Header

Suche

Geschichte, Gestaltung und Formen des Dokumentarfilms

Vorlesung 2: Entdeckung filmischer Gestaltung: Reisefilme, Lumière

Die Frage nach dem Selbstverständnis des Dokumentarfilms verwies letztes Mal den Dokumentarfilm in das Spannungsfeld zwischen Themenzentrierung und Gestaltungsanspruch. Wird das Thema vordergründig bestimmend, entstehen vielfach radiophonische Dokumentarfilme, die besonders den Fernseh-Alltag auszeichnen. Wird das optische und akustische Aufnahmematerial nur Stoff filmischer Gestaltung, tendiert der Dokumentarfilm zum cinéma pur und endet im Experimentalfilm. Die Dialektik zwischen inhaltlicher Bezogenheit als Ausdruck des Dokumentarismus und kreativer Filmgestaltung, ist dem Dokumentarfilm immanent und ist jenem Aspekt zuzuordnen, den ich als dem Dokumentarfilm besonders eigen bezeichnet habe. Im Dokumentarfilm wird uns die Wirklichkeit in besonderem Masse Gegenstand des Sehens, da sowohl die thematische Ausrichtung und Fixierung als auch die filmformale Vergegenwärtigung ohne die Krücke der Story, ohne narrativen Plot ersichtlich werden.

Unter dem Eindruck dieser inhaltlich-formalen Spannung wende ich mich heute den Anfängen des Dokumentarfilms in der Filmgeschichte zu. Doch zunächst sollen uns einige Gedanken zu visuellen Grunderfahrungen die Voraussetzung schaffen, mit diesem Material umzugehen.

Godard weist in seinen Filmen und seinen Texten darauf hin – in dem Sinne ist er Dsiga Wertow verwandt –, dass wir zu sehen lernen müssen: nicht lesen, sondern sehen. Selbst das Lesbare gilt es zu sehen, lernen zu sehen. Dies betrifft das Objekt als auch den Sehvorgang, der sich in der Gestaltung niederschlägt.

Für den Dokumentarfilmer heisst dies zweierlei: 1. die Wirklichkeit in ihrer Authentizität zu erfassen, was ich als Sehfähigkeit umschreiben möchte, und 2. den Sehprozess in sichtbare filmische Form umzusetzen. Und für den Zuschauer heisst dies: die Bilder zu sehen und zugleich die Sichtweise des Filmers zu sehen, d. h. zu erkennen. Wirklichkeit Film heisst somit: beide, der Filmer und der Zuschauer müssen zusehen lernen: der Filmer die Authentizität der Wirklichkeit und der Zuschauer die Wirklichkeit Film. Was sah der Filmer, was sah der Zuschauer? Doch was sahen beide nicht? Das ist das eine: die bewusst oder unbewusst selektive Wahrnehmung. Doch das andere ist: Sehen lernen heisst auch lernen, das Medium zu handhaben, das den Sehprozess des Filmers an den Zuschauer vermittelt, und heisst somit auch, dass der Zuschauer die Handhabung des Mediums durchschaut.

So heisst sehen: einerseits die Authentizität der Wirklichkeit visuell und akustisch wahrnehmen und die Wirklichkeit Film visuell und akustisch wahrnehmen und anderseits die Transmission, die Vermittlung, die Umsetzung ebenso sehr visuell und akustisch als Wirklichkeit Film wahrnehmen: die filmische Form als solche zu sehen lernen. Dies gilt für Filmemacher und Zuschauer in gleichem Masse.

Filmgeschichtlich ist dieser Prozess genau fassbar. Wie die Filmer mit ihrer Kamera auszogen, um festzuhalten, was sie sahen – mit ihrer Kamera auf Reisen gingen, um die Zuschauer darüber zu benachrichtigen, was sie sahen, entdeckten sie die filmische Gestaltung –, die formale Handhabung zur Vermittlung des Inhalts. Sehen lernen hiess somit nicht nur, lernen mit der Kamera näher hinzuschauen, zu beobachten, was sich vor der Kamera abspielt, was sich als Bildstruktur, Bildraum und Plastizität ausweist, sondern sehen lernen hiess somit lernen, die Totale als Sehen zu verstehen, die Grossaufnahme als Sehen zu verstehen, Schwenk als Sehen, das Travelling als Sehen. Nicht nur die Wirklichkeit sehen, heisst sehen, sondern mit den Mitteln des Films zu sehen, heisst ebenso sehr sehen. Die Kamera-Autoren zogen aus, um mit der Kamera, dem bewaffneten Auge die Welt zu entdecken und sie entdeckten dabei die filmischen Gestaltungsmittel.

Wenn wir nun im Folgenden auf die Anfänge des Films, auf die "Naiven", eingehen, werden wir feststellen, wie aus der unmittelbaren Entdeckung des Mediums Film eine intensive Erfahrung dessen stattfand, was Film, besonders auch den Dokumentarfilm, ausmacht.
Die ersten Filme, welche die Gebrüder Lumière 1895 zum ersten Mal in Paris öffentlich vorführten und damit die Institution Kino schufen, waren Dokumentarfilme. Denn die Gebrüder Lumière erlebten Reportagen nicht wiederholbarer Ereignisse und wiederholbare Inszenierungen vor der Kamera in gleicher Weise als Dokumente einer vorhandenen Wirklichkeit. Die Unterscheidung zwischen Dokumentarfilm und Spielfilm lässt sich nicht ausmachen. Was die Lumières nannten: "La nature prise sur le vif" – d. h. die Wirklichkeit überraschen – oder "je ne désirais que reproduire la vie" – das Leben wiederzugeben, wie es ist, hiess nichts anderes, als aufzunehmen, was vor die Kamera gerät. In dem Sinne ist auch Inszenierung vor der Kamera nichts anderes als Dokumentierung von Inszenierung.

Und so werden die Filme der Gebrüder Lumière als Wiedergabe von umgebender Wirklichkeit oder als Wiedergabe von Inszenierungen zu visuellen Dokumenten, die sich als historische Quelle verstehen lassen. In diesen Zusammenhang eines frühen Filmverständnisses ist auch Georges Méliès einzubeziehen. Méliès war von Beruf Direktor eines Zauber- und Illusionstheaters. Er besuchte die Vorführungen der Gebrüder Lumière im Grand Café am Boulevard des Capucines und übertrug die neue Erfindung – die verlebendigte Fotografie – in seine Theaterwelt. Über Spiel und Dekor inszenierte er vor der Kamera visuelle Vorstellungen aus Imagination und Fantasie und filmte sie gleich Theater-Tableaus ab: Science-Fiction-Fantastereien, Jules-Vernes- und Münchhausen-Eskapaden, magische Teufeleien und immer wieder auch Reisen. Was die Kamera-Autoren der Lumières in Wirklichkeit nicht unternehmen konnten, wird, da dokumentarisch nicht nachvollziehbar, in Fantastik umgesetzt: Reisen zum Nordpol, Reisen zum Mond, Reisen durch das Unmögliche, mit Pferden, die zu Skeletten werden, mit Vehikeln aller Art, Flugzeugen, Fallschirmen, Unterseebooten, Autos und Eisenbahnzügen, die über Berge hinweg an Sternen vorbei durchs All gleiten.

