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Geschichte, Gestaltung und Formen des Dokumentarfilms

Vorlesung 5: Robert J. Flaherty, LOUISIANA STORY; der englische Dokumentarfilm, DRIFTERS; NIGHT MAIL; COAL FACE

MAN OF ARAN: Unter einem grossen Himmel, in der Weite der Totalen zieht die Familie von dannen, neuen Abenteuern, Stürmen und Gefährdungen entgegen. Da 1934 Flahertys Familie die Aran-Insel verliess, kann man damit rechnen, dass das authentische Leben wieder etwas geruhsamer und weniger gefährlich auf Inishmore sich abspielt. Denn jetzt galt es nicht mehr, an der gefährlichsten Stelle von Inishmore, dort wo sich die imposanteste Seelandschaft der Welt findet, die Heimkehr von einer Haifischjagd mit der Harpune in der Hand zu filmen – eine Haifischjagd, wie sie 50 Jahre vorher stattgefunden hat.
Da Film stets auch mit Kommerz zu tun hat, musste Flaherty nach der Uraufführung in London vom 25. April 1934 seinen Dokumentarfilm lancieren. John Grierson, der Flaherty die Beziehungen zu Gaumont British und damit die Voraussetzungen zur Produktion von MAN OF ARAN geschaffen hatte, beschreibt, wie "in einer zur Ablehnung neigenden Welt" die Aufgabe verblieb, den Film zu vertreiben.
Aufschlussreich ist Griersons Gegenüberstellung von England und Frankreich. Er schreibt:

Flaherty selbst musste die notwendige wegbereitende Werbung durchführen. So zog er durchs Land und trat selbst auf. Bewohner der Araninseln in selbst gewebter Kleidung und Wollmützen begleiteten ihn und sprachen auf Festessen, die zu Ehren der Bürgermeister gegeben wurden. Flahertys Lebensgeschichte erschien in einem Sonntagsblatt, und die Zeitungen wurden von Kinoangestellten verteilt, die in Fischerjerseys mit der Aufschrift "Man of Aran" herumliefen. Champagner floss in Strömen, und die Kritik raste. In Edgware Road versuchte eine wild begeisterte Menge, dem Helden "Tiger" King Locken abzuschneiden und Maggie Dirrane, die Heldin, ein liebreizendes Wesen, ging auf eine Selfridgereise für den "Daily Express", um über Seidenstrümpfe und die moderne Frau zu sprechen. Soweit England in Frage kam, klappte die Sache bei dieser Methode. Der Verleiher und der Kinobesitzer waren beruhigt, und das einzige Kunstwerk des englischen kommerziellen Films wurde zu einer Sensation gestempelt. Weiss der Himmel, was noch passiert wäre ohne Flaherty mit seinen aufklärenden Vorträgen und leidenschaftlichen Bitten. Das Schicksal des Films in Paris lässt es einigermaßen vermuten. Infolge des Pessimismus, der Trägheit und Dummheit des Agenten lief die Geschichte dort ganz anders. In einem Lande, das besser über den Dokumentarfilm unterrichtet war als England, wo NANOOK OF THE NORTH und MOANA, die anderen grossen Filme Flahertys, zwölf beziehungsweise acht Jahre lang gelaufen waren, schnitten die Geschäftemacher den Film zusammen und kündigten ihn auf ihren Plakaten als Zugabe an.»
(Zitiert nach Forsyth Hardy (Hrsg.): "Grierson über den Dokumentarfilm", Gütersloh, 1947)

An den Filmfestspielen von Venedig gewann MAN OF ARAN 1934 den 1. Preis. Flaherty selbst erlebte nach der Produktion von MAN OF ARAN eine nicht gerade glückliche Schaffenszeit. Weil er für seine Filmarbeit viel Zeit und Material aufwendete, galten seine Filme als teuer. Für MAN OF ARAN hatte er von Gaumont British "carte blanche" in Bezug auf Zeit und Geld erhalten, was Grierson als "etwas ganz Aussergewöhnliches beim kommerziellen Film" beschrieb. Flaherty würde man heute einen unabhängigen Filmemacher nennen: So musste er für jeden Film einen neuen Produzenten suchen. Bezeichnend sind auch die vielen unrealisierten Projekte, die von einem Film über die Pueblo-Indianer 1928 bis zu einem Film über das geteilte Deutschland EAST IS WEST (1950) reichen.
Abgestempelt als Regisseur des Exotischen, wurde er schliesslich 1936 von Alexander Korda mit der Realisation von Kiplings ELEPHANT BOY betraut. Zwei Co-Regisseure hatten ihn bei seiner Arbeit in Indien und besonders auch seinen Zeitplan zu überwachen. Die Kriegszeit verbrachte er in Amerika, wo er zunächst für Pare Lorentz und das amerikanische Landwirtschaftsministerium THE LAND (1941) – einen Film über Bodenerosionen und Verdrängung der Farmer durch die Maschine – drehte. Der Film wurde wegen seiner pessimistischen Haltung nach einer glanzvollen Premiere im Museum of Modern Art 1942 verboten.

