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Geschichte, Gestaltung und Formen des Dokumentarfilms

Vorlesung 3: Reisefilme, LA CROISIÈRE NOIRE; LA CROISIÈRE JAUNE, Poirier, Hauser, MÄNNER, MEER UND STÜRME, Einstieg in das Thema, Flaherty, NANOOK OF THE NORTH

Aus der Verbindung von Nachrichten- und Aktualitäten-Filmen mit der Reiseerfahrung entstanden jene filmischen Aufzeichnungen, die schliesslich mit dem Begriff „Documentary“ umschrieben wurden. Zur Begriffserklärung: Im Februar 1926 wandte John Grierson in seiner Besprechung von Flahertys Südseedokumentarfilm MOANA in der Zeitschrift New York Sun zum ersten Mal den Begriff documentary („Dokumentarfilm“) an und führte die Bezeichnung in die filmische Begriffssprache ein. Die Reise als Film steht am Anfang – im übertragenen Sinn: der Traum vom ewigen Travelling.

Für die Faszination der Reisefilme ist folgende, vom amerikanischen Filmhistoriker Lewis Jacobs beschriebene Filmattraktion bezeichnend. Für eine Ausstellung in St. Louis im Jahr 1904 – die Jahrhundertwende war die Zeit der grossen nationalen Ausstellungen – soll der ehemalige Chef der Feuerwehr von Kansas City (Missouri), George C. Hale, ein Kinotheater als Eisenbahnwagen der Zeit gebaut haben. Ein Zugschaffner knipste die Kinobillette. Ein Bahnhofsignal ertönte und dann simulierte eine Mechanik die Schüttelfahrt-Bewegungen eines Zuges. Filme von Landschaften, die von der Plattform eines fahrenden Zuges aufgenommen worden waren, wurden auf eine Leinwand projiziert und konnten von den Zuschauern aus dem verdunkelten Eisenbahnwagen angeschaut werden. Man fühlt sich an Fellinis Campari-Reklame erinnert, in der ein Paar durch ein Eisenbahnwagenfenster auf vorbeiziehende fantastische Landschaften blickt, bis endlich eine Campari-Landschaft auftaucht. George C. Hale nannte seine Attraktion "Hale's Tours and Scenes of the World". Nach Abschluss der Ausstellung soll Hale mit seinem Eisenbahnwagen durch Amerika gereist sein und in zwei Jahren zwei Millionen Dollar verdient haben.

Die Reisefilme sind in den grösseren Zusammenhang von Reiseberichten und Reiseromanen zu stellen. Sie stehen nicht nur als Ausdruck für Fernweh, Lust auf Abenteuer, Ausbruch aus der eigenem Enge, sondern für den Geist einer Zeit. Wir befinden uns mitten in der Ausbreitung des Kolonialismus. Das imperialistische Verhalten ist geprägt durch aggressive Missionierung und einem heute kaum mehr nachvollziehbaren Sendungsbewusstsein. Frieden, Zivilisation, Christentum sollten den Völkern Afrikas und Asiens gebracht werden. Wohl schwanden die weissen Flecken auf der Weltkarte. Landschaften und Völker wurden erfasst und mit ethnologischem Brimborium und Anspruch auf wissenschaftliche Erforschung versehen. Die Wirklichkeit war jedoch der Aufbau eines weltweiten Unterwerfungs- und Ausbeutungssystems. Glanzvollen Ausdruck sollten jeweils die Weltausstellungen bilden, die als „exposition coloniale et des pays d’outres mers“ die Situation richtig umschrieben. Nach Paris und London wurde gebracht, was sich in den Kolonien und jenseits der Meere fand.

Visueller Ausdruck der Epoche wurde der koloniale Einfluss auf Architektur, Innenausstattungen, Musik, Literatur und auf den Film, zunächst dokumentarischer Ausprägung. Exotik als Kinotraum entsteht erst in den Zwanziger- und besonders in Hollywood'scher Manier in den Dreissigerjahren. Vorerst galt es, die Fremde, das Andersartige zu dokumentieren. Besonders faszinierend wirkten Expeditionen; sie umschlossen Weite und Abenteuer und Kunde von Dingen und Welten, die noch niemand kannte. Captain Scotts Südpol- oder Antarktis-Expedition wurde 1912 von einem Mitglied der Expedition – von Herbert Ponting – in ihrem ganzen Ausmass filmisch dokumentiert. Pontings Film dauerte 90 Minuten und wurde eine Sensation.