Méliès filmt Inszenierungen ab und dokumentiert dabei die ins Fantastische umgesetzten Vorstellungen der Jahrhundertwende: die Faszination der Bewegung, der Mobilität, der Erschliessung der Welt durch Auto, Bahn, Schiff und Flugmaschinen unterschiedlichen Designs – die Industrialisierung und ihr Glaube an den technischen Fortschritt und an die Wissenschaft, an die Machbarkeit, d. h. an die Umsetzung der Science-Fiction-Fantasien in die Realität. Die abgefilmten Inszenierungen werden zu unterhaltsamen Dokumentierungen eines Zeitgefühls.

Méliès nimmt uns auf fantastische poetische irreale Reisen mit. Für Méliès ist die Filmleinwand ein Theaterguckkasten, die er dokumentarisch abfilmt. Die Ereignisse liegen in der Inszenierung selbst. Bei den Kamera-Autoren der Gebrüder Lumière wird die Art des Sehens und somit auch die Art des Filmens zum Ereignis.

Die Gebrüder Lumiere und ihre Kameramänner nehmen uns ebenfalls auf Reisen mit, doch auf reale Reisen, auf die auch die Kamera mitgeht. Es gilt, die Umwelt und die Welt zu entdecken und Nachrichten heimzubringen. Doch diese Reisen führen auch zur Kamera hin und zur Seherfahrung, wie mit der Kamera das Sichtbare in Bilder umgesetzt wird. Was dabei entsteht, sind nun tatsächlich Dokumentarfilme. Die Entdeckung filmischer Gestaltung, die Erfahrung der Einstellungsgrössen, der Kadrage und der perspektivischen Bewegungsdynamik im Bild selbst, die Erfahrung von Raum und Gegenständlichkeit: All dies zeigt auf, wie aus einer thematischen Zuwendung die Wirklichkeit Film entsteht.
So lässt sich bei den Filmen Lumières über zweierlei sprechen: 1. über das Objekt fotografischen Aufspürens und Sehens, über die Dokumente als visuelle Zeichen der Zeit und 2. über die filmische Gestaltung selbst, die die Dokumente sehbar plastisch werden lässt, dem Sichtbaren augenfällig Bedeutung verleiht.

Im Folgenden gehe ich zunächst auf die ungemein starke Bild- und Filmgestaltung der Gebrüder Lumière und ihrer Kameraleute ein, um aufzuzeigen, wie der dokumentarische Blick jene Bilder und Gestaltungsformen finden lässt, die dem Objekt eine entsprechende Aussage verleihen. Im Willen, die "Realität" zu zeigen, wählt bei den Gebrüder Lumière der Kamera-Autor ganz präzis den Standort der Kamera. Es ist ein Standort, der möglichst viele und genaue Informationen ermöglichen sollte und zugleich bedingt die Wahl des Standortes eine geballte Bildgestaltung.

Die Totalen sind nicht nur Informationsflächen, aus denen sich der Geist der Zeit, die bildhaften Zeichen und Signale der Epoche der Jahrhundertwende ablesen lassen, sondern sie sind zugleich kunstvolle Gebilde, die alle Einstellungsgrössen in der einen Einstellung sukzessiv enthalten. So reichen z. B. die Strassenbilder aufgrund der Vorgänge auf der Leinwand über nah bis gross. Die fixen Totalen Lumières sind Lebensbilder. In ihnen ist die Zeit enthalten, die Ambiance des Lebens. Die Kamera ist so aufgestellt, dass in die Bildtiefe und in die Bildbreite sich verschiedene Ereignisse abspielen, verschiedene Geschichten beobachtet werden können.

Eine Aufnahme aus Liverpool: Church Street. Ein Tram öffnet den Beobachtungsraum, ein Tram schliesst die Beobachtung wieder ab.

1 LIVERPOOL

Die wechselnden Kadragen innerhalb der Totalen lassen sich auch als Bildebenen ausmachen. Und jede Bildebene gibt eine andere zu beobachtende Information ab. Le Pont neuf: Vorne die Hüte und über sie hinweg lässt sich eine ganze Geschichte der Transportmittel ablesen, dann die Architektur der Brücke.

2 LE PONT NEUF

Bezeichnend für die Dramaturgie des Bildes ist, dass die dynamischen Ereignisse an den Bildrand gelegt werden, sodass die Raumtiefe nicht nur eine Frage der Perspektive ist, sondern sich aus dem im Bild innenliegenden Bewegungsfluss ergibt. Diese Form Lumièrescher Bildgestaltung – die Dramatik der Ereignisse und der Personen ist an den Bildrand verwiesen, dafür evoziert die Mitte des Bildes Raumtiefe, Stimmungsweite und Einblick in den Bildhintergrund – lässt sich in den Spielfilm bis in die Zwanzigerjahre verfolgen. Achten Sie darauf, wenn Sie frühe Stummfilme anschauen.
Eine Einstellung – eine Aufnahme aus Mailand. Der Domplatz. Die Bewegung des Trams betont die Grösse und Tiefe des Raumes.

3 MILAN, PLACE DU DÔME

Bilderfahrung und Bildausstrahlung decken sich. Die Beobachtungsgabe weist sich in der genauen Wahl des Kamerastandortes aus. Nichts ist zufällig. Man glaubt zu spüren, wie der Kamera-Autor in der richtigen Distanz zur Haltestelle seine Kamera positionierte und genau den richtigen Moment abwartete, da das Tram noch ausserhalb Blickfeldes auf die Kamera zufährt. Man glaubt einer realistischen Inszenierung beizuwohnen. Inszenierung ist die präzise Wahl des Kamerastandortes. Die Sichtweise bestimmt sowohl die Intensität der abgegebenen Information als auch die filmogene Bildstruktur.
Dazu ein weiteres Beispiel, das geradezu exemplarisch die Verbindung von Kamerastandpunkt, Bildstrukturierung und dokumentarischer Informationsdichte aufzeigt. DÉCHARGEMENT D'UN NAVIRE: Ein Schiff wird gelöscht. Die Bewegung der Dampfwolken schafft Dynamik. Vorne eine Bank mit ruhenden Männern, trennt vom eigentlichen Arbeitsbereich, strukturiert auf diese Weise szenische Tiefe. Ein Steg mit Löscharbeitern dynamisiert das Bild in der Horizontalen. Ein zweiter Steg schafft eine zusätzliche Bildebene. Zugleich bildet der Schiffskörper eine Diagonale durch das Bild, sodass die einzelnen Handlungsebenen in eine perspektivische raumschaffende Tiefe gelegt sind. Zu diesem Bild braucht es keinen Kommentar, keinen erläuternden Text, keine Geräusche, keine der Arbeit nachempfundene Musik. Ein dokumentarisches Beobachtungsbild, entdeckt und realisiert vor der Jahrhundertwende.

