Geschichte, Gestaltung und Formen des Dokumentarfilms
Vorlesung 13: Urs und Marlies Graf, Langzeitbeobachtung, Max Ophüls, HOTEL TERMINUS, Winfried Junge, LEBENSLÄUFE
Wir schauten uns am Ende der letzten Stunde vor 14 Tagen einen kleinen Ausschnitt aus Chris Markers Dokumentarfilm LE FOND DE L'AIR EST ROUGE an. Dabei zeigte sich, dass die Montagestruktur in ihrer historischen und filmgestalterischen Verflechtung – assoziative Zeitsprünge, Ortswechsel in Verbindung mit einer teilweise asynchronen Bildführung – die Rezeptionsfähigkeit eines Zuschauers zurecht strapaziert. Hinzu kommt, dass vom Zuschauer ein grosses historisches und zeitgenössisches Wissen verlangt wird, um die Anspielungen, Zitate, Rückverweise und Anmerkungen verstehen zu können. Dass die langen schwarzen Beine eines Läufers, von oben fotografiert, aus Riefenstahls Olympia-Film stammen, ist nur für jenen ersichtlich, der diese Sekunden einer Aufnahme in visueller Erinnerung gespeichert hat und zugleich in der Lage ist, das Bild in seiner historischen Zuweisung einordnen zu können. Marker fordert für seine Filme ein umfassendes Bildungsbürgertum ab, das sich nicht nur in der historischen Materialaufbereitung, sondern auch in der zeitgenössischen Verstrickung auskennt. Ausdruck dafür sind seine Bild-Ton-Montage-Drehbücher, die überhaupt erst im textuellen Nachvollzug die visuell-akustischen Verschränkungen und Bezüglichkeiten einsehbar machen. Deshalb gab ich Ihnen auch einen Drehbuch-Ausschnitt aus LE FOND DE L'AIR EST ROUGE zur textuellen Lektüre ab.
Leni
Riefenstahl glaubte 1936 im Marathonläufer einen Japaner zu filmen, dabei
filmte sie einen Koreaner, denn der Koreaner war durch die japanische Eroberung
Koreas zum Japaner geworden und lief, auch wenn er Koreaner war, in Berlin als
Japaner durchs Ziel. Und Japan feierte seinen Sieg. 1952 war der Marathonläufer
aus Berlin 1936 an den olympischen Spielen von Helsinki – als Koch. Jetzt war
er ein Südkoreaner. Man weiss nie, was man filmt.
Auch Chris Marker sagt: Die Welt des Bildes ist die Welt der Zeit, das Museum
erreichbarer Augenblicke. Doch Marker setzt dieses Museum immer wieder erneut
zusammen, um an die Bedeutung des Bildes heranzukommen. In Helsinki filmt
Marker an den olympischen Spielen von 1952 einen chilenischen Reiter. Dabei
filmte er einen Putschisten, Leutnant Mendoza, der zur Pinochet-Junta gehören wird.
Man weiss nie, was man filmt.
Die Bilder verändern ihren Sinn, wenn sie in den Kontext der Geschichte
gestellt als Montage-Struktur der Wochenschauen, Tagesschauen, Reportagenschauen,
Informationsschauen, Geschichtsbilderbuchschauen, Aktualitätenschauen ihren
Sinn aufheben. Damit gewinnen die Bilder, so sehr abgenutzt sie auch sind,
wieder unmittelbare Bedeutung.
In
gleicher Weise arbeitet Chris Marker auch mit dem Text. Aussagen, Interviews,
Reden, Kommentar, ineinander verwoben, in textliche Widersprüchlichkeit
gebracht, in Kontext und in Verfremdung zum Bild gesetzt, asynchron, mit
Geräuschen, Musik, Originaltönen und Synthesizer verarbeitet, wird Sprache, als
Sprache definiert, Teil einer filmimmanenten Dramaturgie, die stets auf einen
Zuschauer abzielt, der schauend, hörend mitdenkt, dagegen denkt, für sich den
Film ebenso kurzschliesst, wie Marker seine filmische Alchemie brodeln lässt.
Bezeichnend ist, dass Marker es liebt, mit der Form des Briefes zu arbeiten. Denn
Briefe evozieren Kommunikation, teilen mit, wollen einen Adressaten finden.