Entscheidend war das Thema, das finanziellen Erfolg versprach. Das Gleiche galt auch von einem anderen Film, der weniger aufregend und abenteuerlich war, aber dafür den Vorstellungen von Exotik und märchenhafter indischer Pracht entsprach. Charles Urban zeichnete 1911 in einem zweieinhalbstündigen Film die Krönungsfeierlichkeiten Georges V. in Indien auf. Der Film hiess DELHI DURBAR – d. h. der Empfang von Delhi – und war in Kinemacolor gedreht worden – einem Farbfilmverfahren, das aus den Farben Rot und Grün bestand. 1903 hatte Charles Urban seine Aktualitätenschau mit dem Slogan lanciert: „Wir legen Ihnen das Universum vor die Augen.“

1 DELHI DURBAR

Was sich in diesem Zusammenhang als Dokumentarfilm ausmachen lässt, erhielt später den Begriff "Kulturfilm" – d. h. Filme über Sitten und Gebräuche fremder Völker. Oder auf eine wissenschaftliche Stufe gehoben: Die filmischen Reiseberichte werden zu ethnologischen oder sozioethnologischen Filmen.
Ethnologische Filme – also Filme, die nicht nur irgendwelche sensationelle Expeditionen wiedergeben wollten, sondern auch Informationen über Arbeit, Sitten und Lebensweise sogenannter Primitiven, also über Menschen, die in keiner Weise amerikanischen oder europäischen Zivilisationsvorstellungen entsprachen – solche ethnologische Filme entstanden im Gefolge der Reiseberichte gerade in den Zwanzigerjahren.

1922 erscheint Robert Flahertys ethnologischer Bericht über eine Eskimo-Familie: NANOOK OF THE NORTH. Aufgrund des grossen kommerziellen Erfolges des Films dreht dann Flaherty in den Jahren zwischen 1923 und 1925 auf der Südseeinsel Samoa einen Dokumentarfilm über das primitive, naturverbundene Leben der Polynesier: MOANA (Moana, der Sohn der Südsee). Der 1926 herausgebrachte Film war kein Erfolg, und ein paar Jahre später vernichtete die Paramount das Originalnegativ.

Die Ansätze zu einer ethnologischen und sozioethnologischen Beobachtung finden sich auch in den beiden frühen Filmen von Merian C. Cooper und Ernest B. Schoedsack. Sie suchten als Weltenbummler mit ethnologischen Interessen dokumentarische Authentizität. Ihre Filme sind erstaunlich: 1925 begleiten Merian C. Cooper und Ernest B. Schoedsack mit ihrer Kamera zwei Nomadenstämme im Iran auf der Suche nach neuem Weideland (GRASS) und 1927 drehen sie einen Film über eine Thaifamilie, die im Dschungel lebt und von Raubtieren und Elefanten-Herden bedroht wird (CHANG).

Doch den eigentlichen Expeditionsfilm, der alle Reizworte grosser Expeditionen und Abenteuer, Exotik, aber auch Erfolg und Geld zusammenfasste, realisierten die beiden in den Studios Hollywoods: nämlich, 1932, drehten sie KING KONG [Vorlesung Filmgeschichte, 6]. Die Authentizität tropischer Landschaft wird vom plastisch ausgeleuchteten fiktiven Studiodschungel eingeholt. Der Kreis lässt sich noch erweitern. Im gleichen Film porträtieren sie einen der grossen Kamera-Abenteurer Hollywoods. Denn der aggressive, possessive und obsessive Regisseur Carl Denham, der im Film die Authentizität King Kongs nicht nur filmen – also einen Dokumentarfilm drehen will –, sondern das Monstrum als exotische Attraktion für alle sichtbar lebend – also als Dokument – nach Hause bringen will, ist niemand anders als William Van Dyke, mit dem Flaherty im Auftrage der Metro-Goldwyn-Mayer in Tahiti zusammenarbeiten sollte – was gründlich missglückte. Auch Van Dyke, „One Shot Woody“ genannt, da er billig und schnell produzierte und pro Einstellung meistens nur eine Aufnahme drehte, zog sich ebenfalls, nachdem er in den Naturkulissen gearbeitet und 1928 mit SHADOWS IN THE SOUTH SEAS einen der schönsten Südsee-Filme gedreht hatte, in die Studios Hollywoods zurück und realisierte 1932 den ersten Tarzan-Tonfilm TARZAN THE APE MAN, in dem Johnny Weissmüller seinen Tarzan-Urschrei kreierte.