4 DÉCHARGEMENT D'UN NAVIRE

Die Kameramänner der Gebrüder Lumière zogen durch die Welt und brachten signifikante Bilder heim. Die Begabung genauester Beobachtung in Verbindung mit einer filmogenen Sicht lässt die in Totalen angelegten Momentaufnahmen z. B. städtischen Lebens bildhaftes Zeichen des betreffenden Ortes werden. New York, Paris, Dresden, London, Moskau. Vergegenwärtigen Sie sich, wie Sie mit einer einzigen Einstellung, einer einzigen Plansequenz, diese Städte einfangen würden.
Das Bild wird präzis geschossen, genau in jene Kadrage gebracht, die höchstmögliche Information mit einer Bildstrukturierung verbindet, die Raumgefühl, Bewegungsperspektive und Plastizität von Architektur, Menschen und Situationen gegenwärtig werden lässt. New York: Hinten die schweren Bankfassaden der Strassenschluchten von Wall Street und vorne tauchen die Männer in Nah und in Bewegung auf, welche die Atmosphäre des Viertels bestimmen. Identität von Architektur und Mensch, zur bildlichen Aussage geformt, gepresst.

Paris: In einer einzigen Aufnahme vom Grossen Preis in Paris weht ein Proust-Bewegungsbild vor der Kamera durch. Man glaubt, Swanns Liebe zu entdecken. Dabei wird zusätzlich ein weiteres Phänomen bezeichnend, auf das ich noch eingehen werde. Die genau gesichtete Totale, die gestochene Wiedergabe einer dokumentarischen Situation gibt nicht nur Informationen über die Mode und Bewegungsform der Menschen, über Verhalten und Präsentierung der Männer und Frauen ab, die sich zu einem gesellschaftlichen Anlass treffen, sondern die Totale lädt zur Freiheit des Fantasierens ein. Das dokumentarische Bild wird imaginativ aufgeladen. Ich werde darauf zurückkommen.

Dresden: Die Totale präsentiert sich in der Schwere, dem fast Düsteren des deutschen Kaiserreiches. Ein Pferd auf der Strasse, ein Polizist, Bürgerfrauen, ein Dienstmädchen, erkennbar an der Schürze, Identifikationsfiguren, wie wir sie in karikierender Spiegelung deutscher Gesellschaft aus dem "Simplicissimus" kennen, aus Zeichnungen und Fotografien von Zille.

In Paris Proust, in Dresden "Simplicissimus" und Zille. Wiederum ganz anders werden in der Totalen von London Ort und Zeit aufs Genaueste erfasst. In der Totalen von Moskau wird eine andere Welt bildhaft wirksam. Eine Stadt, in der Bauern sind, Armut ist, Trägheit sich breitet, Klassengegensätze genau ablesbar sind. Eine Montage von Städten. Jede Einstellung hat als ein in sich geschlossenes Tableau eine andere Ausstrahlung.
Angereichert durch unzählige Details, die sich aus Bildfülle, Bildtiefe, Bildbreite ergeben, wird die durch Bewegung strukturierte Totale zur jeweiligen dokumentarischen Aussage über das Wesentliche der fotografisch-filmisch vordemonstrierten Stadt. Die Bilder besitzen Tiefe, sie geben Raum frei, als wäre das dokumentarische Bild eine Szenerie. Zugleich wird vielfach – ich weise noch einmal darauf hin – die Haupthandlung, die Dynamisierung durch Situationen, Personen, Fahrzeuge an den Bildrand gerückt. So wirken die Personen, die auftauchen, wegtauchen, durchgehen, auf die Kamera zugehen, ungemein präsent, sozial erkennbar, sie wirken wie Kurzporträts.

5 NEW YORK, BROADWAY ET WALL STREET; PARIS, CHAMPS-ÉLYSÉES; DRESDE, AUGUST-BRUECKE; LONDON, PONT DE WESTMINSTER ET PARLEMENT; MOSCOU, RUE TVERSKAIA

Die Totale, aufgrund der Bewegungsvorgänge, in Gross, Nah und Totalen zerlegt, schafft sich aus den Details das Signifikante, das wiederum in der Totalen aufgeht. Die Details binden sich zum Wesentlichen. Totale fangen die Stimmung einer Zeit ein, die Ambiance des damaligen Lebens. Eine Epoche – die der Jahrhundertwende – wird greifbar. Dies wird besonders an Filmaufnahmen – an Totalen aus Paris – sichtbar. Ohne irgendwelche fotografische Beigaben entstehen impressionistische Bilder. Kamerastandpunkt und Sichtweise schaffen eine durch das Objekt bestimmte impressionistische Ausdrucksweise. Der Kamera-Autor dokumentiert einen durch Malerei, Literatur und Musik assoziierten Impressionismus.
Champs-Élysées: Vorne die Kinder, hinten die Fiaker, die Weite des Boulevards.
Bassin des Tuilleries: Die Tiefe der Gärten, vorne das Bassin mit den Segelschiffen, die Kinder im Matrosenlook. Heute findet sich nichts mehr dort. Keine Kinder, keine Segelschiffe. Retour d'une promenade en mer: Das um den Mast geraffte Segel, die Personen abgehoben gegen das Meereslicht. Die Beobachtung der Situation hält dokumentarisch das Motiv eines Monet fest.

6 PARIS, CHAMPS-ÉLYSÉES; PARIS, BASSIN DES TUILLERIES; RETOUR D'UNE PROMENADE EN MER

Als Macht der Totalen möchte ich die bildhafte Ausstrahlung der in sich abgeschlossenen Einstellungen – den Plansequenzen – bezeichnen. In ihr vollzieht sich die innere Montage der Beobachtung. Dazu ein Bild vom Lande. Dokumentarisch wird Arbeit festgehalten: Ochsen ziehen einen Pflug durch, Schafe werden durchs Bild getrieben. Hinten wird auf dem Acker gearbeitet. Ein Bild wie von Millet.

7 LABOURAGE

Wir stellten fest, wie innerhalb einer Einstellung, innerhalb der vorgegebenen Totalen aus der Beobachtung der Details, die durch die Bewegungsabläufe und die Mobilität der Dinge und der Menschen bis zu Grossaufnahmen sich verändern können, die dokumentarische Aussage entsteht. Einzelne Plansequenzen geben uns aufgrund einer ins Bild verlegten sukzessiven Sichtweise eine ganze Gesellschaftsstruktur wieder. In DÉPART EN VOITURE wird durch die Abfolge der Beobachtungsvorgänge in der Totalen nicht nur der Raum unterteilt und in die Tiefe strukturiert, sondern auch die Gesellschaftsstruktur wird gleichsam aufgefächert sichtbar. Die Herrschaften, die in den Wagen einsteigen, die Bediensteten, das Handgepäck, das den einzelnen Personen zugeordnet werden kann, und schliesslich taucht hinten ein Karren auf, der noch auf eine andere soziale Schicht hinweist.