Flaherty blieb in Amerika, arbeitete ein Jahr lang in Frank Capras Filmabteilung des Kriegsministeriums, in der WHY WE FIGHT entstand. Doch auch diese Arbeit bekam Flaherty schlecht. Nur einmal noch konnte er aufgrund eines nicht kommerziellen Geldgebers einen Dokumentarfilm drehen, der zu einer spannungsvollen Dialektik zwischen einem poetischen, naturmythischen Dokumentarfilm über die magische verlorene Landschaft in den Sümpfen von Petit Anse Bayou und einem dokumentarischen Industriefilm geriet.

Die Standard Oil Company wollte, in Anlehnung an die Revillon Frères bei der Produktion NANOOK OF THE NORTH, ein Prestigeprojekt finanzieren, wobei ihre Schirmherrschaft anonym bleiben sollte. So entstand 1948 LOUISIANA STORY: Die Geschichte der Ölsuche in den wilden Sümpfen Louisianas aus der Sicht des kleinen Jungen Alexander Napoleon Ulysses Latour – eine Geschichte, die zugleich die Spannung zwischen Natur und Industrialisierung zum Thema hat. Kameramann ist der 27-jährige Richard Leacock. – Leacock wird in den Sechzigerjahren mit D. A. Pennebaker zu den führenden Filmmachern des "Direct" oder "Living Cinema" werden. Der Begründer und Anreger eines neuen Dokumentarfilms, der um 1960 einsetzt, ging bei Altmeister Flaherty in die Schule und blieb seinem Lehrer verbunden, auch wenn er selbst in seinem Dokumentarfilmverständnis einen ganz anderen Weg einschlug.

Das Geld der Ölgesellschaft ermöglichte es Flaherty, Urbilder magischer Naturausstrahlung hinzumalen. Wenn der Knabe lautlos staunend mit seinem Boot und seinem Waschbären zeitlos durch die Mangovensümpfe gleitet, in denen grüne Meerjungfrauen ihre Atemblasen an die Oberfläche hauchen, entstehen Bilder wie aus Träumen oder Erinnerungen – Bilder des Vergessens. Auch die Motive sind wieder da: Statt mit einem Walross wie Nanook, mit einem Riesenhai wie "Tiger" King, mit einem Wildschwein wie Moana, kämpft der Junge Alexander Napoleon Ulysses Latour – er vereinigt alle Expansionsnamen auf sich – mit einem Alligator. Auch ein Sturm durchwühlt das Filmbild, doch diesmal sind es nicht Eis und Schnee wie in NANOOK OF THE NORTH, nicht der Pazifik wie in MOANA, nicht der Atlantik wie in MAN OF ARAN, sondern diesmal ist es die von rotierenden Stiften angebohrte Erde. Statt Öl spukt das 4 000 Meter tiefe Bohrloch Schlamm und Salzwasser aus, sodass der Bohrturm vom erdigen Sprühregen wie eingedunkelt erscheint. Der Mensch beschwört mit seiner Technik den Ausbruch der Urelemente aus dem Innern der Erde. Neu ist, wie Flaherty den Einbruch von Technik und Industrialisierung verdeutlicht: Die Gewalt des Bohrturms, der sich bildverdrängend in die Landschaft stellt, die Macht der Maschinen und ihrer Geräusche.

Doch selbst in LOUISIANA STORY spielt das uns bekannte Schema der Heroisierung. Der Mensch bewältigt die Natur. Der Ingenieur siegt mit seinem handwerklichen Können und seiner technischen Macht über die Elemente, über die wildgewordenen Innereien der Erde. Statt des Jägers wie in NANOOK OF THE NORTH, des Fischers wie in ARAN, des Sammlers wie in MOANA, ist es der Vertreter technischer Zivilisation, der die üblen Kräfte der Natur bannt und sie für den produktiven Einsatz gewinnt. Man fühlt sich an die Expeditionsfilme erinnert, die uns die Welt zeigten – LA CROISIERE NOIRE und LA CROISIERE JAUNE – und schliesslich einem Industrieprodukt – dem Auto – huldigten. Der Dokumentarfilm wird zum Industriefilm.
So ist auch in Flahertys Film die Gestaltung der technischen Welt neu. In sie dringt der Junge ein. Er nähert sich dem Bohrturm, umkreist ihn, freundet sich an, bis er schliesslich im Innern der Maschinerie ist. Die Zusammenarbeit von Mensch und Maschine wird Thema. Die Maschine bohrt sich in die Tiefe der Erde. Die Wucht der Ketten lässt ihr Erzittern erspüren. Sie gehorcht der Geschicklichkeit menschlicher Hände – gleich dem Jäger, dem Fischer, dem Sammler.

