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Seminar für Filmwissenschaft

Cineastischer Eros – Sexualität im Film

Vorlesung 10

In der letzten Vorlesung führte uns das Thema des Sehens und des Blicks zur Frage nach einer männlichen und weiblichen Sichtweise. In der Gegenüberstellung von Tinto Brass L’UOMO CHE GUARDA und Bette Gordons VARIETY fand die Seh-Perspektive ihren Ausdruck in der Handhabung der filmischen Gestaltungsmittel. Damit rückt das filmische Handwerk als Spiegelung eines ästhetischen Selbstverständnisses in den Mittelpunkt. Dabei liessen sich folgende Beobachtungen ausmachen.

  1. Tinto Brass segmentiert fetischisierend den weiblichen Körper in Nah-, Gross- und Detailaufnahmen, um das Reizpotenzial erotischer Verdinglichung (Busen, Geschlecht, Po, Haare, körperliche Plastizität) durch eine in künstliches Licht getauchte modisch-brillante Farbgebung auszuloten. Bette Gordon schliesst die Beobachtung des Mannes, um zu erfahren, wer Louie sei, in die Totalen filmisch-sinnlicher Erfahrung von Orten ein. Der  naturalistischen detailversessenen Wiedergabe des Weiblichen durch Tinto Brass steht Bette Gordons Stimmungs-Erotik gegenüber, mit der sie ihr Objekt – ihren Mann – einlullt:
  2. Tinto Brass versucht im steten Wechsel von subjektivem Blick des Mannes auf das weibliche Objekt und vom Voyeurblick des Zuschauers auf das szenische Arrangement die Totalität visueller Befriedigung zu erzielen. Bette Gordon hingegen konzentriert die Kamera auf Christine in ihrer Umgebung und lässt vielfach den Gegenschnitt als Erotikon der Verheimlichung im Ungewissen, ohne Fixierung, verbleiben.
  3. Tinto Brass vertraut ganz dem erotischen und sexuellen Angebot, insbesondere der weiblichen Figuren und lässt sie, wenn wir von sexualisierten Geräuschen und einer klipartigen Musikuntermalung absehen, im Tonlosen sich kaum bewegen. Bette Gordon baut einen Sound von Stadt und Orten auf und malt mit Tönen eine Szenerie von Sex und Lust.
  4. Tinto Brass taucht seine Geschichte in die visuelle Erotik von Mode und Publizitätsbildern und zentriert seine Kamera auf die Geschlechtlichkeit, als gäbe es keine andere Sichtweise. Bette Gordon schafft das Fluidum eines cineastischen Eros, das Farben, Kamerabewegungen, eine Ambiance der Sinne, gesättigt von Tönen, Geräuschen und Sprache, erschliesst. In der imaginativen Kraft von Stimme und Sprache erwächst der Blick auf die Sexualität Christines, während Tinto Brass der Macht einer Kamera vertraut, die sich um den weiblichen Körper bemüht, dabei aber die Sexualität des Mannes auf den einzig und alleinigen Blick auf das weibliche Objekt reduziert. So heisst denn auch der eine Film L’UOMO CHE GUARDA und der andere VARIETY. Der Blick auf das Eine – der Anblick des Ganzen.

Nach dieser zusammenfassenden Rückbesinnung greife ich im Spannungsfeld zwischen Tinto Brass und Bette Gordon noch einmal thematisch die männliche und weibliche Sichtweise und deren Auswirkung auf die Handhabung der filmischen Gestaltung auf. Wir schauen uns noch einmal das Beispiel an, das die Verschiebung des voyeuristischen Blicks zur imaginativ gestaltenden Kraft der Sprache beinhaltet: Vor dem Frontfenster des Autos sitzen Mark und Christine und erzählen sich gegenseitig Geschichten. Mark erzählt von seiner Arbeit und Christine aus ihrem Leben, was soviel heisst, ich erzähle die von meinem Beruf als Billettverkäuferin in einem Pornokino, ich erzähle dir, was ich in der Arbeitspause im Pornokino gesehen habe, und ich erzähle dir von mir, von meinen Bildern, meinen sexuellen Fantasien. Sind es ihre Fantasien? Oder bildet vielmehr ihre Beschreibung dessen, was sie täglich auf der Leinwand sieht und wir in Bette Gordons Film nicht sehen, den Anreiz, dass der voyeuristische Blick sich über die Sprache den eigenen Pornofilm gestaltet.