In LETTRE DE SIBÉRIE – einem
Dokumentarfilm über das ferne, abgeschlossene Sibirien – arbeitet Marker mit
allen Gestaltungsmitteln, um seine Sicht Sibiriens filmische Realität werden zu
lassen. Mit eigenen Dokumentaraufnahmen von Menschen und Landschaft, mit
historischen Fotografien, Filmzitaten aus Fremdmaterial, mit
Animationseinschüben, fiktiven Fernsehsendungen lässt er die gegenwärtige und
historische Begegnung mit Sibirien, seinen Industriestädten, seinen Wäldern,
seiner Taiga, seinen Bären und Rentieren entstehen. Wenn einer eine Reise tut,
hat er zu erzählen. Doch was erzählt er, was sagt er zu den Bildern, wie
kommentiert er sie? Mit welchem Text dokumentiert er die visuelle
Dokumentation, von der Chris Marker sagt: Man weiss nie, was man filmt?
Marker
geht vielfach von Themen aus, die er assoziierend umspielt. Ein solches Thema
ist in LETTRE DE SIBÉRIE der Bär.
Ein weiteres Thema ist die Völkerverständigung. In LETTRE DE SIBÉRIE schafft ein Chanson von Yves Montand,
russisch und französisch gesungen, die Stimmung der Stimmen, die sich die Hände
reichen. Dann taucht Marker mit abgeschabten Bildern in eine von Wetter und
Klima gezeichnete trostlose sibirische Stadt ein: Jakutsk, Hauptstadt der
autonomen sozialistischen Sowjetrepublik Jakutien.
Und hier hält inmitten eines Dokumentarfilms der Dokumentarfilm inne und legt
zu vier Einstellungen drei verschiedene Texte vor. Auf diese Weise hebt Marker die
dokumentarisch abgesicherte Bedeutung seiner Bilder auf. Dem auf Objektivität
versessenen Zuschauer wird angeraten, sich zwar die Bilder genau anzuschauen,
denn sie geben Informationen ab, aber hinfort den von Chris Marker vermittelten
Kommentar infrage zu stellen. Für den Rest des Films und für alle anderen Dokumentarfilme
hat der Zuschauer mit dieser Verunsicherung zu leben. Man weiss nie, was man
filmt, sagt Marker. Man weiss nie, was man sieht, sagt der Zuschauer.
Und
von der Wahrhaftigkeit des Kommentars weiss der Zuschauer schon gar nichts.
Texte sind Sprache, und Sprache ist Fiktion. Bilder lassen sich benennen. Durch
die Eindeutigkeit der Sprache wird die Vieldeutigkeit des Bildes in eine jeweilig
anders geartete Eindeutigkeit gebracht.
Hier ist der Ansatz, der uns zu jenen Dokumentarfilmern führen wird, die auf
jegliche Information verzichten, die sich nicht in der visuell-akustischen
Aufnahme selbst finden, die dem Kommentar als Festschreibung nicht mehr
trauen und ihn letztlich ganz der Rezeption überlassen. Der Zuschauer schafft
sich seinen Kommentar.
Marker liebt es, mit der Sprache zu arbeiten. Text ist für ihn ein
Lebenselement des Dokumentarfilms. Doch er spielt auch mit der Sprache und über
den spielerischen Balanceakt lässt er ein intellektuelles Vergnügen entstehen.
1 LETTRE DE SIBÉRIE
Chris
Marker will mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln an die Dinge herankommen,
"mit den Dingen kommunizieren, in sie eindringen, vorübergehend sie
sein". So ist die Montage, die von einem inneren Einvernehmen von Text und
Bild lebt, "keine Erzählform mehr oder ein Mittel, uns eine bei der
Aufnahme in Bilder zerstückelte Wirklichkeit wahrzunehmen und zu verstehen, sie
ist erschaffen von Gefühlen und Ideen."
So erschafft sein Bild-Kommentar Bilder, die als Bild wieder die Sprache
erzwingen.