8 DÉPART EN VOITURE

9 DÉBARQUEMENT und ENTRÉE D'UN NOCE A L'ÉGLISE

Eine Hochzeit tritt in die Kirche ein. In der Bilddiagonalen wird ein gesellschaftlicher Aufriss gegeben, zugleich Weiterführung in die Tiefe der Strasse, wo der Fiaker wegfährt. Die Kinder kleben am Bildrand. Gesellschaftliche Zeitbilder, Bilder eines bürgerlichen Zeitalters. Lumières Bilder als Selbstdarstellung. Bilder der Arbeit sind kaum zu finden. Manchmal bricht das industrielle Zeitalter durch. Auch wenn sechzig Pferde von links nach rechts einen Schwertransporter durch das Bild ziehen, sodass eine visuelle Spannung auf die Bildpointe hin entsteht. Oder ein Camion mit Steinquadern von weissen Pferden diagonal durchs Bild verschoben wird. Wiederum bezeichnend für die bewusste Art, die Kamera zu positionieren, ist im zweiten Beispiel, wie die Kamera am Ende der Einstellung weiter regungslos hinschaut, sodass die Leere des Platzes entsteht.

10 CONCOURS DE BOULES und PARTIE DE BOULES

Immer wieder haben Lumières Kamera-Autoren den Geist der Zeit dokumentarisch eingefangen, die Menschen in ihrer körperlichen Plastizität gezeigt, sie in ihre Ambiente gestellt.hre Kleider, ihre Accessoires, ihre Kennzeichen, ihre Gesten und Verhaltensweisen sprechen lassen. Dokumentarische Genrebilder, Beobachtungsskizzen, doch selbst in ihrer Leichtigkeit ganz klar in der Bildstrukturierung und in der Absicht, im Zusammenspiel der Details das Wesentliche zu zeigen. Zwei Boulespiele.

11 BAINS EN MER und DOUCHE APRÈS LE BAIN

Zu den damaligen Freizeitvergnügen gehörte Baden und sich Duschen. Die Duschszene wirkt wie inszeniert, denn die Frauen haben genug. Die Einstellung ist für die Kamera gemacht.

12 TRANSPORT D'UNE TOURELLE PAR UN ATTELAGE DE SOIXANTE CHEVEAUX, ATTELAGE D'UN CAMION

Die Totale gilt in der Filmästhetik als eine schwierige Aufnahme, da sie nur der Stimmung und Ortsbezeichnung verpflichtet erscheint. Indem die Kamera-Autoren der Gebrüder Lumière ihre Sichtweise, ihren Kamerastandort bewusst wählen und nicht dem Zufall des Augenblicks überlassen, erhält das Zufällige vor dem Kameraobjektiv, vor dem Kamera-Auge eine im Moment situative, dokumentarische Gültigkeit. (Man könnte glauben, ich nehme eine Ehrenrettung der Totalen vor.)

Die kinematografische Sensibilität der frühen Kamera-Autoren zeigt sich besonders auch in der Art, wie sie versuchten, im Bild Bewegungserfahrung zu gewinnen. Nicht nur wurde aufgewirbelter Staub von stürzenden Gemäuern, Nebelschwaden von schiessenden Kanonen und wolkenartig sich bewegender, sich bildender, sich auflösender Dampf Anlass, ein Motiv aufzunehmen, sondern auch die kleinste Bewegung sollte erfahrbar werden. So waren die Kameraleute vom Zittern der Blätter im Wind im Hintergrund des Bildes angetan, sich bewegenden Sträuchern. Jetzt liess sich Wind fotografisch festhalten – Wind als Bewegung dokumentieren.
In den Totalen wurden Menschen und Dinge vor die Kamera hingeführt, an die Kamera herangeführt, sodass unverhofft Nah- und Grossaufnahmen entstanden. Die andere Möglichkeit lautet, die Totale zu verlassen und an die Dinge und die Menschen heranzurücken. So entsteht eine Nahaufnahme von Fischen in einem Glasgefäss. Licht- und Schattenspiegelungen lassen die Fische ganz nah und unmittelbar, ganz plastisch und gegenwärtig werden. Die Kamera dringt über die Nähe in das Objekt hinein.

13 BOCAL AUX POISSONS ROUGES

Schwieriger wird der Umgang mit Menschen, wenn man mit der Kamera in Langzeitbeobachtung an sie heranrückt. Bezeichnenderweise sind es Familienbilder, welche Nahaufnahmen zulassen. Sie kennen die Bilder wohl. Die beiden Kinder, die sich am Tisch streiten: LE GOUTER DES BEBES. Das Ehepaar Louis Lumière versucht, seinem Kind zu essen zu geben. Hinter ihnen – sie sind im Garten – spielt der Wind in den Blättern.
Ich zeige Ihnen LA PETITE FILLE ET SON CHAT. Eine Alltagsbeobachtung. Die Kamera geht ganz nahe an das Mädchen und ihre Katze heran, so nahe gar, dass das Mädchen und die Katze in ihrer Wirkung wie in Grossaufnahmen erscheinen.

14 LA PETITE FILLE ET SON CHAT

Die Wirklichkeit ertappen, heisst sich ihr nähern. Sich nähern heisst aber auch, sie, falls die Kamera fixiert, unbeweglich bleibt, auf die Kamera zukommen lassen. Auf dem Markusplatz in Venedig füttert eine Frau die Tauben. Sie kommt langsam auf die Kamera zu. Die Bewegung der Frau inmitten der Tauben vor dem Hintergrund der Markus-Fassade auf die Kamera zu führt zur allmählichen Veränderung der Bildgewichtung und lässt aus der filmischen Erfahrung eine plastische Erfahrung erstehen. Wie schon bei den Fischen im Wasserglas, beim Spiel des Mädchens mit der Katze schafft die Nähe plastisch wirkende Gegenständlichkeit. Bemerkenswert ist auch, wie sich die Figur der Frau am rechten Bildrand verschiebt, sodass die Raumtiefe erhalten bleibt und zugleich die Zentrierung auf die Hand erfolgt.

15 VENISE, PIGEONS SUR LA PLACE DE SAINT-MARC

Die Film-Autoren wollen sehen und das Gesehene möglichst informativ umfassend wiedergeben. So entstand in der filmischen Frühzeit der Schwenk aus dem Bedürfnis, die Leinwand zu weiten. In der heutigen Machart dient der Schwenk dazu, Beziehungen zwischen Menschen und Dingen, zwischen Menschen und Menschen, zwischen Menschen und Räumen herzustellen. Der Schwenk ist auf Blickgebung ausgerichtet und verlangt vielfach den erlösenden Schnitt auf ein anderes Bild. Die Kamera-Autoren Lumières entdeckten die Möglichkeit des Schwenks, um aus der Einengung durch den Ausschnitt auszubrechen. Der Schwenk bekam die Aufgabe einer beobachtenden, abtastenden, aufsuchenden Panorama-Bewegung.
So z. B. ein Schwenk über Antwerpen hin. Zuerst glaubt man, man habe es mit einer Kamerafahrt zu tun, was wahrscheinlich auch der Fall ist. Doch dann wird die Baumperspektive spürbar, sodass die Schwenkbewegung zu einer langgestreckten Postkarte wird.

