anderen gesellschaftspolitischen Bereichen eine Politisierung von scheinbar privaten und partikularen Sichtweisen zu beobachten. Identitätspolitische Bewegungen seit den 1970er Jahren verhandeln das Verhältnis von Individuellem und Gesellschaftlichen und stellen ebenfalls die Frage danach, wie subjektive Erfahrungen kollektiviert werden können. Im Fokus des Projekts steht die Inszenierung von subjektivem Wissen, das Erzählen und Mitteilen von individuellen Erlebnissen in feministischen und queeren Filmen, die aus filmhistorischer und -theoretischer Perspektive untersucht werden. Inwiefern ist der stark an die Auseinandersetzung mit der Shoah gebundene Begriff der Zeugenschaft für diese historischen Kontexte fruchtbar? Lassen sich diese Filme unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen Produktions- und Rezeptionszusammenhänge als Praktiken des Bezeugens verstehen? Verändert und erweitert sich mit der Betrachtung von deren oft partizipativen Arbeitsweisen und Darstellungsmodi, die sich nicht auf das Interview, sprachliche Äusserungen und tendenziell passive Inszenierungen beschränken, der Begriff der Zeugenschaft?
Den feministischen und queeren Filmen liegt ein politisch-aktivistischer Impuls zugrunde, der das Verständnis des Dokumentarischen an dessen gesellschaftliche und interventionistische Funktion koppelt. Als nicht-fiktionale und ausserhalb des Kinos zirkulierende Filme positionieren sich diese Arbeiten am Rande einer klassischen Filmgeschichte und wurden von der Forschung erst marginal rezipiert. Der visuellen Repräsentation scheint im Rahmen von Auseinandersetzungen um Sichtbarkeit, Anerkennung und Gleichstellung der jeweiligen sozialen Gruppe jedoch eine besondere Bedeutung zuzukommen. Im Wissen um die politischen, gesellschaftlichen und technologischen Rahmungen, die die Formen und Funktionen des Testimonialen mitbestimmen, entwerfen die Fallbeispiele neue selbstreflexive Blickkonfigurationen. (Macht-)Verhältnisse und Beziehungen zwischen Autor*in, inszenierten Subjekten und Zuschauenden und deren unterschiedlichen Identitäten und Rollen stehen darin ebenso zur Diskussion wie vorherrschende Formen und Vorstellungen von Wissen und Wahrheit und damit verbundene ästhetische Darstellungsweisen. Zudem lassen sich an den Blickkonfigurationen Prozesse der Individualisierung, Medialisierung und Emotionalisierung von Gesellschaft und Politik nachvollziehen. Der oft auch ambivalente Begriff der Zeugenschaft kennzeichnet so eine Hinwendung zum Realen, die um zentrale und grundlegende Fragestellungen dokumentarischer Repräsentation kreist.