Geburt einer Legende ... Geburt eines Bildes ... Welch sonderbare Nacht ... Da war ein Clochard, der Stück um Stück zurückwich ... Da waren Ampeln, die nicht aufhörten, einen imaginären Verkehr zu regeln ... Da war ein Trotzkist, der schrie: Genossen, schwört, dass sie euch nicht bekommen werden. Die Leute auf der Strasse waren auf unserer Seite. Sie warfen uns Taschentücher zu, die langsam herunterfielen, wie kleine Fallschirme. |
Die Unverständlichkeit der Geschichte erfassen, heisst, sich auf die Folgen von Ereignissen einlassen:
Immer, jeden Tag, jeden Abend, jeden Morgen, immer geschehen Dinge, gleich welcher Art. Sie erscheinen, eins nach dem anderen, auf der Linie der menschlichen Geschichte. Aber für mich sind das tägliche Zwischenfälle, die man zur Tür hinausgeworfen hat ... Jeden Tag bin ich überrascht, erstaunt, ich verstehe nichts, kann zu nichts meine Meinung äussern. Aber bald werden sie kommen, die Resultate dieser Ereignisse. Es ist wie die Welle des Meeres nach einem Erdbeben, selbst wenn der Unfall sehr weit entfernt geschehen ist, nähert sich die Welle nach und nach und kommt schliesslich bei mir an. |
Ein Reisender durch die Geschichte, durch die Landschaften, zu den Dingen hin und zu den Menschen – dies ist Chris Marker.
Wir sind freien Menschen begegnet. Wir haben ihnen den grössten Platz im Film eingeräumt: denen, die imstande sind, Fragen zu stellen, die sich weigern zu sprechen, die nachdenken oder einfach leben. Sie waren nicht ohne Widersprüche, nicht einmal ohne Irrtümer, aber ihre Irrtümer brachten sie voran; und die Wahrheit ist vielleicht nicht das Ziel, sondern der Weg. Aber wir haben auch andere getroffen, in grosser Zahl, auf denen der Blick des Gefangenen ungläubig haftete. Denn sie tragen ihr Gefängnis in sich selbst. |
An
die Dinge und an die Menschen heranzukommen, in sie einzudringen, sie zu sein,
zu erfassen, was ist, abbildend, übersetzend, transkribierend, von Vermittlung
besessen, gefühls-, ideentragend – immer wieder versucht der Dokumentarfilm
neue Wege zu finden, die Auseinandersetzung des Autors mit der Wirklichkeit zur
Begegnung des Zuschauers mit der Realität Film werden zu lassen. Zur Erfahrung
der Realität Film gehört Zeit als Erfahrung von Zeitdauer. Wenn wir von den aus
Leacocks "Direct Cinema" entwickelten Reportagefilmen absehen, haben
Dokumentarfilme sehr viel mit Zeit zu tun.
Sie wenden sich einer Zeit zu und werden Dokument dieser Zeit. Sie geben aus der
Sicht eines Autors das Verständnis dieser Zeit wieder. In der Verarbeitung von Zeitdokumenten
in historisch verschiedenen Zeiten wird das jeweilige Zeitverständnis ersichtlich.
Zeit in der Dauer lässt die Zeitdokumente neu und anders montieren.
Die Geschichte des Kompilationsfilms ist im Grunde die Geschichte von der Veränderung
des jeweiligen historisch fixierten Zeitverständnisses. Dokumentarfilme
brauchen Zeit für die Aufarbeitung, Erarbeitung und Verarbeitung des angegangenen
Themas, der angegangenen Dinge, der angegangenen Menschen.
Zeitverständnis
als Zuwendung zum Thema und Interpretation einer Zeit ist das eine. Das andere
ist der dokumentarische Arbeitsprozess, der die Arbeit an einem Film zur
Zeitdauer werden lässt. Denn im Verstreichen der Zeit erfolgt auch die
Veränderung der Zeit, sodass das Ergebnis sich immer mehr vom Entwurf entfernt.
Dieser Prozess kontinuierlicher Entfernung ist Ausdruck zeitlicher Dauer eines
dokumentarischen Umgangs mit dem Stoff.
In den Sendegefässen des Fernsehens wird dem Dokumentarfilm mit Vorliebe die
55-Minuten-Grenze gesetzt, oder dann die übliche Kinolänge, also 90 Minuten.