1 VARIETY I

Ich ziehe ein Zitat von Bette Gordon bei, das uns zu den Filmausschnitten TEX AVERY und METROPOLIS, zur Verzweiflung eines "Peeping Tom" zurückführt.
„Im Pornofilm wird die körperliche Berührung durch den Blick ersetzt. Der Zuschauer kann von dem Mann oder der Frau, die auf der Leinwand zu sehen sind, nicht Besitz ergreifen. Trotzdem bestärkt die Pornografie den Wunsch nach Besitz oder einer ähnlichen Erfüllung. Indem der Pornofilm statt der echten Erfüllung nur den Blick auf das Gewünschte gewährt, stellt er zwar sicher, dass kein Bild jemals Erfüllung bringt, aber gleichzeitig sorgt er dafür, dass das Verlangen nach solchen Bildern niemals abreisst. Ich wollte eine Geschichte entwickeln, die in gleicher Weise funktioniert, die ein Verlangen auslöst, das sie nicht stillt."
Im Begehren klaffen Christines sexuelle Identität und sexuelle Fantasie auseinander. Zugleich wird ersichtlich, dass die imaginative Kraft der Sprache die unauflösbar erscheinende Spannung zwischen Sehen und Berühren zu mildern vermag. IDabei geht es nicht um Verbal-Erotik, wie sie im Sexfilm als potensierendes Mittel sexueller Inszenierung eingesetzt wird. Um den Unterschied klar herauszuarbeiten, schauen wir uns eine Szene zum Vergleich aus Tinto Brass' Manifest über den Voyeurismus an. Dodo und Silvia treffen sich im Kino. Angesichts eines Films von Tinto Brass – es handelt sich um LA CHIAVE, die Verfilmung vom Kanikazis Roman – besprechen sie lautstark als Real-Kino im Kino ihre Beziehungsthematik. Die Sprache erhält als situative Stimulanz die Aufgabe, das voyeuristische Bild zu verstärken, das durch einen weiblichen Mitwisser-Blick pointiert wird, als ginge es um die malerische Transkribierung von "Suzanne im Bade".

2 L’UOMO CHE GUARDA

Auch wenn im zitierten Film weder Beaudelaire, Tizian noch der herrliche Klimt das Fleisch zur Entflammung des Schwanzes abzugeben vermögen, heisst dies nicht, dass  es um den Film besser bestellt ist. Zwar ist das ganze Instrumentarium eines Sexfilms zugegen: Licht, Ort und Situation. Die Kamera operiert präzise. Selbst der Ehering ist sichtbar. Der Text evoziert angeblich Unerhörtes: Analsex – das Lieblingsthema der drei grossen B: Bertolucci, Bellochio und Brass.

Ziehen wir ein weiteres Beispiel bei: Christine erzählt Mark eine ihrer Geschichten: Beschreibung der Leinwand als Phantasmen der Einbildungskraft. Obwohl nichts geschieht, als hätte Godard die Szene inszeniert, geht eine provokative Kraft von der Sprache aus. Das nicht Gezeigte erschliesst sich in der Sprache. Die Sprache gestaltet den voyeuristischen Blick. Selbst was sich nicht verfilmen lässt, wie die sodomitische Geschichte vom Tiger, auch wenn es im pornografischen Film genügend Beispiele von Geschlechtsverkehr zwischen La Belle et la Bête gibt, wird erlebbar. Der Begegnung mit Mark geht ein Auftakt im Peepland voraus:

3 VARIETY II

Wenn wir vom Titel der Lehrveranstaltung ausgehen, setzt Bette Gordon die Sexualität im Film in einen cineastischen Eros um. Im Blick auf den Mann schafft sie ihm einen Ort aus Farbe, Licht und Stimmung und malt ihm mit den Bewegungen der Kamera ein sensuelles Umfeld. Statt der Segmentierung des Körpers, um an die Geschlechtlichkeit heranzukommen, stellt sie den Mann in einen Raum sinnlicher Bildwirkung. Sie setzt die Sprache als Beschwörung sexueller Handlungen ein und gewinnt dabei das Begehren in der Imagination. Der Blick gilt nicht nur dem Objekt, sondern ebenso sehr dem gestaltenden Subjekt, dessen Sexualität im Film zur Darstellung gebracht wird.

Männlicher Blick – weiblicher Blick. Bette Gordon sagt von sich: "Ich selbst werde sexuell von dem mehr erregt, was ich nicht sehe, als von dem, was überdeutlich vor mir steht." Und gefragt, wie Männer und Frauen auf die Sexualfantasien reagierten, die von Christine aktiv ausgesprochen werden, antwortet sie, dass Männer eher Unbehagen äussern und Frauen dagegen sich stark mit Christine identifizieren. Der Tendenz nach würde auch sagen, dass Männer eine visuelle Gestaltung sexueller Inhalte bevorzugen und Frauen eher auf eine sprachliche Vergegenwärtigung eingehen.