1 LOUISIANA STORY I

Wie löst Flaherty die Spannung zwischen Urnatur und Technik auf? Deutlich demonstriert er visuell und akustisch, was der Einbruch der Technik bedeutet, die das Nähern einer in den Sümpfen Louisianas noch fernen modernen Zivilisation signalisiert. Ein durchrasendes Schnellboot – das Boot des Landvermessers und Ingenieurs – schafft einen ungewohnten aggressiven Wellengang, so dass selbst der kleine Alexander Napoleon Ulysses Latour in die sonst sanften, stillen Wasser der grünen Meerjungfrauen kippt. Der Bohrturm hebt sich bedrohlich vom Himmel ab. Schmutz und Unrat schwimmen auf der Wasseroberfläche und zeugen von der einsetzenden Zerstörung unberührter Natur. Die Maschine pustet in der Stille einsamer Sümpfe. Der Turm wird zur gespensterhaften Bedrohung einer Weltuntergangsstimmung, wenn die Innereien der Erde durch das Bohrrohr nach aussen brechen und die Sonne verdunkeln. Unversehrtheit, Stille, Ruhe, Zeitlosigkeit werden durch den Einbruch der Technik gewalttätig aufgerissen. Nur der Knabe gleitet zwischen den beiden Welten hin und her. Am Ende des Films löst sich die Dialektik auf. Öl wird gefunden. Der Bohrturm verlässt nach getaner Arbeit die Sümpfe. Zurück bleibt die Anzapfstelle. Über Pipelines fliesst unterirdisch das gewonnene Öl weg – zu Industriezentren, die im Film unsichtbar bleiben.
Die Wunde der Erde wird mit einem Hahnen abgeschlossen, auf dessen Kopf sich Alexander Napoleon Ulysses Latour mit seinem Waschbären setzt. Ein optimistischer Schluss. Natur und Technik erscheinen versöhnt. Die Ausbeutung der Erde wird von menschlicher Hand ästhetisch unsichtbar gemacht.

Für Grierson drehte Flaherty zunächst INDUSTRIAL BRITAIN. Ich lege Ihnen die Schilderung eines Mitarbeiters der Grierson-Gruppe vor. Dieser Text aus dem Jahre 1931 ist wie eine Vorwegnahme von LOUISIANA STORY und Flahertys Zuwendung zum Thema.

Nach seiner Ankunft in England fuhr Flaherty in das Industriegebiet der Midlands, um dort INDUSTRIAL BRITAIN zu drehen. Die Wahl des Drehortes war das Ergebnis sorgfältiger Überlegungen. Lange Jahre hatte man geglaubt, viele Gegenden Grossbritanniens stellten den Kameraleuten unüberwindbare Hindernisse beim Fotografieren entgegen. Die düsteren Gegenden der britischen Industriegebiete galten, besonders im Winter, als fotografisches Niemandsland. Aber Flaherty, der die exotische Szenerie, in der er gewöhnlich arbeitete, mit bösen Vorahnungen verlassen hatte, fand bald heraus, dass er von den Hügeln über Manchester und von den Fabrikdächern der Töpfereien Aufnahmen machten konnte, die eine neue fotografische Möglichkeit ausnutzten. Zwischen schwarzem Russ und weissem Dampf fand er eine unbegrenzte Skala von Grautönen, mit welchen er seine Aufnahmen komponieren konnte. Bald verwandelte er grauen Rauch, Nebelschwaden und einen schwachen Widerschein der Sonne auf fernen Dächern und erreichte damit eine Wirkung, wie wenn er im Dschungel von einer Palme aus fotografiert hätte.
Auch in den Fabriken fand Flaherty die gleiche Begeisterung dabei, die Geschicklichkeit der englischen Arbeiter darzustellen, mit der er auch den Lebenskampf der Eskimos und der Südsee-Insulaner beschrieben hatte.
(Edgar Anstey)

John Grierson hatte Flaherty 1931 nach England geholt und damit MAN OF ARAN ermöglicht. Von Grierson wissen wir bereits, dass er im Februar 1926 in einer Besprechung von Flahertys MOANA in der New York Sun den Begriff Dokumentarfilm – "Documentary" – angewandt und in die filmische Begriffssprache eingeführt hat.
1929 drehte Grierson selbst seinen ersten Dokumentarfilm: DRIFTERS. Einen schmucklosen nüchternen Film über die Arbeit von Heringfischern. Grierson setzt dem romantisch-pathetischen Dokumentarfilm eines Flaherty den realistischen Dokumentarfilm entgegen, der sich seiner sozialen Verantwortung bewusst ist. Und Grierson unterzieht Flahertys Filmschaffen einer Kritik:

Die Arbeit des romantischen Dokumentarfilms ist verhältnismässig leicht, leicht in dem Sinne, dass der edle Wilde schon an sich eine romantische Figur ist und die Jahreszeiten schon immer in der Dichtkunst besungen wurden ... Der realistische Dokumentarfilm aber mit seinen Strassen und Grossstädten, Elendsvierteln und Märkten, Börsen und Fabriken hat sich die Aufgabe gestellt, etwas zu bringen, was bisher noch kein Dichter gebracht hat und wo man nicht so leicht den tieferen Sinn findet, der den künstlerischen Zielen genügen könnte.

Man fühlt sich an Pablo Neruda erinnert, der über den Sinn der Dichtung schreibt:

So soll die Dichtung aussehen, die wir suchen: Verwüstet von der Mühe der Hände wie von einer Säure, vom Schweiss und vom Rauch durchdrungen, eine Dichtung, die nach Urin und nach weissen Lilien riecht, eine Dichtung, in der eine jede Verrichtung des Menschen, erlaubt oder verborgen, ihre Spuren hinterlassen hat.