Dabei drängt der Dokumentarfilm in seinem Willen, einzukreisen, an die Dinge zu
kommen, auf einen Film hin, der in seiner Länge andauert, um die Präsenz
filmischer Wirklichkeit gegenwärtig zu lassen. Es geht dabei nicht um die Fülle
in der Präsentation von Informationen, sondern um die geradezu physische, durch
die Sinnesorgane spürbare Erfahrung von filmischer Leiblichkeit. Sie ist die Umsetzung
der physischen Präsenz eines dokumentarisch angegangenen Stoffes.
So entstehen immer wieder Dokumentarfilme, die in ihrer Langzeit magische Kreise kontinuierlich drängender Annäherung an das Thema ziehen. Claude Lanzmanns SHOAH ist ein Beispiel für einen dokumentarischen Film permanenten Einkreisens, um die Ungeheuerlichkeit eines Themas in ihrer Beziehung zur Zeit fassbar zu machen. Ausgesprochene Langzeit-Dokumentarfilme realisierte Marcel Ophüls: 100 JAHRE OHNE KRIEG. DAS MÜNCHNER ABKOMMEN VON 1938 dauerte 1967 bereits schon beinahe drei Stunden. LE CHAGRIN ET LA PITIÉ, "die Chronik einer französischen Stadt unter deutscher Besetzung" brachte es auf 270 Minuten. Dies 1969. Ophüls' Auseinandersetzung mit dem Nürnberger Prozess, in den Jahren zwischen 1973 und 1976 entstanden, umfasst 278 Minuten. Und schliesslich HOTEL TERMINUS, der Film über Klaus Barbie, zwischen 1985 und 1987 entstanden, dauert 267 Minuten. Die Erarbeitung einer Zeit wird zur Zeitdauer des Films selbst.
Sterben hat mit Enden von Zeit zu tun. In NEAR DEATH (1989) geht Frederick Wiseman fast sechs Stunden lang – 348 Minuten – der Begegnung todkranker Menschen mit dem Sterben auf einer Intensivstation nach. Es handelt sich um die medizinische Intensivstation des Beth-Israel-Krankenhauses in Boston. In Schwarz-Weiss-Bildern registriert er ohne Pathos, in präziser Beiläufigkeit, mit lang anhaltenden Einstellungen, schnittlos, Bild und Ton der Umwelt in gleicher Weise einbeziehend, die Arbeit mit Sterben. Was ihn interessiert, sind ungeschnittene Interaktionen zwischen den Patienten, den Angehörigen, dem Pflegepersonal und den Ärzten. Wiseman dreht seine Dokumentarfilme für das Fernsehen und, wenn er die Länge von fast sechs Stunden begründet, auch gegen das Fernsehen, wenn er sagt: "Bilder, die das Fernsehen zeigt, sind so oberflächlich, dass sie den Berg von Schwierigkeiten, Gefühlen und Mehrdeutigkeiten, die dahinter stecken, nicht einmal berühren." Und um dieses sensuelle Berühren geht es Wiseman, wenn er mit Kamera und Mikrofon auf einer Intensivstation weilt und 300 Stunden reale Zeit dreht, die in monatelanger Arbeit am Schneidetisch zunächst auf 500 Einstellungen und 6 ½ Stunden verdichtet wird.
Dem Langzeit-Film entspricht vielfach auch die Langzeit-Beobachtung. Beobachtungszeit ist Arbeitszeit, selbst wenn die Kamera schweigt. Aus dem Willen, sich Zeit für die Beobachtung zu nehmen, wächst auch die Vorstellung einer Langzeit-Beobachtung.
Sieben Jahre lang beobachteten Jean Rouch und seine Schüler zwischen 1966 und 1973 die Segui-Feierlichkeiten der Dogon in Mali. Daraus entstand ein zehnstündiger ethnologischer Dokumentarfilm, der sich in verschiedenen Einzelfilmen und in nicht montierten Entwürfen wiederfindet. Die nächsten Segui-Feierlichkeiten beginnen im Jahr 2027. Sie sollten im Sinne einer generationenübergreifenden Langzeit-Beobachtung wieder dokumentiert werden. Doch dem ist nicht genug. Jean Rouch erzählt, wie aus dem Willen, die Segui-Feierlichkeiten als einen Zyklus über Leben und Tod zu erfassen, eine Langzeitbeobachtung von 240 Jahren entstehen muss. Dazu Jean Rouch:
Obwohl
wir einiges begriffen haben, bleiben noch immer eine Menge Fragen. Wir wissen,
dass sich das Ganze aus drei Jahren Tod und vier Jahren Leben zusammensetzt.