King Kong und Tarzan als Übertragung dokumentarisierter Reisen, Expeditionen und kolonialer Abenteuer ferner Exotik in die Traumwelt Hollywoods. Wiederum taucht die Thematik von Dokumentierung und Inszenierung auf, diesmal als kinomässige Gattungsbestimmung. Dabei stellt sich eine zusätzliche Frage: In welchen Filmen, in den dokumentarischen Reisefilmen oder in den fiktiven Spielfilm-Visionen voller Fantastik und exotischer Träume, lässt sich der Geist der Zeit, die Verbindung von kolonial-imperialem Ideengut mit Fernweh und Imaginationen von Ausbruch aus der Enge in die Weite der Welt präziser nachweisen?

Deshalb fragen wir nach der Art und Weise, die Welt zu sehen, sie nicht nur als Nachricht zu zeigen, sondern aus welcher Perspektive sie gesehen wird. Damit ist die Frage nicht nur nach dem Objekt, sondern nach dem Autor gestellt, der mit seiner Selektion der Bilder, seiner Gestaltungsweise der Bilder die Perspektive seines Sehens aufzeigt.

Diese Thematik hätten wir bereits im Zusammenhang mit den Dokumentarbildern aus der Produktionsstätte der Gebrüder Lumière und den frühen Nachrichtenfilmen, den ersten Filmen der "Naiven", einbringen können. Ihre Selbstdarstellung der Wirklichkeit, ihr dokumentarischer Blick, auch wenn er visuell noch so prägnant und präzis zu sein vermochte, beschränkt sich im engeren Raum auf die Darstellung einer bürgerlichen Gesellschaft, die vielfach im trauten Familienkreis sich gibt, und im äusseren Raum ist es neben Städtebildern, Landschaften, die Welt der Grossen, welche angeblich die Geschichte bestimmt. Es lassen sich kaum Arbeiter finden, und wenn schon, sind es Genre-Bilder, die durchaus liebevoll ein gemütliches Bild von behaglicher Tätigkeit wiedergeben. Nur manchmal brechen Ahnungen einer nicht gezeigten Welt auf, wenn 60 Pferde einen Schwertransport ziehen, ein Karren von Menschen geschleppt wird, Schreiner gleichsam im Akkord hobeln, um einen guten Eindruck zu machen. Die Arbeiterinnen und Arbeiter der Lumière-Fabriken in Lyon werden nicht bei ihrer Arbeit gefilmt, vielleicht hatte es zu wenig Licht, sondern wie sie aus dem Fabriktor in die Freizeit strömen.

Reisefilme – Expeditionsfilme: Vielleicht schauten Sie sich Mittelholzers AFRIKAFLUG aus dem Jahre 1930 im Studio 4 (Filmpodium, Zürich) an. Der Film ist eine Verbindung von durchaus eindrücklichen Beobachtungsaufnahmen, die den verschwundenen Reichtum an Tieren in Afrika dokumentieren, verbunden mit einem Heroenkult des Fliegers Mittelholzer, der mit letzter Kraft den noch von niemandem gesehenen Krater des Kilimandscharo überfliegt, und einem Reklamefilm der Fluggesellschaft "Ad Astra Aero"– quasi Flug zu den Sternen. Denn der Switzerland III und ihrem Piloten vertrauen sich Vertreter der europäischen Wirtschaft an, um in der Serengeti, die dann später nicht mehr sterben durfte - auch dies der Filmtitel eines Dokumentarfilms – auf die Jagd zu gehen.

Gefilmt wird meist in Totalen. Die Tableaus entsprechen der Vogelperspektive aus dem Flugzeug. Aus der zeitlichen Distanz erhalten diese Ansichten von oben einen historischen Informationscharakter. So vermitteln die Flugaufnahmen von Khartum und besonders von Kairo, von afrikanischen Dorfstrukturen und Steppenflächen voller Tiere, z. B. noch vorhandener Elefanten, eindrückliche Informationen, die gerade, weil jegliche bewusste Gestaltung unterblieb und nur vorzeigt, was das menschliche Auge aus der Distanz zu sehen und die Kamera zu schiessen vermag, eine unmittelbare Gültigkeit haben.