16 ANVERS, PANORAMA DE LA VILLE PRIS D'UN BATEAU (20 Sekunden)

Die Filme der Gebrüder Lumière dokumentieren nicht nur ihre Zeit, den Geist einer Epoche, Lebensweise, Ausstrahlung damaliger Sichtbarkeit, sondern auch die Entdeckung filmischer Gestaltung. Ihre Filme sind gleichsam ein Dokumentarfilm über Film.
Der Schwenk entsteht aus der Bewegung des Auges, die auf die Kamerabewegung übertragen wird. Es ist ein Panoramaschwenk. Die fixe Kadrage der Totalen wird durch die Bewegung erweitert. Die gleiche Funktion erhält auch die Kamerafahrt – das Travelling. Die Kamera wird auf eine Gondel gebracht, vorne an ein Tram fixiert. Die Kamera fährt auf einem Zug mit. Die Kamerafahrt entsteht aus der Reisebewegung heraus. So gleitet die Kamera den Fassaden von Venedig entlang. Es gilt, die Fassaden möglichst wie eine kompakte Architekturkulisse zu zeigen.

17 VENISE, PANORAMA DE LA VILLE PRIS D'UN BATEAU

1896 drehte Promio, der neben Mesguich wohl begabteste Kameramann der Gebrüder Lumière, in Venedig sein berühmtes Travelling, das als das erste Travelling der Filmgeschichte gilt. Bereits finden sich zwei Einstellungen, die aufeinander bezogen sind, sodass ein folgerichtiger Bildzusammenhang entsteht. In der 1. Einstellung sieht man in Totale die Gondel, welche von der Kamera weggleitet. Am Ende der Einstellung biegt die Gondel nach links ab, sodass folgerichtig die Kamerafahrt von links nach rechts eingeleitet wird und der Zuschauer den Eindruck bekommt, die Kamera befände sich auf der Gondel. Zudem entsteht über die Verbindung der beiden Einstellungen die subjektive Erfahrung des Zuschauers, auch er befände sich auf der Gondel. Aus dem Willen heraus, dem Zuschauer das Gesehene unmittelbar beobachtend zu vermitteln, erwächst der subjektive Blick.

18 VENISE, PANORAMA DU GRAND CANAL PRIS D'UN BATEAU (30 Sekunden)

Für die Kamerafahrten werden die verschiedendsten Transportmittel gebraucht. Das wichtigste wird die Eisenbahn. Bereits zu Beginn der Filmgeschichte taucht das Faszinosum einer ewigen Kamerafahrt auf.
Beim Besuch des französischen Ministerpräsidenten 1897 in Russland filmen die Kameraleute Lumières nicht nur die Grossen ihrer Zeit, sondern sie richten ihre Kamera auch auf die Landschaft. Die Kamera schaut durch das Fenster in die Landschaft hinein. Vorne gleiten Hecken, Geländer, Bäume vorbei, und dazwischen erlauben Einblicke und Durchblicke die Sicht in die Landschaft. Clemens Klopfensteins TRANSES wird antizipiert.

19 (Fahrt durch russische Landschaft, 20 Sekunden)

Kamerafahrten, Travellings. Auf dem Karton vor der Einstellung werden sie Panorama genannt, was sich mit „Gesamtansicht“ übersetzen lässt. Nicht die Fahrt ist bezeichnend, sondern dass – wie beim Schwenk – als Rundblick mithilfe einer Fahrt auf einem natürlichen Transportmittel der Eindruck eines Panoramas – einer Gesamtansicht – ermöglich werden sollte. Fahren heisst sehen. Reisen heisst sehen.
Dazu drei weitere Beispiele: PANORAMA DE L'ARRIVEE A AIX-LES-BAINS, PRIS DU TRAIN: Panorama – bei der Ankunft in Aix-les-Bains, aufgenommen vom Zug. Wir fahren durch eine Schneelandschaft.
PASSAGE D'UN TUNNEL: Es ist wirklich die authentische Fahrt durch ein Tunnel. Das Tageslicht, die Schwärze des Tunnels und wieder die Helle des Lichts. Lichterfahrung verbindet sich mit der Kamerafahrt.
LIVERPOOL. PANORAMA PRIS DU CHEMIN DE FER ÉLECTRIQUE: Die Hinfahrt in eine Stadt – ein Kanal, Häuser, Schiffe, Fassaden, Schiffe – so wird dreissig Jahre später Ruttmanns Dokumentarfilm über Berlin beginnen.

20 PANORAMA DE L'ARRIVÉE À AIX-LES-BAINS, PASSAGE D'UN TUNNEL EN CHEMIN DE FER, LIVERPOOL, PANORAMA PRIS DU CHEMIN DE FER ÉLECTRIQUE

Auch in diesen Einstellungen, diesen Tableaus fällt die Präzision des gezeigten Bildes auf. Ihre Authentizität ist als historische Quelle angereichert an visuell vorgezeigter Geschichte. Über das Sehen lassen sich die Einstellungen lesen, interpretieren, historisch verstehen und einordnen. Zugleich liegt in diesen dokumentarischen Filmbildern eine ungeheure Freiheit zur Imagination. Sie erlauben zu fantasieren, in Assoziation zu den anderen Künsten, zu Literatur, Malerei sich der Imagination über die Epoche hinzugeben. Und Film als Bewegungserlebnis zu begreifen. Lumières Kamera-Autoren halten dokumentarisch fest, zeigen uns, was sie sehen und öffnen uns zugleich die Tore zur Imagination. Was sich findet, ist der Dokumentarfilm nicht als Fixierung, als Einengung eindimensionalen Sehens, als autoritäre Visualität, sondern als ein Akt zur Freiheit, im Sehen auch die Vorstellungskraft anzuregen.

Dies zeigt sich auch in der Art und Weise, wie die Kamera-Autoren der Lumières Inszenierungen dokumentieren. Vor der Kamera wird eine Situation, eine Kurzgeschichte, eine Pointe dargestellt. Was sich als Film-Einstellung vorfindet, ist die Dokumentierung einer Inszenierung, die als solche erkennbar bleibt. Es wird in keiner Weise der Versuch zur Identifikation mit einer Person unternommen oder der Versuch eines realistischen Illusionismus. Dokumentarisch wird auf dem Filmbild gezeigt, dass folgende Geschichte gezeigt wird. Es liesse sich Brecht zitieren oder Jean-Marie Straub. Die Schauspieler tun so, als würden sie spielen. Die Kamera dokumentiert ihr Spiel mit all jenen Qualitäten, welche die Lumière-Tableaus ausmachen: Raum, Plastizität, Präzision des Kamerastandpunktes, Sichtweise. Drei Kurzgeschichten, vorgeführt in je einer Einstellung.