Germaine will es noch genauer wissen, worauf ihr ein vielleicht neunzigjähriger
Dogon antwortet: "Hören Sie, darauf gibt es keine Antwort, das sehen wir
alles beim nächsten Sigui." Da begreifen wir plötzlich. Der nächste Sigui
findet im Jahr 2027 statt, und der Alte wollte uns sagen: "Selbst wenn ihr
es genau wissen wollt – ihr werdet es nicht mehr erleben, ebenso wenig wie ich." |
Und sie sind bereit. Wenn auch mit Vorbehalten.
Wir befragen auch den Bleichen Fuchs nach den 240 Jahren. Das erste Mal ist die Antwort: "Ja." Beim zweiten Mal – man muss die Fragen immer zweimal stellen – heisst es: "Ja, es wird stets Leute geben, die von anderswo kommen, ohne Scham; denn es gibt keine Scham mehr in Frankreich, England... Auch die Dogon werden sich nicht mehr schämen." |
Und so sollen nach den Plänen Rouchs vier Seguis innerhalb von 240 Jahren alle 60 Jahre und sieben Jahre lang filmisch beobachtet werden, damit das Ende des Zyklus wieder den Anfang finde und der Kreis dargestellter Schöpfungsgeschichte sich schliesst. Zur Vorbereitung auf das Jahr 2027 schreibt Rouch:
Eine
Frau soll es sein, die uns ablöst. Mit Germaine haben wir uns schon lange
gesagt, dass eine Macho-Anthropologie unannehmbar ist. Diese Frau ist eine
unserer Studentinnen; sie wurde in der Londoner Schule ausgebildet, untersucht
die Welt der Frauen und ist Filmemacherin. Der Mann, der bei den Boso arbeitet,
erfuhr die gleiche Ausbildung unserer Schule in Nanterre. So haben wir zwei
Leute, die im Jahr 2027 noch nicht völlig verkalkt sind. Wir werden auch einige
Dogon ausbilden und somit über ein ganzes Team verfügen. |
Es ist die filmgeschichtlich längste Langzeitbeobachtung – in Planung. Im Jahre 2214 geht sie zu Ende.
Wenden wir uns einer anderen Langzeitbeobachtung zu. 1961 begann das DEFA-Studio für Dokumentarfilme in der DDR mit einer Dokumentarfilmarbeit an einer Chronik einer Schulklasse in Golzow. Winfried Junge als Regisseur und Hans-Eberhard Leupold als Kameramann drehten zunächst zwischen 1961 und 1975 sechs Dokumentarfilme, welche die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, die den Jahrgängen 1954/55 angehören, verfolgen, also die Zeit zwischen dem 7. Und dem 21. Lebensjahr dokumentieren. Die Titel dieser sechs Dokumentarfilme, welche zusammen fast 2 ½ Stunden ausmachen, spiegeln die dokumentarische Situierung: WENN ICH ERST ZUR SCHULE GEH' (1961) – das sind die Sechs- und Siebenjährigen –, NACH EINEM JAHR – BEOBACHTUNGEN IN EINER ERSTEN KLASSE (1962), ELF JAHRE ALT (1966), WENN MAN VIERZEHN IST (1969), DIE PRÜFUNG (1971) – das zehnte Schuljahr und Abgang von der Schule – und ICH SPRACH MIT EINEM MÄDCHEN (1975) – die Zwanzigjährigen.
1979 fasste Winfried Junge das Beobachtungsmaterial zu einem 106-minütigen Dokumentarfilm zusammen unter dem Titel: ANMUT SPARET NICHT NOCH MÜHE. Der Untertitel lautete DIE GESCHICHTE DER KINDER VON GOLZOW – EINE CHRONIK. 1981 brachte Winfried Junge das verarbeitete, archivierte und teilweise seit 1978 neu gedrehte Material in einer weiteren Gestaltungsform heraus: LEBENSLÄUFE – DIE GESCHICHTE DER KINDER VON GOLZOW IN EINZELNEN PORTRÄTS. Es sind dies neun Porträts in einer Gesamtdauer von 257 Minuten. Die Beobachtungszeit: rund 20 Jahre.