Wir schauen uns den Anfang eines der berühmtesten Expeditionsfilme der Stummfilmzeit an, der in verschiedenen Fassungen vorliegt. In unserem Fall handelt sich um eine zu Beginn der Dreissigerjahre hergestellte Tonfassung, die vom Autor Léon Poirier selbst besprochen wird: LA CROISIÈRE NOIRE, 1926 in der Opéra zu Paris als "nationales Ereignis" uraufgeführt. Der Reise- und Expeditionsfilm als Grundlage des Dokumentarfilms, lautet die filmhistorische Konstruktion. Die Frage lautet nicht nur, was wird uns vermittelt, vorgezeigt, sondern auf welche Weise.

Wird uns eine Reise dokumentiert, oder steht die Reise, die Expedition vielmehr für die Vermittlung eines anderen Inhalts? Dokumentiert uns der Film das Objekt, also die Expedition, oder vielmehr die Haltung des Autors, sodass es gilt, den Film als Dokument einer Ideologie, eines Zeitgeistes, einer historischen Befindlichkeit zu begreifen. Doch zuerst der Beginn des Films LA CROISIÈRE NOIRE.

2 LA CROISIÈRE NOIRE (Beginn, 5 Minuten)

Der Film ist der französischen Jugend gewidmet. Eingelassen in das dokumentarische Material ist der Aufbruch der Expedition wie eine Aktualitätenschau gefilmt. Selbst die Stimme des Sprechers ist ausgewechselt und der Text erhält den Klang einer Nachricht. Was als Sprache zum Tonfilm hinzugefügt wurde, verdeutlicht in der späteren Fassung nur, was im Stummfilm bereits angelegt war. Der Dokumentarfilm über eine Auto-Kreuzfahrt durch den schwarzen Kontinent wird zum Dokumentarfilm über Sendungsbewusstsein und imperiale Selbstverständlichkeit des französischen Kolonialismus.

Bevor Léon Poirier von der Firma Citroën den Auftrag bekam, die Auto-Expedition von Georges Haardt und Louis Audoin-Dubreuil von Algerien durch Afrika hindurch nach Madagaskar filmisch zu dokumentieren, hatte er bereits eine Reihe von sogenannten romantischen Filmen gedreht. Die Verbindung von Exotik und Romantik erscheint jedoch bei Poirier, durchaus in Spiegelung der Zeit, in einem nationalchauvinistischen Kontext. Ganz Frankreich ist anwesend, wenn die Autokolonne auf der Piste gegen den Süden zum grossen Abenteuer aufbricht, was da heisst, unter der Tricolore "humanité, justice et bonheur" zu vermitteln. Poirier nennt seinen Film "journal cinématographique" – filmische Zeitung, filmisches Tagebuch. Sein Dokumentationsanspruch ist klar formuliert.
Zugleich ist es ein Film über das Raupenfahrzeug der Firma Citroën, also ein Film über ein Industrieprodukt, das sich unter schwierigsten Bedingungen zu bewähren hat. Wir müssen uns vorstellen: 1926 wurde der Film in der Oper von Paris, begleitet vom Nationalorchester der Oper, aufgeführt. Auch die Tonfassung, wie wir sie vor uns haben, wird musikalisch vom Nationalorchester der Pariser Oper betreut, sodass wir einen Eindruck bekommen, wie es damals in der Oper zu den Bildern ab Leinwand getönt haben muss.

Der "Gan’za", der Tanz der weissen Männer, wird so zum King-Kong-Ritual. Ein orchestrales kulturkoloniales Afrika-Ballett spielt sich auf der Leinwand ab. Der Film selbst setzt sich aus einer Abfolge von Sequenzen über die Überwindungen der Schwierigkeiten durch die Raupen-Fahrzeuge – also ein Industriefilm – und ethnologischen Beobachtungen zusammen.

Filmisch rasant ist das Travelling durch ein Dorf. Auch diese Passage dokumentiert, besonders in Verbindung mit der Musik, die Haltung des Autors als eine historische Bewusstseinsspiegelung der Zeit. Der Ausschnitt klingt aus in der vom französischen Kolonialismus geschaffenen afrikanischen Idylle.

3 LA CROISIÈRE NOIRE (7 Minuten)

1933 kommt LA CROISIÈRE JAUNE in die Kinos. Grundlage bilden wiederum Auto-Expeditionen der Firma Citroën in den Jahren 1929 bis 1932. Die eine Gruppe bricht in Beirut auf, die andere in Peking. Sie sollten sich inmitten Asiens treffen. Aufgrund der Wirren und Kriege trafen sie sich nie. Dafür existieren auch wiederum hier verschiedene Fassungen aus Teilstücken des Unternehmens. Ich zeige Ihnen zunächst die Sequenz über die erste Traversierung des Himalajas durch eine Fahrzeugkolonne. Auch der Vorspann ist sehr aufschlussreich: "La relation cinégraphique de LA CROISIÈRE JAUNE a été composée par Léon Poirier avec des documents visuels et sonores rapporté par l'expedition".