Godards unterkühlte Faszination wächst aus dem Wechsel der Sehperspektiven, aber auch aus der Dialektik von Bild und Ton, von Bild und Sprache, von den in den Bildern eingeritzten Zitaten und den Text-Bildern und schafft auf diese Weise eine irritierende Alchemie intellektueller Reizungen, die Sehen und Lesen zu einem erotischen Geschäft werden lassen. Bette Gordon, die auf der Partitur von Godard spielt, setzt die Sprache als direkte Aggression ein, die den Zuschauer, die Zuschauerin in der Intimität trifft. Bleiben wir vorerst bei der Sprache als Instrument sexueller Präsenz, um anschliessend die Gegenwart des sexuellen Bildes auf der Leinwand zurück zu gewinnen. Ich gehe von einem Dokumentarfilm aus: BABY, I WILL MAKE YOU SWEAT von Birgit Hein. Birgit Hein ist Filmemacherin und Professorin für Bildende Künste in Braunschweig. Sie kommt vom Underground- und Experimentalfilm her und arbeitete unter anderem mit ihrem damaligen Mann hier in Zürich. Ihre Filme waren an der Platte, dann am Limmatquai in Privatvorstellungen zu sehen. Vor etwa vier Jahren lief hier in Zürich für eine kurze Zeit im Kino Commercio der Film DIE UNHEIMLICHEN FRAUEN, zum Teil von der Kritik aufs schärfste abgelehnt.

Auf ihre dritte Jamaika-Reise nahm Birgit Hein eine neu gekaufte High-8-Kamera mit, um ihren Aufenthalt zu dokumentieren: ein visuelles Tagebuch, das in der Verarbeitung des filmischen Materials zur Darstellung der Sehnsucht einer alternden Frau nach Zärtlichkeit und Sexualität wurde. Dass der dokumentarische Blick zu einem erotischen Blick werden sollte, legt der Anfang des Films mit einem einzigen, sich in sich selbst verwandelnden Travelling und mit wenigen Sätzen fest:

4 BABY, I WILL MAKE YOU SWEAT I

Birgit Hein montiert die stummen Zeugnisse ihrer Begegnungen und ihres Sexuallebens mit archaisch wilden Männern auf Jamaica, inmitten vom plärrenden Lautsprechern, Hunden, farbig schillernden Fischen, als wären es LSD-Träume, inmitten von Unrat, wuchernder Vegetation und Getier, inmitten von Alkohol und Kokain, zu vibrierenden Bildern filmischer Poesie. Diese Bilder sind das Ergebnis eines artifiziellen Verarbeitungsprozesses. Von der Filmleinwand als Video abgefilmt, und über einen transparenten Videoschirm in Einzelbilder zerlegt, zur Zeitlupe gedehnt, mit einem rauen Super-8-Filmeffekt versehen, entstand ein in Schichten mehrfach überarbeiteter, am Schneidetisch konstruierter Film intensiver Bewegungen, ungewohnter Farbtönungen und verwegener Lichtgebung. Zu diesen ursprünglich stummen Bildern spricht Birgit Hein, losgelöst vom direkten synchronen Bildbezug, jedoch eingebunden in den emotionalen Fluss, Texte ihres Tagebuches ein. In der Verbindung von Originalgeräuschen, welche die Super-8-Kamera aufnahm, Musik und elektronischer Transformierung unterlag der Sound ebenfalls einer intensiven konstruierten Verarbeitung. In diesem Kontext wird wiederum die imaginative Macht der Sprache deutlich. Klar und direkt schafft sie die Darstellung gelebter Sexualität auf dem Hintergrund von frei schwebenden Bildern, einem Konglomerat von Farben, Bewegungen, Stimmungen und Deutungen. So wenn die Sprecherin zum ersten Mal, selbst- und aktiv bestimmend, nach Überwindung ihrer Ängste und Hemmungen mit einem Mann, der ihr Sohn sein könnte, ins Bett geht.

5 BABY, I WILL MAKE YOU SWEAT II

Wie bei Bette Gordon kreuzen sich Geschichten. Eine ist die von Joe, ihrem ersten Liebhaber. Die Filmbilder beschwören Regen und Tropen, die Körperlichkeit eines Männerarmes, Alltäglichkeiten, das Segment eines Bettes mit Körperteilen, einen Hund, der im Unrat Essbares erschnüffelt. Die Darstellung der Sexualität ist der Sprache überlassen.

6 BABY, I WILL MAKE YOU SWEAT III

In einem Interview weist Birgit Hein darauf hin, dass sie nur ein einziges Mal den Liebesakt mit ihrem Liebhaber – es ist Ron – drehen konnte und dass ihr auch andere Aufnahmen fehlten. So griff sie auf die Texte ihres Tagesbuchs zurück, die sie unbearbeitet in den Film übertrag.