Schauen wir uns den Anfang des Porträts von Marieluise an. Die ersten Bilder eines Porträts stammen – mit Ausnahme des Porträts von Winfried, das in farbiger Gegenwart beginnt – von den ersten Schwarz-Weiss-Aufnahmen der Kinder von Golzow. Diesmal sind es die 17-Jährigen. Die Kamera blieb in der Pause eingeschaltet und beobachtete, was ihr vor die Linse kam. Wir schauen uns einfach einmal die ersten sechs Minuten des Films an, damit wir, bevor wir uns mit LEBENSLÄUFE auseinandersetzen, das filmische Klima der von Junge zu einem Dokumentarfilm gestalteten Langzeitbeobachtung kennenlernen: die Handhabung des Kommentars, die Montagestruktur, Atmosphäre und Ausstrahlung des Films.
2 LEBENSLÄUFE – DIE GESCHICHTE DER KINDER VON GOLZOW IN EINZELNEN PORTRÄTS (Marieluise I, Anfangssequenz – 6 Minuten)
Neben den sechs Dokumentarfilmen, die die Kindheit und Jugendzeit von 1961 bis 1971 umfassen, neben dem 106-minütigen Film ANMUT SPARET NICHT NOCH MÜHE – DIE GESCHICHTE DER KINDER VON GOLZOW – EINE CHRONIK und den neun Porträts in LEBENSLÄUFE liegen noch 100 000 Meter unveröffentlichtes Material aus drei Jahrzehnten in 35 mm vor, was 61 Stunden Vorführzeit ergibt. Der Nutzmeter war bis anhin im Drehverhältnis 1:8. Ein grosser Teil des archivierten Materials umfasst die Zeit nach 1980 – also nach der Edition der Lebensläufe. Denn die Weiterführung der Langzeitbeobachtung wurde durch die Sonderfinanzierung des Ministeriums für Kultur der DDR zuletzt mit jährlich 150 000 Mark ermöglicht. Zur Zeit läuft das Projekt unter erschwerten Bedingungen weiter, obwohl es gerade jetzt, in dieser Zeit der Umwandlung, der Wende, der Veränderung, nötig wäre, die filmische Beobachtungskontinuität zu wahren.
Anfangs Februar 1983 sendete das Deutschschweizer Fernsehen als erste westliche Fernsehanstalt Junges und Leupolds LEBENSLÄUFE. Am 14. Februar 1983 erscheint im Blick unter dem Titel "Verschaukelt die SRG das Volk" folgende Kolumne von Turi Honegger – Ausdruck der Vox Populi:
Wir
wenden uns im Folgenden nicht dem hervorragenden Künstler Louis de Funès,
sondern Junges und Leupolds Dokumentarfilm LEBENSLÄUFE – DIE GESCHICHTE DER KINDER VON GOLZOW IN EINZELNEN PORTRÄTS zu. Marker sagt: Man
weiss nie, was man filmt. Winfried Junge und Hans Eberhard Leupold glauben zu
wissen, was sie filmen. Der Film LEBENSLÄUFE erlaubt es uns, gerade weil er im
filmästhetischen Schonraum durchaus konservativer Prägung der DDR entstanden
war, einige Aspekte des Dokumentarfilms herauszuarbeiten.
Wenn ich von Schonraum spreche, meine ich damit eine Kino-Produktionslandschaft,
die sich mit Ausnahmen auf wenige Experimente und filmästhetische Veränderungen
einliess. Im Dokumentarfilmverständnis des DEFA-Dokumentarfilms findet sich
nicht jener radikaler Bruch von einem poetisch-impressionistischen
Dokumentarfilm in einen journalistischen "Direct-Cinema"-Reportage-Stil, wie wir
ihn im amerikanischen und europäischen Dokumentarfilmschaffen verfolgen. Der
DEFA-Dokumentarfilm ist gleichsam eine Schule, die auf einschleifende Weise und
in sehr gepflegter Manier durchaus traditioneller Art dokumentarisch schöne Bilder
und Impressionen mit einer Recherche verbindet, die nicht allzu hart mit der
vorgefundenen Wirklichkeit umgeht. Es ist dies ein darstellender, nicht satirischer,
ein befragender, nicht hinterfragender Dokumentarfilm. Er sagt über Bilder und
Texte oft sehr viel aus, doch die Aussage ist herauszusehen, herauszuhören, herauszulesen.