Siegfried Kracauer weist in seiner "Theorie des Films" darauf hin, dass Griersons grösstes Verdienst gewesen sei, trotz seiner unfilmischen Konzeption des Dokumentarfilms die Leistungen jener Dokumentarfilmer nicht abzulehnen, die er für "Impressionisten" und "Ästheten" hielt. Grierson selbst formuliert in seiner biografischen Rückschau:
"Wir taten uns bald mit Leuten wie Flaherty und Cavalcanti zusammen ... Sie bemühten sich um Filme, die tiefer gingen als Wochenschauen ... und landeten vielleicht beim Idyll oder beim Epos. Die Pädagogen haben seitdem die Ästheten beim Dokumentarfilm nie mehr völlig in eine Zwangsjacke stecken können und es wäre ein Verlust, wenn ihnen das je gelingen sollte."

Grierson selbst hatte bereits 1929 – also vor Flahertys MAN OF ARAN – einen Meerfilm gedreht: DRIFTERS. Bei Grierson ist jedoch, wenn wir vom Ende des Films DRIFTERS und einigen Zwischentiteln absehen, nichts von der pathetischen und idealisierenden Überhöhung zu spüren. Sein Thema sind die Heringfischer, die einst aus den Dörfern kamen und jetzt - zu Industriefischern geworden - im Verband aufs Meer fahren, um die Heringe tonnenweise einzubringen.
Sein Thema ist die gegenwärtige Situation der Heringfischer und nicht die Saga einer Zeit, als sie noch individuell oder im Dorfverband für den Eigengebrauch in kleinen Booten auf Heringfang gingen, die Heringe zum Eigenverbrauch einpökelten und davon lebten, was das Meer hergab. Nüchtern verfolgt Grierson die Ausfahrt der Industriefischer, ihre Arbeit auf hoher See, ihre Rückkehr, und wie über die Fischbörse die Ware in alle Welt verteilt wird. Bei Grierson ist auffallend, dass er nicht linear dramatisierend wie Flaherty das Geschehen erzählt, sondern bei ihm kehren die gleichen Bilder immer wieder. Der Kutter im Wellengang, sich hebend und senkend, wobei der sichtbare Horizont den Zuschauer in eine leichte Seekrankheit einwiegt, die Arbeit, die sich aus den immer gleichen Bewegungen und Handreichungen addiert, die Fische im Netz, wie sie auf Deck fallen, in den Schiffsrumpf gleiten, so dass schliesslich die Fischer bei ihrer Arbeit knöcheltief in den Heringen stehen. Hier ist nichts von jener fiktiven Dramatik, die Flahertys dokumentarische Inszenierung und Bildmontage bestimmt.
Bei Grierson schafft gerade die Wiederholung der Bilder, das Stocken der Zeit, die Monotonie der Beobachtung das Gefühl, dass man als Zuschauer dabei sei.

Wir schauen uns in den Film ein: In stundenlanger gleichmässiger Arbeit werden die Netze ausgelegt, bis der Abend anbricht, sich die Fischer in die Kajüte begeben, sich zum Schlafe legen, während das Boot unter einem Segel wartet. Unter der Meeresfläche spielt sich eine andere Geschichte ab; eine Parallelmontage. Die Bilder von den Fischen, die ins Netz gehen – die Bilder von den Haien, die das Netz umkreisen, erhalten in ihrer realen Direktheit und Stofflichkeit eine surreale Ausstrahlung –, wie aus einer anderen Welt. Grierson lässt sich Zeit, indem er in langen Einstellungen Zeit verstreichen lässt.

3 DRIFTERS

Wir wenden uns John Grierson und seiner von ihm initiierten englischen Dokumentarfilmschule der Dreissigerjahre und deren Folgen zu. Zugleich thematisieren wir die Spannung zwischen dem romantischen, idealisierenden, heroisierenden, impressionistischen Dokumentarfilm, dem Dokumentarfilm der "Ästheten" und einem Dokumentarfilm, der auf mehr journalistischer Basis eine didaktische, pädagogische, aufklärerische und schliesslich propagandistische Zielsetzung besitzt.
Der 1898 in Kilmarnock, Schottland geborene John Grierson, der eine ausgesprochene Vorliebe für Meer und Schiffe gehabt haben soll, lernte den Film zunächst theoretisch kennen. Denn im Rahmen der Rockefeller-Stiftung bekam er zwischen 1924 und 1926 in den Vereinigten Staaten, wo er auch in Chicago studiert hatte, die Gelegenheit, Zusammenhänge zwischen den Massenmedien und der öffentlichen Meinung, d. h. die manipulativen Möglichkeiten der Massenmedien, zu untersuchen. Grierson kommt – würde man heute sagen – von der Kommunikationswissenschaft her. Man vergleiche dazu Flaherty, der in jungen Jahren nicht an die Universität, sondern in die Wildnis der Baffin Bay zog. 1927 – also mit 29 Jahren – kehrte Grierson nach England zurück – und wurde Leiter der Filmabteilung des Empire Marketing Board, das ein Sir Stephen Tallent leitete. Und dieser Sir Stephen Tallent war sehr an Öffentlichkeitsarbeit interessiert, d. h. an der Einflussnahme der Öffentlichkeit durch Massenmedien.