So entstand der Text aus einem Mangel, weil ich diese Bilder nicht aufnehmen konnte. [...] Am Schneidetisch zuhause hatte ich dann das Gefühl, ich mache einen Film ohne Bilder. Denn es fehlten Bilder, die ich haben wollte. So habe ich mit dem Text gearbeitet, wie er in meinem Tagebuch stand. Da merkte ich, dass dies eine grossartige Lösung sei, denn der Zuschauer fängt selber an, an den Bildern mitzuschaffen, er beginnt in den Film seine eigenen Bilder einzubringen, und dies ist, gerade wenn es um Sexualität geht, oft sehr viel besser. Wir kennen dies aus Pornofilmen, die Bilder können auch ganz schön banal sein. So sage ich zwar sehr deutlich, um was es sich handelt. Doch jeder hat die Möglichkeit, seine eigenen Bilder dazu zu schaffen. Ich finde es faszinierend, wenn ich im Kino sitze und ich denke, die Zuschauer sehen diese Bilder und in ihrem Kopf ist eins, das ich überhaupt noch nicht kenne.

Im Film schafft die Sprache die Intensität sexuellen Erlebens. In der sexuellen Begegnung, konkret im Sexualakt, hebt jedoch, wie Birgit Hein in einem Tagebuchtext des Films bemerkt, die Sinnlichkeit die Sprache auf. In der Sprachlosigkeit des Sexualaktes erwächst die neue Sensibilität des Körpers. Da spricht sie denn auch von ihrem goldenen Körper. In einem Land, da das Alter für die gelebte Sexualität keine Rolle spielt, lassen das Begehren durch den Mann und das eigene Begehren den Körper imaginativ und emotional golden werden. Man (Frau) sieht sich nicht mehr, man (Frau) empfindet sich nur. Und diese Vorstellung des eigenen körperlichen Selbst wird im Film ein Akt der Sprache.
"Aus Mangel an Bildern habe sie den Tagebuchtext in den Film einverarbeitet", erklärt Birgit Hein. Nur einmal sei es ihr gelungen, den Liebesakt mit Ron zu filmen: Eine statisch fixierte, automatisch eingestellte Kamera blickt körpernah auf das Paar. In dieser Situation entsagt Birgit Hein der Sprache. Denn im Bild selbst löst sich die Imaginationskraft vom Gegenstand und macht die Zuschauer frei, auf eigene sexuelle Reisen zu gehen, in die eigenen Körpernächte einzutauchen.

Die Sequenz wirkt im vollen Sinn des Wortes unheimlich geil, weil Geilheit gefilmt wird und ihren filmischen Ausdruck findet. Sie entsteht aus der Verarbeitung des dokumentarischen Materials: im leichten Zittern von Hell- und Dunkelwerte der in Zeitlupe aufgelösten Bildern, in der Vibration der Farben und in den Schwankungen des Lichts, die die Körperumrisse ausfransen lassen, beginnt die Leinwand zu atmen – zu schwitzen (sweat). Körperteile, Hautsegmente mit ihren Streifen und Unebenheiten geben im Ritual der Bewegungen eine Körperlandschaft ab, in der sich der Zuschauer, die Zuschauerin nur allmählich zurechtfindet.

Die sexuelle Vereinigung wird in freier Bildverfügbarkeit dem Körpergefühl der Zuschauer überlassen. So entsteht ein offener Spielraum für die eigene Fantasie. Nur die schwarze Hand in ihrer Zärtlichkeit und das zitternde Tuch schaffen so etwas wie Anhaltspunkte und sind zugleich Wiedergabe des sinnlichen Bebens der Körper. Im Handwerk der Verarbeitung entsteht der cineastische Eros, der dem Koitus auf der Leinwand jene sinnliche Wahrnehmung verleiht, von der Birgit Hein am Ende der Sequenz spricht. Die sinnliche Sensibilität körperlicher Wahrnehmung und körperlichen Erlebens mache die Sprache überflüssig.

Aus Mangel an Bildern griff Birgit Hein zum Tagebuchtext. Jetzt jedoch schärft sich und intensiviert sich die sinnliche Wahrnehmung an den Bildern. Die Sprache wird von der Sexualität aufgesogen. Was der Sequenz eine fast manifestartige Bedeutung verleiht, ist ihre Positionierung innerhalb des Films. Der Auftakt zur wortlosen, dem Bild verfallenen Koitus-Szene bildet eine informativ kommentierte Drogensequenz. Wie in einem Protokoll stellt Birgit Heins Tagebuchtext dokumentarisch die einzelnen Stationen fest, bis sie endlich sagt: "Es ist fünf Uhr dreissig früh, ich bin nicht müde", und ein Nachtbild leitet vom sprachlichen Dokumentarismus zur stummen Liebesszene über. Der Filmausschnitt setzt in der Endphase der Drogensequenz ein. Die Pfeife ist endlich fertig präpariert.