4 LA CROISIÈRE JAUNE (5 Minuten)

Und so geht es weiter. Objekt dokumentarischer Beobachtung ist das Citroën-Fahrzeug. Asien ist die landschaftliche und kulturelle Kulisse. Um kurz bei der Industriegeschichte zu bleiben: Die Idee von Geländegängigkeit und Überwindung aller Hindernisse ist dem Citroën-Wagen eigen geblieben, wenn sie an den Deux Chevaux oder auch an den DS 19 denken oder an das schwarze Auto der Dreissiger- und Vierzigerjahre, das wir nur noch aus den französischen Kriminalfilmen kennen. Die Überwindung des Himalajas: Die Fahrzeuge werden zerlegt, über die Berge getragen, über Gletscher und Schnee. Karawanen übernehmen den Materialtransport, Esel, Kamele, durch Bergdörfer, Bäche werden durchquert, zugefrorene Flüsse, treibende Eisschollen. In der Mongolei herrscht Krieg. Endlich, 1932, China. "Où est la Chine?" lautet die Frage. Am 12. Februar 1932 erfolgt die Einfahrt in Peking.

Die Kamera dringt erstaunlich behutsam in eine fremde Welt ein, die damals noch wirklich fremd und weitgehend unbekannt war. Die Kamera beobachtet in Nah- und teilweise Grossaufnahmen z. B. die Tätigkeit der Händler und Handwerker und verweilt bei den musikalischen und theatralischen Darbietungen. Auch die Tondokumente werden subtil eingewoben, sodass eine eigenartig schwingende Stimmung entsteht und endlich ist man wieder in Frankreich, das heisst Frankreich in Peking, wie es sich in den sogenannten Legionen findet, den exterritorialen Schutzgebieten für Ausländer, gleich den ausländischen Schutzzonen in Shanghai. 1932 ist Peking in der Hand von Chiang Kai-shek und Japan ist in die Mandschurei einmarschiert. Frankreich in Peking. Die Sequenz wirkt fast wie eine Satire. Die Damen der Gesellschaft, die Offiziere, der leibhaftige Franzose mit Brassens Schal um sich geschlungen und Beret. Heimat in der Fremde.

5 LA CROISIÈRE JAUNE II (6 Minuten)

Schon in LA CROISIÈRE NOIRE fand sich die Idylle französischer Kolonien in Afrika. In LA CROISIÈRE JAUNE führt die Expedition über Haiphong nach Hanoi direkt ins Paradies von Indochina. Gleichzeitig bricht in Shanghai 1932 der Krieg aus. Der japanische Admiral Shiozawa eröffnet eigenmächtig Kampfhandlungen in und um Shanghai, die Stadt wird bombardiert, was die amerikanische Stimson-Erklärung auslöst. Frieden in Indochina – Krieg in Shanghai.

6 LA CROISIÈRE JAUNE III (3 Minuten)

Reise- und Expeditionsfilme. Sie führen in ferne Kontinente und wollen exotische Welten dokumentieren: das Andere, das Fremdartige. Der ethnologische beobachtende Ansatz verbindet sich mit der Faszination Abenteuer. Objekt der Darstellung werden die Männer, welche zur grossen Reise über die Landkarte hin aufbrechen und Objekt werden die Fahrzeuge, die unverwüstlichen Citroëns. Der beobachtende Dokumentarfilm wird zum Industriefilm, der sein Produkt verkaufen will.
Zugleich thematisieren die Expeditionsfilme das Bewusstsein einer Zeit, das den Kolonialismus noch in seiner ungebrochenen Gültigkeit erlebt. So werden die Reise- und Expeditionsfilme, z. B. Léon Poiriers, als Dokumentarfilme Dokumente einer Ideologievermittlung, die wir auch über Malerei und Literatur, Spielfilme, Reklame-Design und Produktewerbung nachvollziehen können.