21 LE FAUX CUL-DE-JATTE, BATAILLE DES FEMMES, BONNE D'ENFANT ET SOLDAT

Gehen wir noch einem anderen Phänomen nach. Nämlich die Entdeckung visuell-filmischer Wirkung führt zur Wiederholung entsprechender Sujets und Aufnahmesituationen. Was als optisch wirksam erkannt wird, wird wiederholt zum kinematografischen Topos. Ich wies schon auf die Vorliebe für zitternde Blätter, sich bewegenden Dampf-, Staub- und Rauchschwaden hin. In den Lumière-Katalogen werden die entsprechenden Szenen-Einstellungen mit dem Hinweis "joli effet de fumée" versehen. Die Einstellungen dokumentieren einen filmischen Effekt. In einem der ersten Filme der Gebrüder Lumière fährt ein Zug in den Bahnhof von La Ciotat ein. Die Anekdote geht, die Zuschauer seien erschreckt von den Stühlen aufgesprungen und hätten den Saal verlassen wollen, denn sie fürchteten, der Zug fahre, immer grösser und bedrohlicher werdend, in sie hinein. Von da an fahren immer wieder Züge in Bahnhöfe ein: in Nantes, in Besançon, Cherbourg, Cannes, Versailles, Nîmes, Rennes – ich zählte anhand des Lumière-Kataloges in Frankreich 14 Zugeinfahrten –, aber auch in Belgrad, Rio de Janeiro, Sankt Petersburg, Alexandrien, New York und in Japan. Ich zeige Ihnen die Zugseinfahrt in den Bahnhof La Ciotat.

22 L'ARRIVÉE D'UN TRAIN EN GARE DE LA CIOTAT (15 Sekunden)

Wir sprachen von den Kamerafahrten, den Travellings, die als Panorama bezeichnet werden. Es geht darum, mit Schwenk und Fahrt die Sichtbegrenzung des Ausschnitts zu öffnen. 1900 fand in Paris eine Weltausstellung statt, in ihr wurden alle technischen Möglichkeiten der neuen Erfindung Film – cinematographe – vorgeführt: Grossleinwand, Cinerama, Farbfilm, Tonfilm. Das ganze technische Potenzial der Zukunft war aufbereitet, als Apparaten-Set vorhanden. Doch für die Film-Industrie bleibt vorläufig der Stummfilm mit dem fast quadratischen Normalbild massgebend. An dieser Weltausstellung tummelten sich die Kameraleute Lumières. Dort liess sich nach Herzenslust filmen. Nicht nur glitten Boote auf der Seine den Ausstellungskulissen der Länder-Pavillons entlang, sondern rollende Bänder führten als rollende Trottoirs oder Teppiche durch das immense Ausstellungsgelände. Ihre Geschwindigkeit betrug auf dem einen Band 4,5 km/h, auf dem Express-Teppich 8,5 Kilometer in der Stunde. Die beiden Bänder liefen nebeneinander, sodass bei der Filmaufnahme der Effekt der induzierten Bewegung entstand: "Wenn ein stationäres Objekt von einem bewegten Hintergrund umgeben ist, entsteht der Eindruck, dass das stationäre Objekt sich bewegt und der Hintergrund stillsteht." Dies besagt, filmische Machart und Wahrnehmung brechen auseinander. Begeben wir uns auf eine Reise durch die Weltausstellung von 1900: eine Montage von Kamerafahrten: das totale Panorama als Topos von Kamerafahrten.

23 (Panoramas von der Weltausstellung in Paris, 4 Minuten)

Schwenk und Kamerafahrt gehen von der Eigenbewegung der Kamera aus. Die Bewegung vor der Kamera entsprach der Vorstellung der verlebendigten Fotografie. Dass die Dokumentierung von Bewegung zum filmischen Topos wird, zeigt sich nicht nur darin, dass Tanzszenen weltweit zum allgemeinem Beobachtungsrepertoire der Kameramänner werden, sondern dass die gleiche Bewegungsszene immer wieder von neuem aufgenommen wird.
Eine amerikanische Tänzerin – Loïe Fuller – erregte mit ihrem Serpentintanz damals in den Jahren 1896/97 in Paris und in der Provinz Sensation. Gleich sieben Mal taucht sie in verschiedenen Ausführungen, zum Teil in kolorierten und in Nachahmungen, im Lumière-Katalog auf. Im Gegensatz zu den üblichen Lumière-Kadragen ist die Tänzerin gleichsam als Dokumentierung eines Bühnenauftrittes in die Mitte des Bildes gesetzt.

24 (Die Tänzerin Loïe Fuller)

Was wir bis anhin verfolgt haben, ist, wie es aus der Faszination visueller Beobachtung und dem Willen, das Beobachtete möglichst intensiv an Informationen weiter zu vermitteln, eine filmische Sichtweise entsteht, die sich in der entdeckenden Erfahrung filmischer Gestaltung ausweist. Nicht die Absicht, eine Geschichte zu erzählen, sondern die vorgefundene Wirklichkeit authentisch zu dokumentieren, führt zur Kamera als gestaltenden Apparat hin. Geschichten erzählen hat vielmehr mit Inszenierung vor der Kamera zu tun und bekundet die Nähe zum Theater als Mittel erzählerischer Darstellung, bis es zur Entwicklung innerer Bildbezüge, d. h. zur Montage innerlich bezogener Einzeleinstellungen kommt. In diesem Zusammenhang haben wir jedoch eine Entwicklung zu verfolgen, die Beziehung zwischen authentischer Dokumentation und fiktiver Authentizität herstellt – ein Thema, das im Laufe der Geschieht des Dokumentarfilms immer wieder zu Turbulenzen führte.

Die Kamera-Autoren der Gebrüder Lumière, aber dann auch die Kameraleute der amerikanischen Produktionsgesellschaften wie Edison, Biograph und Vitagraph, zogen in die Welt, um Landschafts- und Städtebilder einzufangen, Reisebilder zu vermitteln, aber auch um Nachrichten bei- und heimzubringen, oft nur zu einer einzigen Einstellung komprimiert – besonders bei den Filmen der Gebrüder Lumière. Mit der Zeit auch zu Reportagen aus mehreren Einstellungen erweitert: die Krönung des Zaren Niklaus II. in Russland (1896), die Amtseinführung des amerikanischen Präsidenten McKinley (1897) und dessen Beerdigung (l901), Königin Victorias diamantenes Jubiläum (1897) und ihre Beisetzung (190l), den Wirbelsturm von Galvestone im Jahre 1900 und das Erdbeben von San Francisco (1906). In England filmen Birt Acres und Robert P. Paul jene Ereignisse, die eine journalistische Sensation versprechen: Acres 1895 eine Ruderregatta der Universitäten und Robert P. Paul 1896 den Sieg des Pferdes Persimmon, das dem Prinzen von Wales gehörte. Am gleichen Abend noch lief das "Filmchen" im Alhambra an der Leicester Square, an einem der grossen Boulevards von London.