Das Empire Marketing Board – EMB – war als Regierungsbehörde zuständig für die Entwicklung der Handelsbeziehungen Grossbritanniens mit den Commonwealthländern. Innerhalb dieser Behörde gründete Grierson eine Filmgruppe, die dann in eine vom englischen Informationsministerium unterhaltenen Produktionsgruppe für Dokumentarfilme – die Crown Film Unit – aufging. Diese regierungseigene Filmproduktionsgruppe wurde während des Krieges zur eigentlichen Produktionsstätte von Informations- und Propagandafilmen, bis sie dann 1951, nach dem Wahlsieg der konservativen Partei, aufgehoben wurde.

Neben dem Empire Marketing Board wurden in den Dreissigerjahren in erster Linie das General Post Office – GPO –, dann das Tea Marketing Board und die englische Gasindustrie zu den eigentlichen Arbeit- und Geldgebern jener Gruppe von englischen Dokumentaristen, die Grierson mit seinen Ideen um sich scharte und die Grierson zu den verschiedenartigsten Dokumentarfilmen animierte: Zu ihnen gehörten zunächst Stuart Legg, Arthur Elton, Basil Wright, dann – wie gewohnt nur auf Zeit – auch Flaherty und besonders Alberto Cavalcanti, dann Paul Rotha, Harry Watt, und der Animationsfilmer Len Lye und schliesslich Humphrey Jennings. Sie waren alle Dokumentarfilmer, die selbst kaum die Kamer in die Hand nahmen, dafür waren professionelle Kameraleute zuständig, sondern die vielfach in einer sich gegenseitig inspirierenden Arbeit eine Dokumentarschule aufbauten, die von rein journalistischen Reportagen bis zu avantgardistischen Experimenten mit recht ungewohnten Bild- und besonders auch Tonmontagen reichte. Zu diesem eher kleinen Umkreis eines mehr filmischer als soziologischer Gestaltung verpflichteten Films gehörten denn auch der Lyriker W. H. Auden, der Schriftsteller J. B. Priestley und der Komponist Benjamin Britten.

Grierson verstand die filmische Arbeit als eine Kanzel, die eine Mission zu erfüllen hatte, nämlich den Staatsbürger bewusst jene Welt "lebendig vor Augen zu führen", in der er zu leben hatte. Und für diese Aufgabe schien ihm der Dokumentarfilm das geeignete Werkzeug, geeignet aus verschiedenen Gründen:
1. Seine Produktionskosten sind im Vergleich zum Spielfilm gering, sodass es viel leichter ist, falls man die entsprechenden Staatsstellen von der propagandistischen Bedeutung des Dokumentarfilms überzeugen kann, entsprechende Produktionskredite zu erhalten.
2. Für den Dokumentarfilm brauchte es – so nach Griersons Ansicht – nicht über die Stufenleiter der Filmindustrie ausgebildete Leute, sondern eine begeisterungsfähige Filmgruppe, die aus idealistischen Gründen Filme drehen wollte.

Für Grierson erhielt der Dokumentarfilm, dessen Produzent er zunächst beim Empire Marketing Board, dann beim General Post Office wurde, eine gesellschaftspolitische und soziale Aufgabe, wobei für ihn das Filmisch-Ästhetische eine untergeordnete Bedeutung hatte: Es hätte ebenso sehr eine "Bewegung der Dokumentar-Schriftstellerei, des Dokumentarradios oder der Dokumentarmalerei sein können".

Der Dokumentarfilm war von Anfang an ein Abenteuer in den Augen der Öffentlichkeit. Er hätte grundsätzlich auch eine Berichterstattung durch Schriftum, Radio oder Malerei sein können. Die treibende Kraft war sozialer, nicht ästhetischer Art. Es lag der Wunsch vor, das Alltägliche zu dramatisieren und es der damals vorherrschenden Dramatisierung des Aussergewöhnlichen gegenüberzustellen: Der Wunsch, den Blick des Durchschnittsbürgers von den Weiten der Welt hinweg zu denjenigen Ereignissen zu wenden, die sich vor seinen Augen abspielen, zu seiner eigenen Geschichte. Daher kamen wir auch immer wieder auf die Handlung "vor der eigenen Haustüre" zurück. Ich gebe zu, dass wir Soziologen waren, die über die Art, wie es in der Welt zuging, etwas bekümmert waren ... Wir interessierten uns für alle Mittel, mit denen wir in einer verworrenen Welt die Gefühle und Gedanken in bestimmte Bahnen lenken und den Willen zu gegenseitiger Anteilnahme unter den Menschen wecken konnten.