Wie vertrackt es jedoch mit der Ideologievermittlung werden kann, geht aus dem folgenden Beispiel hervor. Es gibt einen deutschen Dokumentarfilmer namens Heinrich Hauser, dessen Thema war: die See und Segelschiffe und die Ruhr. Da er harte Männer filmte, wurde er der Liebling nationalsozialistischer Kulturträger. Nur liebte er die Nazis nicht. Seinen Namen suchen Sie vergeblich in den Dokumentarfilm-Geschichtsbüchern.

Wir schauen uns einen Ausschnitt aus MÄNNER, MEER UND STÜRME von Heinrich Hauser an. Die "Pamir" – ein Getreide-Schiff, das die Route Australien–Europa segelte – auf Sturmfahrt in Feuerland um das Kap Horn nach Chile, 1928. Ein Dokumentarfilm, der zum Ideologieträger werden sollte, was aber an der Haltung des Autors scheiterte – im Gegensatz zu Leni Riefenstahl, Walter Ruttmann und Gustav Ucicky.

6 MÄNNER, MEER UND STÜRME

Die Reise und Expeditionsfilme führen uns zu jenem Filmautor, der als der "Vater der Dokumentarfilms" gilt: Robert Flaherty (1884–1951). Selbst der Begriff "Dokumentarfilm" geht auf Flaherty zurück. In einer Besprechung von Flahertys Südseefilm MOANA wandte ihn der englische Dokumentarfilmer John Grierson in der Zeitschrift New York Sun vom Februar 1926 zum ersten Mal an. Er führte die Bezeichnung "documentary" in die filmische Begriffssprache ein. Flahertys Filme werden in den Filmgeschichten als Meisterwerke des Dokumentarfilms gefeiert. Somit sind seine Filme Teil jenes Kanons, der die Vorstellungen über die Erscheinungsformen des Dokumentarfilms bestimmt.
Zugleich wird uns die Beschäftigung mit Flaherty an das Thema heranführen, inwiefern authentische Bilder über die Handhabung der filmischen Gestaltung zum Basismaterial einer Fiktion werden kann, die der Vermittlung einer Ideologie dient. Es ist die Frage nach der Fiktionalität, die in der filmischen Gestaltung selbst liegt. Doch gehen wir behutsam vor.

Robert Joseph Flaherty (1884-1951): In Iron Mountain in Michigan geboren, erlebte er zusammen mit seinem Vater in der kanadischen Wildnis eine recht abenteuerliche Jugendzeit. Unfähig, eine Schule zu besuchen, wurde er zunächst Jäger und Landvermesser in der kanadischen Subarktis. Die grösste Insel der Belcher Islands, die in der Hudson Bay liegen, trägt heute den Namen Flaherty. Auf vier Expeditionen, die von einem Unternehmer namens William MacKenzie, auch "Cecil Rhodes von Kanada" genannt, finanziert wurde, drang er in den Jahren zwischen 1910 und 1916 in die Welt der Indianer, Pelzjäger, Abenteurer und vor allem in die Welt der Eskimos ein. Zudem begegnete er einer Frau, die ebenfalls durch ihren Vater zur abenteuerlichen Erkundung unbekannter Gebiete gezwungen worden war: Frances Hubbard. Sie wurde seine Frau und Mitarbeiterin.

Bereits auf einer seiner ersten Expeditionen auf Baffin Land und den Belcher-Inseln soll er eine Kameraausrüstung bei sich gehabt haben. Da aber Flaherty mit einer Zigarette etwas unvorsichtig umging, verbrannten diese Filme in einem Schneideraum in Toronto. Nach einer vierjährigen Geldsuche gab ihm schliesslich eine Pariser Pelzfirma – die "Reveillon Frères" – die notwendige finanzielle Unterstützung mit der Auflage, dass ihr Name im Vorspann zu erscheinen habe. Und so begab sich Flaherty auf seine 5. Expedition und drehte mit 36 Jahren seinen ersten, erhalten gebliebenen Dokumentarfilm.

Bei Flaherty hält der Reisefilm inne. Nicht nur, dass der Reporter aussteigt aus dem Auto, aus dem Zug, vom Kamel, vom Pferd und fotografiert und filmt, was sich als offizielle Nachricht eignen würde, was als Schnappschuss einen sensationellen Wert abgeben könnte und die Exotik in ein paar Schwenks und Travellings einpackt, sondern Flaherty siedelt sich im exotischen Raum an. Er beginnt im fremden Raum beobachtend zu leben. Flaherty bleibt 16 Monate zwischen 1920 und 1921 bei den Eskimos der Baffin-Bay und lebt mit Nanook aus dem Stamm der Itivinuit und dessen Familie. So entsteht NANOOK OF THE NORTH.