So haben wir zu Beginn der Filmgeschichte auch den speditiven journalistischen Ansatz, der zur Tagesschau hinführt. Vorgezeichnet ist jedoch zunächst einmal die visuell dokumentarische Nachricht, die ihre Fortsetzung finden wird in den Wochenschauen, die in Frankreich 1908 und in England und Deutschland 1910 als wöchentliche Montage von mehreren Nachrichten- und Aktualitätenfilmen entstehen werden. 1908 Pathé-Journal, die erste Wochenschau überhaupt, Gaumont-Actualité als Konkurrenz. Pathé produziert für England von 1910 an eine eigene Wochenschau: Gesellschaftliche Zeitbilder, Bilder eines bürgerlichen Zeitalters. Lumières Bilder als Selbstdarstellung. Bilder der Arbeit sind kaum zu finden. Manchmal bricht das industrielle Zeitalter durch. Auch wenn sechzig Pferde von links nach rechts einen Schwertransporter durch das Bild ziehen, sodass eine visuelle Spannung auf die Bildpointe hin entsteht. Oder ein Camion mit Steinquadern von weissen Pferden diagonal durchs Bild verschoben wird. Wiederum bezeichnend für die bewusste Art, die Kamera zu positionieren, ist im zweiten Beispiel, wie die Kamera am Ende der Einstellung weiter regungslos hinschaut, sodass die Leere des Platzes entsteht „Topical Budget“. In Deutschland ist es die „Messter Woche“, so genannt nach dem gleichnamigen Produzenten und Kameramann. Und selbst in Russland gibt es eine Wochenschau vor dem Ersten Weltkrieg, produziert von Alexander Drankov.
Die von den Reisen heimgebrachten Aktualitäten und Nachrichten führen einerseits zu den Wochenschauen hin, die schliesslich im Televisionszeitalter zur Tagesschau werden, andererseits bilden sie die Grundlage zu den Reisefilmen, aus denen, der Bezeichnung nach, der Dokumentarfilm entstehen wird.

Beschäftigen soll uns vorerst ein anderer Zusammenhang. Kaum ist man in der Lage, Nachrichten visuell zu registrieren und heimzubringen und zugleich wieder in Form von Kopien an Abnehmer zu verteilen, erscheint die fiktionale Nachricht. Da es nicht möglich war, mit der Kamera stets an Ort zu sein, werden Nachrichten von den Ereignissen nachgestellt. 1899 rekonstruiert Georges Méliès in einer Bühneninszenierung die Dreyfuss-Affäre, 1902 den Vulkanausbruch des Mont Pelée und den Absturz des Ballons Pad. Méliès rekonstruierte nicht nur Nachrichten, sondern er antizipierte sie sogar. Im Auftrag einer englischen Gesellschaft – der Warwick Trading Company of London – inszenierte er unter der Anweisung eines englischen Zeremonienmeisters die Krönungsfeierlichkeiten Eduards VII., wobei eine Chorustänzerin vom Châtelet, dem Revue- und Operettentheater in Paris, die Königin spielte. Der Film lief mit grossem Erfolg – Wochen vor der eigentlichen Krönung.

Die nachgestellten, antizipierten und inszenierten Nachrichten werden jedoch nicht als Fiktion, sondern als Erzählung einer Nachricht verstanden und erlebt. Es handelt sich nicht um eine Täuschung oder Fälschung, sondern um eine Dokumentierung mit anderen Gestaltungsmitteln. Ziel ist, eine Nachricht visuell einprägsam zu vermitteln. Als Vergleich sind die illustriertem Magazine beizuziehen, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts erscheinen. Wenn die entsprechenden Fotografien fehlen, geben Zeichnungen die Nachricht von den Ereignissen wieder. Dass Bilder bereits in der Frühzeit der Filmgeschichte austauschbar und je nach Titelgebung einen anderen Aussagewert haben, geht aus der Geschichte eines cleveren Liverpooler Schaustellers hervor. 1910, am Tage des Ereignisses, sagte er einen Film über das Begräbnis Edwards VII. an. Dabei soll das Publikum nicht bemerkt haben, dass der verstorbene Monarch, robust und gesund, hoch zu Pferd, seinem eigenen vermeintlichen Katafalk folgte. Denn der Film gab in Wahrheit das Begräbnis der Queen Victoria wieder, das neun Jahre vorher stattgefunden hatte und damals gefilmt worden war. Die Dokumentaraufnahme, unter einem anderen Titel vorgeführt, wurde zu einer fiktiven Darstellung, welche die Illusion von Aktualität abgab.

Auch wenn die nachgestellten Nachrichten als ein Bericht über stattgefundene Ereignisse erlebt wurden, bergen sie in sich die Möglichkeit einer fiktiven Gestaltung, die sich von der Authentizität der Ereignisse zu lösen vermag. Der englische Kameramann James Williamson realisiert ähnlich wie die Kamera-Autoren der Lumières in England Nachrichten- und Aktualitäten-Filme: "Topicals" genannt. 1901 stellt er im Garten seines Londoner Hauses ein Ereignis nach, das er der Presse entnahm: ATTACK ON A CHINESE MISSION – der Überfall auf eine englische Mission durch aufständische Boxer.
Dieser Film, der nichts anderes als die Rekonstruktion einer Aktualität sein wollte, wird jedoch in der Filmgeschichte Beispiel für eine kurze fiktive Filmerzählung. Losgelöst vom Rekonstruktionsanspruch wird Williamsons Kurzfilm zum Beleg für die Anfänge des Spielfilms. Denn Williamson erzählt in der Abfolge der einzelnen Einstellungen eine in sich schlüssige Geschichte. Und Williamsons Filmchen wird filmhistorisch nicht mehr dem Nachrichten- und Aktualitäten-Film zugeordnet. So stehen wir – von einem filmgeschichtlichen Ansatz her betrachtet – bereits voll in der Thematik, die den Dokumentarfilm durchziehen wird: Inwiefern wird der Dokumentarismus durch Nachinszenierung, durch Erzählkino infrage gestellt? Es ist die Thematik, inwiefern Inzenierungen dokumentierter Ereignisse den Anspruch des Dokumentarfilms auf Wirklichkeitsvermittlung infrage stellen. Die Problematik der Dokumentarfilme von Flaherty und Ivens, um Filmer zu nennen, auf die ich näher eingehen werde, ist hier vorgezeichnet.