7 BABY, I WILL MAKE YOU SWEAT IV

In der Auseinandersetzung mit Tinto Brass, Bette Gordon und Birgit Hein kreuzen sich zwei Themen.

  1. Die Frage nach der Sichtweise, die wir aus dem Thema des Sehens und des Blickes entwickelt haben, findet ihren Ausdruck in der Handhabung der filmischen Gestaltung. Damit rücken der Umgang mit der Kamera, Lichtführung, Farbgebung, Montage- und Schnittmuster, Tonverarbeitung in den Mittelpunkt: Thema wird das Verständnis des filmischen Handwerks.
  2. Die Darstellung erotischer und sexueller Spannung als Darstellung eines visuell und sprachlich beschriebenen Aktes wird zur Frage nach der Gewichtung von Bild und Sprache, welche der Realitäts- und Imaginationsvermittlung dienen. Beide Themen lösen sich von der expliziten Darstellung von Sexualität im Film und ziehen uns in den magischen Kreis des cineastischen Eros.

Ich nehme die beiden Themen noch einmal auf: Blick und Sichtweise, Bild und Sprache, und zwar führe ich zunächst weiter, was an den Filmen von Bette Gordon und Birgit Hein als sexuelle Sprache erschienen war und uns bei Birgit Hein wieder als visuelle Kraft sexueller Bilder faszinieren liess. Ich gehe im Folgenden von einem pornografischen Film aus, nämlich SHOCKING TRUTH (1996) von Gregory Dark. Gregory Dark gehört neben Kris Kramski, einem Franzosen, der in Amerika arbeitet, zu jenen Pornofilmautoren, die das abgenutzte Pornofilmgenre nicht durch thematische und inhaltliche Eskalationen zu vitalisieren versuchen, sondern vielmehr experimental und formal mit dem pornografischen Film umgehen, indem sie ins Grotesk-Komische, Fantastische und Surrealistische vorstossen. In SHOCKING TRUTH montiert Gregory Dark die Pornonummern zwischen Interviews mit den betreffenden Darstellerinnen. Dabei erweist sich, dass die Interviews, die ganz auf der Sprache und der durch Sprache ausgelösten Imagination basieren, eine intensivere und schockierendere sensuelle Wirkung und Plastizität ausüben als die eingelassenen Porno-Sequenzen. Schauen wir uns und hören wir uns ein solches Interview an. Leider habe ich das Videoband nur in einer französischen Synchronisation.

8 SHOCKING TRUTH I

Damit setzt die Pornosequenz ein. Drei Männer mit Pfeife und Schnauz beschäftigen sich ausführlich mit der Darstellerin. Was spielt sich ab? Eine Pornodarstellerin mit einem hübschen, unschuldig wirkenden Gesicht, antwortet Auge in Auge zur Kamera, hinter der sich der Interviewer befindet. Vielfach beschreibt sie Situationen, die sich kaum verfilmen lassen, wie z. B. die Geschichte des Grossvaters mit dem Kind. Ein Bild, das uns zu Buñuel hinführt, der immer wieder versuchte, das abgründig Unsichtbare, die Perversion bildhaft zu erschliessen. Dabei setzte er nicht Symbole oder Metaphern ein, sondern Wirklichkeitsbilder, die wie Traumfetzen unser Unbewusstes und Unterbewusstes aufreissen. Bei Gregory Dark wirkt ein, dass wir darum wissen, dass die befragte Frau eine Pornodarstellerin ist und wir ihr eine andere, schon berufsbedingte Wirklichkeitsebene zubilligen. Dazu gehört auch, dass wir nicht ausmachen können, ob das Interview fiktional oder dokumentarisch ist – fiktionaler Dokumentarismus oder cinéma vérité.

Ich zeige Ihnen noch einen weiteren Interview-Ausschnitt. Wie ein intimes Gespräch fliesst er dahin, letztlich unerträglich in seiner sprachlichen Nähe. Die ausgestellte Nacktheit ist bildhafte Folie für die Nacktheit der Sätze, der Gedanken, der Sprache gewordenen Reaktionen. Was Bette Gordon und Birgit Hein als eine sexualisierte Sprache handhabten, wird bei Gregory Dark zur permanenten Intimitätsverletzung, auf einem Gesicht, das aus Augen, Haut und Mund besteht. Nicht in einer pornografischen Szene mit dem ganzen visuellen und akustischem Instrumentarium, das Pornofilme kennzeichnet, sondern in einer Befragung ohne Handlung und im Antasten von Sätzen findet die Grenzüberschreitung statt. Bild und Sprache: wiederum legt sich die Sprache über das Bild, die Stimme über die Augen, über den Mund, über die Haut. Ein leichtes Beben des Atems moduliert die Aussagen.