Doch um welche Themen ging es nun, die dem Staatsbürger nahe gebracht werden sollten? Sir Stephen Tallent, in dessen Dienst Grierson trat, sah für seinen Dienstzweig an Empire-Marketin- Board-Filmen folgende Themenbereiche mit entsprechendem Wertmassstäben:
"Die Monarchie (mit ihrem wachsenden Seltenheitswert)
Parlamentarische Institutionen (mit allen Werten einer Erstausgabe)
Die britische Marine
Die englische Bibel, Shakespeare und Dickens
In internationalen Angelegenheiten – ein Ruf für Desinteresse
In nationalen Angelegenheiten – eine Tradition von Gerechtigkeit, Recht und Ordnung (die englischen Ideale)
Im nationalen Charakter – ein Ruf für Kühle
Im Handel – ein Ruf für faires Geschäft
In der Produktion – ein Ruf für Qualität
Im Sport – ein Ruf für Fair Play"

Auch wenn all die Dokumentarfilmer um Grierson sich links gaben, lief ihre Stellungnahme auf "Vermeidung von Politik" heraus. Dazu Grierson selbst:
"Nur mit Ruttmanns BERLIN und Cavalcantis RIEN QUE LES HEURES vor Augen und mit einem Blick auf die Russen stürzte sich das EMB auf das, was man 'Dokumentarfilm' nannte, und gab seinen Regisseuren eine Freiheit, wie sie nie zuvor im Film zu verzeichnen gewesen war. Es ist wirklich ein seltsamer Kommentar zu unserer Kunst, dass die einzigen, die ihren Regisseuren seitdem solche Freiheiten eingeräumt haben, Propagandagruppen waren: Shell, die BBC, das Arbeitsministerium, Ceylon Government, die Gas Light und Coke Company und gewisse Schiffahrts-, Kreosot- und Radiofirmen in Europa. Allerdings ist das nur eine relative Freiheit, denn eine staatliche Propaganda hat ihre eigenen ideologisch bedingten Grenzen. Man kann aber wohl sagen, dass die Neuheit und sogar die Schwierigkeit der Stoffbehandlung die Regisseure zu neuen Formen und reichhaltigen Ausblicken bringt." (Berlin Seminar, S. 5)
Harry Watt sieht Griersons Freiheitsvorstellung politischer und kritischer, wenn er schreibt: "Die Wahrheit ist: Hätten wir uns in irgendeinem Masse in wirklicher Sozialkritik betätigt, dann hätten wir sofort unsere Auftraggeber verloren und unser gesamtes Experiment, das in künstlerischer Hinsicht ein Gutes war, wäre beendet gewesen. So haben wir Kompromisse gemacht." (Möglichkeiten, S. 11)

Und dieser Kompromiss, der z. B. heisse Themen wie die Arbeitslosigkeit ausschloss, wurde eingegangen, weil man Filme drehen wollte und die von Grierson in Zusammenarbeit mit den staatlichen Stellen eingeleiteten Dokumentarfilmproduktionen waren in der damaligen englischen Filmindustrie einige der wenigen Möglichkeiten, um überhaupt an das Medium Film heranzukommen.
Harry Watt schildert, wie sich die um Grierson sich versammelnden jungen Regisseure als eine Gruppe erlebten: Wir hatten das "verzweifelte Verlangen, unsere künstlerische Seele durch das neue Medium Film auszudrücken". Harry Watt weist – im Gegensatz zu Grierson – auf die Faszination des filmischen Mediums hin und nicht auf die soziologische Zielsetzung. Und er fährt fort:

Anscheinend hat niemand jemals festgestellt, dass wir nur ein Haufen begeisterter Jungs waren, die das Grundthema der Menschenwürde von ihrem brillanten, aber unberechenbaren Boss übernahmen; wir erlernten unseren Beruf durch Versuch und Irrtum, wir quollen über von Ideen, aber machten Tausende von Fehlern, beuteten uns selbst und einander fröhlich aus, in dem absoluten Glauben, daß das, was wir taten oder tun wollten, es wert war.

Auf jeden Fall auf diesem Hintergrund – der Staat als Produzent von Dokumentarfilmen respektive staatlichen Propagandafilmen und eine Gruppe von Filmregisseuren, die unbedingt filmen wollten – entstanden bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges um die 400 Filme. Für Grierson blieb jedoch stets, auch wenn er sich filmischen Experimenten nicht verschloss, die didaktische pädagogische Zielsetzung des Dokumentarfilms vordergründig. Als "lebendige Darstellung" sollte der Dokumentarfilm schöpferisch und in sozialer Beziehung das Leben des Volkes interpretieren, so wie es in Wirklichkeit existiert. Der Dokumentarfilm hatte nicht nur zu informieren, sondern in einer Gesellschaft, in der sich der einzelne der Gemeinschaft und der staatsbürgerlichen Aufgabe entfremdet, zu erziehen.

"Ein Spiegel, der der Natur vorgehalten wird, ist in einer dynamischen und schnelllebigen Gesellschaft nicht so wichtig wie ein Hammer, der sie formen soll ... Als Hammer und nicht als Spiegel habe ich das Instrument benutzen wollen, das mir in die etwas widerstrebende Hand gegeben wurde." Grierson spricht vom Hammer, Eisenstein spricht im Zusammenhang mit den Aufgaben des Revolutionsfilms von der "Filmfaust". In England ging es aber nicht um eine Revolution, sondern darum, aus einem sozialen Bewusstsein heraus eine Sensibilisierung für gesellschaftliche Zusammenhänge zu erreichen. In Wirklichkeit jedoch war und blieb die Welt in Ordnung, und die Dokumentarfilme bestätigten die bestehende Gesellschaft in gleicher Weise wie die imperialen Epen eines Alexander Korda.
So schreibt bereits 1937 Arthur Calder Marshall: Die Funktion dieser Filme "ist, nicht zu kommentieren, die Dinge nicht zu zeigen wie sie sind, keinerlei Emotionen zu inspirieren ausser Stolz und Bewunderung für die Fähigkeit des General Post Office."