Bei Flaherty wird der Reisefilm – der Reisebericht – zum ethnologischen Film. Indem er mit dieser Familie lebt, wird Flaherty mit der Zeit der unmerklich Anwesende. Er entwickelt die Fähigkeit, durch eine genau nacherzählende Beobachtung ein Geschehen in seinem linearen Ablauf zu filmen. Für Flaherty ist entscheidend, dass die Montage mit der Kamera-Arbeit bereits zu erfolgen habe. So verfolgt Flaherty Nanook bei den verschiedenen Formen der Nahrungssuche, auf der Walrossjagd, beim Lachsfang zwischen den Eisschollen und wie Nanook die Fische mit spitzen Zähnen zu Tode beisst, wie Nanook ein weisses Füchslein aus seiner Eishöhle lockt – oder wie ein Iglu gebaut wird.
Diese Sequenz wollen wir uns näher anschauen. Es ist gleichsam ein Lehrgang in Iglubau. Bild um Bild wird schrittweise ein Arbeitsprozess visualisiert – im Sinne dokumentarischer Bedeutung: geradezu ein didaktischer Film.

7 NANOOK OF THE NORTH I

Die dokumentarisch folgerichtige Darstellung eines Iglubaues. Integriert in die Demonstration von Handwerk und Technik fliesst das Bild einer Familie ein, die nicht als Institution, sondern als Lebensform beschrieben wird. Thema des Films wird eine lebendige Gemeinschaft, die durch eine nicht entfremdete gemeinsame Arbeit gekennzeichnet ist. Unversehens webt sich ein Anliegen Flahertys in die dokumentarische Beobachtung ein: die Familie. Schauen wir uns noch eine andere Szene aus NANOOK OF THE NORTH an. Sie wirkt fast wie eine Slapstickszene. Nanook ist stets auf Nahrungssuche. Diesmal scheint er etwas ganz Feines zu riechen. Und wirklich, es wird ein kulinarisches Mahl daraus.

8 NANOOK OF THE NORTH II

Man glaubt sich in einer Inszenierung zu befinden. Nanook stellt auf recht humoristische Weise dar, wie er ein Walross unter der Eindecke erriecht, entdeckt und einfängt. Die teilnehmende ethnologische Beobachtung ergibt an Ort und Stelle eine lineare Handlung, die von einer provozierten Situation ausgeht. Die nachgestellte Nachricht erscheint in der Form einer ethnologischen Inszenierung. Es geht darum, eine Information vorzuzeigen und zwar durchaus so, dass sie unterhaltsam wirkt. Zu Beginn des Films demonstriert Nanook eine Walrossjagd mit der Harpune in der Hand, wie sie in dieser Zeit an der Baffin Bay nicht mehr vorgenommen wurde. Nachinszenierung statt gefundener Authentizität. Das wird uns bei einem späteren Film Flahertys beschäftigen.

Im Grunde stellt Nanook seine eigene authentische Situation dar. Oder wie Luc de Heusch formuliert: "Nanook ist wie ein fiktiver Film konstruiert. Nanook spielt die Rolle von Nanook." Dass aber selbst dieses Spiel, diese bewusste Nachinszenierung einer Authentizität, einer wirklich vorhandenen Realität angehörte, zeigt sich in der Biografie Nanooks. Zwei Jahre nach der Fertigstellung des Films verhungerte Nanook, weil es ihm nicht mehr gelang, die bitter notwendige Nahrung aufzutreiben.

Wir werden in späteren Beispielen wiederfinden, was Flahertys filmisch-visuelle Begabung ausmacht: die Erstellung der Natur und ihrer Urkräfte. Diese Darstellung steht jedoch stets im Kontext zum Menschen, der in der Begegnung mit der Natur zum Übermenschen wird. In NANOOK OF THE NORTH ist diese Heroisierung noch zurückhaltend. Der Film klingt aus in einer Sturmszene. Doch während draussen Schnee und Eis und Wind die Landschaft und die Polarhunde zudecken, begibt sich die Familie zur Ruhe, sie nistet sich ein im abgeschlossenen Schneehaus. Die neugeborenen Hunde werden mitgenommen, die Mutter deckt ihr Kind mit ihrem Körper und ihrer Wärme zu und Nanook schläft – im Vertrauen, dass der Sturm enden wird. Die Familie ist sich ihrer sicher.