9 SHOCKING TRUTH II

In der Beschäftigung mit der Darstellungs- und Aussagekraft von Bild und Sprache im Bezug auf erotische und sexuelle Inhalte stellte ich mir immer wieder die Frage, ob sich Georges Bataille verfilmen lässt. Lassen sich Werke wie Die Geschichte des Auges, Madame Edwarda, Meine Mutter in Visualität umsetzen? – Werke, die voller Bilder sind wie das von der Nässe der Lust durchtränkte Laken, das in der mondbeschienen Nacht neben dem erleuchteten Fenster gleissend ans Gemäuer klatscht. Oder ist es vielmehr der Sprache vorbehalten, dem Unsagbaren Sprache zu verleihen, sodass wir in den Sog unserer eigenen Ich-Erfahrung gelangen, über den Lese-Akt als Intim-Akt unser eigenes Erschrecken finden (erleben).
Doch auch der Sprache sind Grenzen gesetzt. Bei Bataille brechen die Sätze ab, die Worte verfallen, die Sprache verstummt. Lesen Sie Georges Bataille: Das obszöne Werk.

Sehen, Blick und Sichtweise lautete das andere Thea, das sich mit Bild und Sprache kreuzte. Ich nehme es noch einmal auf. Heddy Honigmanns TOT ZIENS (Auf Wiedersehen, 1995) weist eine der eindrücklichsten Eröffnungssequenzen der Filmgeschichte auf. Hätte diese fünfzehnminütige Sequenz auch von einem männlichen Autor entworfen und gedreht werden können? Sprachlos wie der Auftakt zu Sergio Leones Western ONCE UPON A TIME IN THE WEST (Spiel mir das Lied vom Tod, 1968), so sprachlos wie Stummfilm, dennoch voller Sprache?

Die Geschichte von Laura und Jan beginnt gleichsam aus dem Zufall geboren auf einer Eisbahn, findet ihre Fortsetzung auf der Strasse und in Lauras Wohnung. Umgesetzt in ein Ballett von Bewegungen, von Hin und Her, von Beschleunigung und Retardierung, von gegenseitiger Beobachtung, Annäherung, erster Berührung und Gleichklang der Gefühle spielt sich ein Balztanz ab, der die beiden zunächst auf dem Eis landen und nach einem kühnen handgreiflichen Übergriff des Mannes auf Treppe und Boden in Lauras Wohnung im rasanten Vollzug eines tollgierigen Geschlechtsakts enden lässt.
Damit ist ein Zeichen gesetzt, das ich als Erdennähe umschreiben möchte: sie stürzen aufs Eis, sie robben über die Treppe, lieben sich, auf den Boden hingeschmettert, auf dem Teppich, später im Sand. Es ist die Erdennähe, wie bei Kindern, im Sandkasten, am Strand, da zu ebener Erde Kinder sich ihre eigene Welt bauen. Auch in Männerfilmen wird auf dem Teppich, auf der Erde, im Stroh, im Sand geliebt, doch der Blick der Kamera zielt vielfach von oben, als würde der Kameramann, zusätzlich zum Mann über den Körper der Frau mit der Kamera sich beugen, sich wölben. Heddy Honigmanns Kamera begibt sich auf den Boden, zur Erde.

Erdennähe: Sie findet sich auch bei Aline Issermann. Für einen ihrer früheren Filme – L’AMANT MAGNIFIQUE mit Isabel Otéro und Hippolyte Girardot aus dem Jahre 1986 hob sie für die Kamera einen Graben aus, damit sie die sich liebenden Leiber eines Paares zur ebenen Erde filmen und zugleich die statischen Wölbungen der Landschaft hinter den sich bewegenden Körpern einbeziehen konnte. Issermann selbst spricht von einer "caméra enterrée", einer unter der Erde in die Erde vergrabenen Kamera. Issermann bettet das Liebespaar in die Waagrechte, in die horizontale Linie des Filmbildes ein.

„La caméra enterrée“ assoziiert Stanley Kubricks Kriegsfilm PATHS OF GLORY. Kubrick lässt die Kamera knapp über der Erde ihre Travellings ziehen, in die Erde eintauchen. Doch es handelt sich nicht um einen Liebes-, Passions- oder Leidenschaftsfilm, sondern um den filmischen Nachvollzug einer sinnlosen Schlacht, die in der kraterdurchlöcherten Erde in Dreck und Schlamm versinkt. Bei Stanley Kubrick ist es das Auge, das eine Schlacht erdgebunden, schlammversunken mit horizontalen Travellings verfolgt, als würde der Kameramann statt des Gewehrs mit seiner Kamera über das durch Einschläge verwundete Schlachtfeld mitrobben. Dem gegenüber bettet die Kamera bei Heddy Honigmann und erdgebunden vergraben bei Aline Issermann die emotional vorgezeigte Sexualität – Begehren, Lust und orgiastische Exstase – in die Landschaft eines fiktiven oder realen Dekors ein. Bei Stanley Kubrick ist es das Schlachtfeld, bei Heddy Honigmann und Aline Issermann ein Ort von Liebe, Passion und Sexualität.