Nach 1900, wie die Grundformen des narrativen Spielfilms herausgebildet werden, steht jedoch diese Thematik nicht zur Diskussion, sondern es geht darum, dass das Ereignis nicht mehr stattfinden muss, sodass die Fiktion zum Ereignis wird. Für die Gebrüder Lumière waren noch alle Filmaufnahmen Dokumentierung. In der Vorführpraxis werden jedoch mit der Entwicklung filmerzählerischer Formen, welche um 1900 einsetzt, die Nachrichten- und Aktualitätenfilme zum Vorprogramm und entwickeln sich zur Wochenschau. Hauptfilm wird der Spielfilm, der eine Story vermitteln will. Den anderen Ansatz bilden die Reisen. Die Lumières und ihre Kameraleute zogen in die Welt, um den Kinematografen zu verkaufen. Sie filmten, zeigten das Gefilmte in den Ländern, nicht um Filme zu zeigen, sondern um Absatzmärkte für die Apparaturen zu finden. Sie brachten das Gefilmte auch nach Hause, gleichsam als visuelle Dokumentierung der Reise.

Erläuterungen

Boxer-Aufstand: Unabhängigkeitskampf um 1900 von chinesischen Nationalisten gegen die damalige imperiale Besetzung.

Brecht, Bertolt: deutscher Dramatiker und Lyriker (1896–1956), der mit seinem epischen Theater auch Theatertheorie betrieb, das eher ein distanziertes Nachdenken und Hinterfragen denn ein Mitfühlen um Ziel hatte. Ein wichtiges Mittel einer solchen Distanzierung war der Verfremdungseffekt.

Dreyfuss-Affäre:  Skandal um die Verurteilung des französischen Hauptmanns Alfred Dreyfuss wegen Landesverrats, die auf Irrtümern und antisemitischen Ressentiments basierte, um den wahren Schuldigen zu decken. Der Schriftsteller Emile Zola ergriff mit seiner Schrift J’ACCUSE! Partei zugunsten von Dreyfuss.

Lumière, Auguste und Louis (1862–1954, 1864–1948): Inhaber einer Fabrikationsstätte für fotografische Platten, später auch für Filme und Kameras in Lyon. Am 28. Dezember 1895 fand in Paris die erste öffentliche Filmvorführung Frankreichs vor zahlendem Publikum statt. Der von Lumière entwickelte Cinématographe konnte gleichzeitig als Kamera und Projektor benutzt werden. Zeitgleich wurden auch das amerikanische Kinetoskop von Edison (eine Art Guckkasten) und das Bioscop der Brüder Skladanowksy in Berlin entwickelt. Die bekanntesten Kameraleute der Gebrüder waren Alexandre Promio und Félix Mesguich.

Millet, Jean-François: französischer Maler (1814–1875).

Monet, Claude: französischer Maler (1840–1926), dessen Hauptwerke zum Impressionismus gehören.

Simplicissimus: satirische Wochenzeitschrift, zwischen 1896 und 1944 in München herausgegeben.

Straub, Jean-Marie: französischer Filmemacher, der mit seiner Frau Danièle Huillet überaus eigenwillige Filme realisierte, die sich durch lange Einstellungen und den Minimalismus filmtechnischer Mittel auszeichneten. Dadurch wird eine Illusionsbildung durch den Zuschauer praktisch verhindert – eine Theorie, die sich an Brecht anlehnte.

Zille, Heinrich: deutscher Grafiker, Maler und Fotograf (1858–1829), der Szenen aus dem Berliner Volksleben dokumentierte.

Filmografie zu den gezeigten Filmen der Firma von Auguste und Louis Lumière

Die Filmnummern entsprechen jenen in den Firmenkatalogen der Lumières, die zwischen 1896 und 1898 publiziert wurden. Das Datum bezeichnet jeweils die erste öffentliche Vorführung.

LIVERPOOL (Nr. 700, vor 1898)

PARIS, LE PONT NEUF (Nr. 688, vor 1898)

MILAN, PLACE DU DÔME (Nr. 278, vor 1898)

DÉCHARGEMENT D'UN NAVIRE (Nr. 34, 26.12.96)

NEW YORK – BROADWAY ET WALL STREET (Nr. 323, anfangs 1897)

LE GRAND PRIX À PARIS (Juni 1899)

DRESDE, AUGUST-BRUECKE (Nr. 231, vor 1897)

LONDON, PONT DE WESTMINSTER ET PARLEMENT (Nr. 254, 18.8.96)

MOSCOU, RUE TVERSKAIA (Nr. 307, 24.7.96)

PARIS, CHAMPS-ÉLYSÉES (Nr. 151, 23.4.96)

PARIS, BASSIN DES TUILLERIES (Nr. 150, 5.4.96)

RETOUR D'UNE PROMENADE EN MER (Nr. 85, vor 1898)

LABOURAGE (Nr. 59, 25.10.96)

DÉPART EN VOITURE (Nr. 32, 25.4.96)

DÉBARQUEMENT (Nr. 37, 16.5.96)

ENTRÉE D'UN NOCE A L'ÉGLISE (Nr. 557, vor 1898)

CONCOURS DE BOULES (Nr. 27, 31.5.96)

PARTIE DE BOULES (Nr. 72, 20.4.96)

BAINS EN MER (Nr. 656, 20.5.96)

DOUCHE APRES LE BAIN (Nr. 657, 23.12.96)

TRANSPORT D'UNE TOURELLE PAR UN ATTELAGE DE SOIXANTE CHEVAUX (?)

ATTELAGE D'UN CAMION (Nr. 627, vor 1898)

BOCAL AUX POISSONS ROUGES (Nr. 18, 21.3.97)

LA PETITE FILLE ET SON CHAT (?)

VENISE, PIGEONS SUR LA PLACE SAINT-MARC (Nr. 292, 2.8.96)

ANVERS, PANORAMA DE LA VILLE PRIS D'UN BATEAU (Nr. 532?, vor 1898)

VENISE, PANORAMA DU GRAND CANAL PRIS D'UN BATEAU (Nr. 295, 13.12.96)

VENISE, PANORAMA DE LA PLACE SAINT-MARC PRIS D'UN BATEAU (Nr. 296, 2.1.97)

(Fahrt durch russische Landschaft, 1897)

PANORAMA DE L'ARRIVEE A AIX-LES-BAINS (Nr. 81, 15.2.97)

PASSAGE D'UN TUNNEL EN CHEMIN DE FER (Nr. 931, vor 1898)

LIVERPOOL, PANORAMA PRIS DU CHEMIN DE FER ÉLECTRIQUE (Nr. 705?, vor 1898)

LE FAUX CUL-DE-JATTE (Nr. 665, vor 1898)

BATAILLE DE FEMMES (Nr. 100, 25.4.96)

BONNE D'ENFANTS ET SOLDAT (Nr. 103, vor 1897)

L'ARRIVÉE D'UN TRAIN EN GARE DE LA CIOTAT (Nr. 653, 9.1.97)

(Panoramas von der Weltausstellung in Paris, 1900)

(Die Tänzerin Loïe Fuller, 1897?)

Weiterführende Informationen

Title

Teaser text