In NIGHT MAIL von Basil Wright und Harry Watt, 1936, donnert der Postzug London – Glasgow durch eine dramatische englische Macbeth-King-Lear-Landschaft. Unter dem Begriff "Sound" stehen auf dem Vorspann drei Namen: Cavalcanti (der Filmregisseur), Auden (ein bekannter englischer Poet) und Britten – der Komponist.
Der Film beginnt noch reichlich konventionell und demonstriert, was Stolz und Bewunderung für die Fähigkeiten des General Post Office auslösen sollte. Die Präzision der Arbeit, die Anzahl der transportierten Briefe, die Genauigkeit der Züge. Das Bild ist informativ und plastisch. Aufhorchen lässt uns die Tonspur. Sie wird uns noch überraschen.

4 NIGHT MAIL I

Solche Spezialitäten des General Post Office werden noch weitere vorgeführt. Was Sie gleich sehen werden, ist nicht die Vorbereitung eines Fallschirmabwurfs der Royal Air Force, sondern die Demonstration einer Postschleuderanlage. Basil Wrights und Harry Watts NIGHT MAIL ist eine propagandistische Apotheose auf die Königliche Post Grossbritanniens. Zugleich ist der Film Beispiel für eine experimentell avantgardistische Filmgestaltung, wie sie innerhalb eines staatlichen Produktionsauftrages möglich war.
NIGHT MAIL, wie ein Stummfilm geschnitten, wird durch die Einverleibung der Musik Benjamin Brittens und eines Gedichts von W. H. Auden zur Demonstration visuell-akustischer Montage. Gleichsam am Schneidetisch entsteht das Kunstgebilde – die Darlegung dessen, was ein Film in seiner photographisch-optischen und akustischen Vergegenwärtigung für die Sinne des Zuschauers zu sein vermag:

5 NIGHT MAIL II

Was wir bei Wright und Watt in ihrem Film NIGHT MAIL vorfinden, ist, wie neben der informativen Darstellung der Leistungen der englischen Post und einer bewussten propagandistischen Zielsetzung der Dokumentarfilm Mittel wird, Film darzustellen. Film als Film: Die Montage der akustischen und visuellen Zeichen, der Text selbst zu Wortkaskaden zerstückelt, ergibt die filmische Collage einer Eisenbahnfahrt – eine filmische Collage, die jedoch ideologisch in den Umkreis "industrielle Romantik" gehört.
Ein weiteres Beispiel für die Verbindung von dokumentarischer Themenstellung und informativer Bewältigung mit bewusster visuell-akustischer Gestaltung ist Alberto Cavalcantis 1935 entstandener Dokumentarfilm über Kohlenabbau und englische Kohlenbergwerke COAL FACE.
Wie im Film NIGHT MAIL, zu dem Cavalcanti die Tonmontage herstellte, experimentiert er auch in COAL FACE wieder mit dem Ton. Auch hier bilden Kommentar, Sprechfetzen, Gesang, Rezitative eines Männerchors in der Verbindung mit einem Gedicht von Auden und der Musik Benjamin Brittens eine Tonmontage, in der die einzelnen Tonstränge präzis von einander getrennt eine im Bild aufgehobene Polyphonie herstellen. Der englische Filmhistoriker Roger Manvell weist darauf hin, dass in den Dreissigerjahren das Wort "Experiment" Wunder wirkte. Er schreibt: "Man hätte nirgends ankommen können, wäre nicht der Film, den man gerade gedreht hat oder noch drehen wollte, in irgendeiner Weise experimentell gewesen."
So finden sich auch in Cavalcantis COAL FACE Ansätze zum "cinema pur", wobei besonders die Beziehung von Bild und Ton eine antirealistische Strukturierung schafft. Man fühlt sich an das russische Tonmanifest von Eisenstein, Pudowkin und Alexandrow aus dem Jahre 1928 erinnert: "Die Zukunft des Tonfilms". Sie fordern die kontrapunktische Verwendung des Tons.
In COAL FACE werden Aufnahmen aus der Landschaft, in der die Arbeiter leben, Aufnahmen aus dem Bergbau, aus dem Industrie-Kosmos mit einer Tonmontage aus Kommentar, Geräuschen, Musikelementen und Chor zu einem Oratorium gestaltet, das filmisch-visuelle und akustische Qualitäten als sinnliche Wirkung zelebriert.

6 COAL FACE

Kehren wir noch einmal zu Grierson zurück. 1937 verlässt er die Produktionsgruppe und geht nach einer kurzen Beratertätigkeit bei der amerikanischen Wochenschau The March of Time nach Kanada, wo er das "National Film Board of Canada" aufbaut. Nach dem Krieg versucht er mit Freunden in New York eine Vereinigung zur Förderung des internationalen Dokumentarfilms zu gründen, gerät jedoch in die damalige Kommunistenjagd hinein, wird 1947 Direktor einer nicht funktionierenden UNESCO-Abteilung für Massenkommunikation, versucht es dann wieder in England und wird schliesslich Animator des Dokumentarfilms am schottischen Fernsehen, wo er die Filmserie THIS WONDERFUL WORLD produziert. Nur wenige Filme hat Grierson selbst realisiert. Sein Leben bestand darin, anderen den Film zu ermöglichen.