Ich kann mir vorstellen, dass Sie bei meinen Ausführungen der "caméra enterrée" Gegenbeispielen nachgingen: Wie ist es mit Ozu und seiner tiefgelagerten Beobachtungskamera. Dann Louis Malle natürlich: in DAMAGE. Bei Jean Renoir findet sich immer wieder eine ausgesprochene Erdennähe. In UNE PARTIE DE CAMPAGNE (1936–1946) legt Jean Renoir das wunderschöne Gesicht von Silvia Bataille zur ebenen Erde in die Hand ihres einstigen Geliebten, wenn der Geliebte sie fragte, ob sie den Tag vergessen habe, da sie sich an diesem Ort, geschützt von den Sträuchern auf der Erde geliebt haben, und sie antwortet: „Ich denke jeden Abend daran.“ – eine einzige Grossaufnahme erzählt ein ganzes Leben. Die Kamera ruht auf der Erde.

In TONI wird das Liebespaar im schützenden Gehölz vom Ehemann aufgespürt, als hätten die Liebenden sich in die Erde verkrochen. Mir geht es nicht um eine Beweisreihe von Beispielen, sondern um die Sensibilisierung für Sichtweisen, die einen männlichen und einen weiblichen Blick blosslegen. Dazu noch ein weiterer Gedanke. In der Auseinandersetzung mit Bette Gordons VARIETY und Tinto Brass’ L’UOMO CHE GUARDA horteten wir den männlichen Blick aufs Nahe, aufs Detail, auf die Segmentierung von Körper und Handlung gerichtet. Aufs Sichtbare fokussiert, glaubt Tinto Brass das Unsichtbare sichtbar zu machen. Zu dieser Thematik findet sich in TOT ZIENS eine bezeichnende Szene, die wiederum die Möglichkeit einer anderen Sehperspektive aufzeigt.
An ihrer Idealvorstellung von sublimierter asexueller Freundschaft gescheitert, können Laura und Jan nicht anders, als miteinander – noch einmal – zum letzten Mal – zum allerletzten Mal – zu schlafen. Heddy Honigmann inszeniert eine dokumentarische Beobachtung von Begehren und Lust nach einer unerträglichen Zeit von sexueller Abstinenz. Kaum ist der Mann in die Frau eingedrungen, kann er sich nicht mehr zurückhalten. Statt sich der Enttäuschung über das abrupte Ende hinzugeben, setzt die Frau ihre ganze sexuelle Lust ein, um den Mann in sich zu behalten und ihn von Neuem zu erregen. Der Mann erlebt sein erneutes Begehren und kann sich ohne Gefährdung durch eine vorzeitige Ejakulation seiner Lust hingeben, die in der Lust der Frau aufgeht, bis er wiederum zum Orgasmus gelangt.

Und jetzt geschieht eine gegen den Strich gerichtete Kamera-Positionierung. Noch hat die Frau nicht ihren Orgasmus erreicht. Heddy Honigmann bleibt mit der Kamera – übrigens wiederum auf der Höhe der Handlung  – auf dem Gesicht des Mannes. Der Orgasmus der Frau spielt sich akustisch als Ton versteckt hinter dem Kopf des Mannes ab. Erst anschliessend gibt uns die Kamera den Blick auf die Frau frei – auf das Nachher. Ich wage zu behaupten, ein Regisseur hätte in Zusammenarbeit mit seinem Kameramann anders inszeniert. Zuerst wäre die Frau zum Orgasmus gelangt: Kamera leicht von oben, als der etwas nach hinten verlegte Blick des Mannes, der in der Verlängerung des subjektiven Blicks dem männlichen Publikum eine momentane Identifikation ermöglicht. Er besorgt es ihr, und die Kamera schaut dominierend zu. Vielleicht würde die Kamera sogar länger verweilen, um die Wirkung der Ejakulation auf die Frau zu filmen, aber wahrscheinlich würde sie nach unten gleiten, um die Macht des Mannes, wie sie die Frau erlebt, wiederzugeben. Diese gestalterische Differenzierung zeigt auf, es gibt eine weibliche Sehweise, deren Gestaltung dem weiblichen Publikum eine intime Identifikation erlaubt und zugleich den Mann nicht ausschliesst. Im Sinne des Ganzen, der Einbettung wird der weibliche Blick und dessen Erzählmontage zu einem Blick, der Mann und Frau angeht, im Sinne eines umfassenderen, weniger segmentierenden Blickes.