9 NANOOK OF THE NORTH III

Robert E. Sherwood schildert 1923 in einem Aufsatz, welche Schwierigkeiten Flaherty mit dem Verleih hatte, bis endlich ein Kinobesitzer wagte, den Dokumentarfilms NANOOK OF THE NORTH zu spielen – am 11. Juni 1922 fand in New York die Uraufführung statt. Der Film wurde zu einem grossen Erfolg:

Nachdem Mr. Flaherty den Film vollendet und nach New York gebracht hatte, stiess er auf eine Serie neuer Probleme: Jetzt hatte er es mit den Verleihgesellschaften zu tun. Er kam darauf, dass die Eskimos im Vergleich zu diesen wichtigtuenden Herren, die die Macht hatten, darüber zu entscheiden, was das Publikum sehen bzw. nicht sehen sollte, bemerkenswert leicht zu behandeln waren. [...]
Er führte NANOOK verschiedenen Verleihern vor, doch alle wiesen ihn schroff ab. Sie behaupteten, das Publikum hätte kein Interesse an Eskimos, es möchte Menschen in Gesellschaftskleidung sehen. Schliesslich schloss er einen Vertrag mit Pathé ab, und NANOOK wurde den Kinobesitzern mit gemischten Gefühlen angeboten. Einer von ihnen, Samuel Rothafel, vom Capitol-Theater in New York, beschloss, einen Versuch damit zu machen, obwohl er aus seinem Zweifel über die Möglichkeiten eines Kassenerfolges kein Hehl machte. In der Woche, in der NANOOK im Capitol-Theater aufgeführt wurde, erzielte der Film 43 000 Dollar. [...]
Eine der Verleihgesellschaften, die Famous Players-Lasky, die entschieden hatte, NANOOK in die Kälte zurückzuschicken, von wo der Film gekommen war, zeigte ihre Reue in einer anständigen und betonten Weise. Jesse L. Lasky sandte Mr. Flaherty nach Samoa, um einen polynesischen NANOOK zu drehen. Ausserdem legte er Flaherty keinerlei Schranken bezüglich Geld, Zeit oder Qualität auf, sodass wir in der Zukunft erwarten können, die erste wirkliche Darstellung der zauberhaften Südseeinseln zu sehen.
(Zitiert nach Klaue/Leyda, S. 192)

So Sherwood 1923. Und so fuhr Flaherty mit seiner Familie auf die Insel Samoa und drehte MOANA – im deutschen Verleih unter dem Titel MOANA, DER SOHN DER SÜDSEE auf den Markt gebracht. Doch in der Südsee fühlte sich Flaherty gar nicht glücklich. Es fehlte ihm die Urgewalt der Natur, sodass ein Heldenleben nicht möglich war. Das Objekt der dokumentarischen Beobachtung taugte nicht für Vermittlung seiner Ideologie.

Bibliografie

Klaue, Wolfgang & Jay Leyda: Robert Flaherty. Berlin: Henschel, 1964.

Erläuterungen

Rhodes, Cecil: (1853–1902) britischer Unternehmer und Sinnbild des Imperalismus und Kolonialismus. Er erwarb unter anderem das nach ihm benannte Rhodesien (heute Zimbabwe).

Stimson- oder Hoover-Stimson-Doktrin: eine nach dem damaligen Aussenminister 1932 benannte aussenpolitische Erklärung der USA, die besagt, dass die USA alle mit militärischer Macht okkupierten Gebiete niemals anerkennen werden.

Chiang Kai-chek: (1897–1975) chinesischer General im japanisch-chinesischen Krieg, der 1945 zum Gegenspieler von Mao wurde und sich schliesslich nach Taiwan zurückzog, wo er ein autoritäres Regime unter seiner Führung etablierte.

Filmografie

LA CROISIÈRE JAUNE (F 1933), P: André Citroën für Citroën Automobiles, R: Léon Poirier, André Sauvage, Mitwirkende: Georges-Marie Haardt, Louis Audoin-Dubreil.

LA CROISIÈRE NOIRE (F 1926), P: André Citroën für Citroën Automobiles, R: Léon Poirier.

MÄNNER, MEER UND STÜRME (D 1928), R: Heinrich Hauser.

NANOOK OF THE NORTH (USA 1920/21), P: Revillon Frères, New York (Pathé), B/R/K: Robert J. Flaherty, Titel: Carl Stearns Clancy, Robert J. Flaherty, Mitwirkende: Nanook, Nyla und ihre Kinder.

Weiterführende Informationen

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