Der englische Dokumentarfilm wird zu Beginn der Vierzigerjahre in der Folge der geschichtlichen Ereignisse zum Propagandafilm, unter dem wir uns zum Teil sehr dramatische und pathetische Filme vorzustellen haben
In WORDS FOR BATTLE (1941) von Humphrey Jennings rezitiert der grosse englische Schauspieler Lawrence Olivier poetische Texte von John Milton, William Blake, Robert Browning und Rudyard Kipling zu Kriegsbildern, bis schliesslich am Ende des Films die englische Bevölkerung unter den Klängen klassischer Musik inmitten von Panzern in London zum Kampfe marschiert.
LISTEN TO BRITAIN (1943) gehört ebenfalls in den Rahmen kultureller Aufrüstung in Zeiten kriegerischer Bedrohung. Im propagandistischen Kampf findet eine Mobilisierung der kulturellen Werte – "geistige Landesverteidigung" – statt.

Nach dem Weltkrieg verschwand, besonders nach der Aufhebung der Produktionsgesellschaft "Crown Unit", der englische Dokumentarfilm. 1953 setzte dann mit Lindsay Andersons O DREAMLAND eine neue Dokumentarfilmbewegung in England ein. Wiederum war es eine Gruppe, die sich aus Filmbegeisterung zusammentat – Lindsay Anderson, Tony Richardson und Karel Reisz – und unter dem programmatischen Titel "Free Cinema" mit der Unterstützung des British Film Institute und finanzieller Beihilfe der Ford-Stiftung Ford Motor Company Dokumentarfilme drehte und ausserhalb des gängigen Kinos systematisch vorführte. Wiederum erwies sich der Dokumentarfilm als eine Einstiegsmöglichkeit in die filmische Arbeit, aber im Gegensatz zum englischen Dokumentarfilm der Grierson-Schule galt es jetzt, nicht mehr Realität schöpferisch zu interpretieren, d. h. die Wirklichkeit über Kamera und Montage zu inszenieren, sondern die Umwelt und ihre Erscheinungen zu beobachten.

Aus dieser Dokumentarfilmbewegung, die Hand in Hand ging mit dem Aufstand der Autoren im Theater und im Literaturbetrieb, mit dem Aufstand der "zornigen jungen Männer", entstand Ende der Fünfzigerjahre der neue englische Film, der in seinem sozialkritischen Engagement mindestens für kurze Zeit eine realistische Erfahrung der Umwelt einbrachte. Die „"Free Cinema"-Bewegung hatte als historischen Hintergrund die dokumentarische Vergangenheit der Dreissigerjahre, verstand sich jedoch als eine Befreiungsbewegung, die sich von den Produktionszwängen und der sich selbst bestätigenden Darstellung herrschender Gesellschaftsschichten lossagte. Was die "Free Cinema"-Bewegung mit der Zeit Griersons jedoch verband, war ihr Gruppencharakter und der unbedingte Wille, Filme zu drehen. Zugleich hiess Dokumentarfilm auch Zuwendung zu den Themen, die vor der "Haustüre" lagen und die unmittelbare gesellschaftliche und soziale Gegenwart betrafen. Was die Bewegung von der Zeit Griersons unterschied, war ein neues Dokumentarfilm-Verständnis. Die Wirklichkeit beobachten hiess nicht mehr, die Beobachtung einer pädagogischen, didaktischen oder propagandistischen Zielsetzung zu unterwerfen, sondern die Realität als solche wirken zu lassen. Es sind dies die englischen Ansätze eines "Direct Cinema" – oder in Kontineltaleuropa genannt – eines "cinéma vérité", eines "cinéma direct".

7 LISTEN TO BRITAIN

Filmografie

COAL FACE (GB 1935) R, B, Ton: Alberto Cavalcanti, P: Empo, John Grierson, Verse: W. H. Auden, M: Benjamin Britten, S: William Coldstream.

DRIFTERS (GB 1929) R, S: John Grierson, P: Empire Marketing Board and New Era Films, K: Basil Emmott.

LISTEN TO BRITAIN (GB 1941) R/S: Humphrey Jennings, Stewart McAllister, P: Crown Film Unit, Ian Dalrymple, Vorwort: Leonard Brockington, K: H. E. Fowle, Ton: Ken Cameron.

LOUISIANA STORY (USA 1946/48) R: Robert J. Flaherty, P: Robert J. Flaherty für The Standard Oil Company of New Jersey, B: Robert J. Flaherty, Frances H. Flaherty, K: Richard Leacock, M: Virgil Thompson, T: Benjamin Doniger, Mitwirkende: Joseph Boudreaux, Lionel LeBlanc, Frank Hardy.

NIGHT MAIL (GB 1936) R, B: Basil Wright, Harry Watt, P: GPO Film Unit, John Grierson, Verse: W. H. Auden, K: H. E. Fowle, Jonah Jones, M: Benjamin Britten, S: R. Q. MacNaughton, Ton: Alberto Cavalcanti.

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