Dies lässt sich auch anhand der von Frauen produzierten und realisierten Sex- und Pornofilmen der Femme Productions in New York feststellen. Die Filmautorinnen um Candida Royalle, die bewusst dem männlich dominierten Pornofilm einen Pornofilm der Frauen entgegenstellen, lassen den Kamerablick zwischen Mann und Frau in der Schwebe, balancierend zwischen lesbisch und heterosexuell, der weiblichen und männlichen Lust in gleicher Weise zugetan, denn Ziel der Filme ist, sich gegen jegliche sexuelle Repression zu stellen, wie sie der amerikanischen Gesellschaft, besonders republikanischer Prägung eigen ist und von einem Teil des amerikanischen Feminismus – um MacKinnon – in Zusammenarbeit mit den rechtskonservativen und klerikalen Kräften aufgenommen wurde. In den Umkreis dieser Auseinandersetzung gehört auch Linda Williams Werk Hardcoreoder z. B. Barbara Vinkens Aufsatzsammlung Die nackte Wahrheit.

Uns interessiert jedoch die filmästhetische Aufbereitung des Kamerablicks und der Sichtweise auf den männlichen und weiblichen Körper als Objekt sexueller Darstellung.
Ich zeige Ihnen einen vierminütigen Ausschnitt aus einer zwölfminütigen Liebesszene in Candida Royalles Sexfilm REVELATION,  bereits 1992 entstanden, einem Film, der sich gegen die sexuelle Versklavung durch – visuell-filmisch zitiert – die amerikanische Flagge stellt und für eine frei gelebte homo- und heterosexuelle Geschlechtlichkeit eintritt (nicht sado-masochistisch).

Die Handlungsebene entspricht der Parallelität zum Kamerablick. Einzelne Einstellungen – es sind dies drei Einstellungen – durchbrechen zwar diese Sehperspektive, jedoch mit dem Ziel, den weiblichen Körper in seiner spannungsgeladenen Schönheit sichtbar zu machen und nicht, um eine Dominanz auszudrücken. Zugleich verbildlicht sich die Lust der Frau, jedoch nicht aus der Sicht des Mannes, sondern wie wenn wir daneben wären, daneben lägen. Der voyeuristische Blick wird gebrochen und gibt sich als subtile Teilnahme an Intimität zu verstehen. Auffallend sind auch die langen Einstellungen, fragwürdiger ist wohl die esoterische Musik. Es fehlen nur noch die Aromadüfte im Kinosaal.

Sehen – Blick, offen und heimlich – und Sichtweise, Perspektive des Blicks waren unsere Anhaltspunkte. Verwirrend wird es für die Augen, wenn wir uns in die Öffentlichkeit begeben. Mode und Werbung geizen nicht mit Reizen und tun zugleich so, als ginge es immer noch um Heimlichkeiten, um Buñuels Kästchen. Doch die Büchse der Pandora liegt nackt und bloss, den Augen zubereitet da: Exhibitionistisches Theater in den Arenen der Öffentlichkeit. Dennoch wird der Blick immer noch gehandhabt, als wäre er voyeuristisch, als wäre er noch ein Skandal. Wir begeben uns nach Cannes an die Croisette. Ein roter Teppich führt zum Filmpalast hinauf: die Treppe als Bühne für den Auftritt der Stars: Brigitte Bardot, Alain Delon, Sophia Loren, Jane Mainsfield und immer wieder Cathrine Deneuve, in barocken Roben. Wir schauen uns den Auftritt von Cicciolina an, der Pornoqueen, die ins römische Parlament gewählt wurde, um eine Republik der Liebe und der Erotik auszurufen, mit dem Pop-Inszenator Jeff Koons monumentale museale coitale Fotogemälde kreierte, die kaum mehr zu sehen sind. Sie zog in den Filmpalast ein, im Gegensatz zu Cindy, der Tessiner Grossrätin und Maspoli-Maskottchen, die zwar in einem der berüchtigten Gang Bangs von Siffredi mit etwa dreissig Männern schläft, aber es dennoch nicht auf den roten Teppich der Croisette brachte. Zum Kontext der Heimlichkeit in der Öffentlichkeit ein Hinweis: In dem Moment, als es auf der Treppe etwas zu sehen gäbe, der Blick von Tex Avery eine Erlösung fände, ist die Schnittstelle. Der verbotene Blick ist der Dunkelheit des Kinos vorbehalten. Der Skandal findet nicht statt. Die Fotoapparate baumeln praktisch unbenutzt an den Männern.

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