Je nach Standort und Standpunkt des Zuschauers erhält das vorgelegte, geschmackskonform
aufgearbeitete Material eine andere Rezeptionsperspektive.
Damit
sind wir beim ersten Aspekt angelangt, nämlich bei der Frage nach der Lesart
des Films. Die Kolumne im Blick zeigt
als volkskonforme Rezeption, obwohl der Kalte Krieg sich abbaut, die damals für
die Schweiz einzig gültige Lesart. Der Film fand in der Schweiz auch andere
Kritiken. So schreibt Emanuel La Roche im Tages-Anzeiger
am 11. Februar 1983:
"Schön und ermutigend, dass Junge und Leupold ihr Werk fortsetzen wollen.
– Noch schöner freilich wäre es, wenn auch Schweizer Filmemacher Gelegenheit,
d. h. Zeit und Geld erhielten, einen ähnlichen Langzeitversuch zu
starten."
Die
Frage nach der Lesart zeigt auf, dass es auch darum gehen würde, die
Langzeitbeobachtungen weiterzuführen, gerade jetzt, in der Zeit der
Veränderung und – wenn wir von den nun 35-jährig gewordenen ehemaligen Kindern
von Golzow ausgehen – in der Zeit politischer und gesellschaftlicher
Entwurzelung.
35 Jahre DDR-Wirklichkeit, DDR-Staat, DDR-Erziehung und DDR-Leben, DDR-Visionen
– dieses Material ist vorhanden, jetzt ginge es um den dialektischen Sprung,
der die Voraussetzung liefert für die ebenfalls noch ausstehende Beobachtung in
zehn Jahren. – Rouch plant auf 240 Jahre.
Die Veränderung der Lesart führt uns zum zweiten Aspekt: Der Frage nach der Lesart – die DDR von damals, der geografische Ort aufgrund der historischen Veränderung von heute und Deutschland von morgen – schliesst sich die Frage nach der Machart an: In welcher Form lässt sich die Verarbeitung der Langzeitbeobachtung weiterführen? Denn eine Langzeitbeobachtung, die sich immer wieder als Bestandesaufnahmen in jeweiligen Dokumentarfilmen niederschlägt, ist auch ein Stück Geschichte des Dokumentarfilms.
In der Machart drückt sich die Sichtweise des Autors aus. Die bisherigen Filme sind, wenn auch mit kritischen, nachdenklichen Tönen – besonders im Kommentar, in fluktuierenden Bildern und Schnittkonstellationen – aus einer positiven Sicht der DDR heraus gedreht. Es geht um die Bestätigung der sozialistischen Wirklichkeit mit Zukunftsanspruch. Im Rahmen dieser abgesicherten Wirklichkeit lässt sich auch über Widersprüche, Unzulänglichkeiten, Schwierigkeiten sozialer und wirtschaftlicher Art nachdenken. In den Personen selbst, im Prozess des Jugendlich- und Erwachsenwerdens der Kinder von Golzow ist zwar das Thema der Veränderung angelegt und wird auch mehrmals angesprochen. Doch es geht vielmehr um die Erfüllung von Träumen im beruflichen und persönlichen Leben als um gesellschaftliche Neuorientierung. Frustrationen werden individualpsychologisch bezogen und sind ohne gesellschaftliche Relevanz. Der äussere Rahmen heisst Frieden, der innere Kreis schliesst sich um Beruf und die kleine Karriere, um Militärdienst, Arbeit im Kollektiv, Wohnung und Ehe. Nüchtern, schmucklos, sehr ernsthaft, nicht ohne Poesie, mit diskreter Anteilnahme, fern jeglicher Verletzungen und ironischer Brechungen werden die Altersstufen, die Themenbereiche und selbst die Andeutungen von erzählerischen Schicksalsgefügen aufeinander bezogen und inhaltlich verwoben.
Die
Sichtweise des Autors ist die des DEFA-Dokumentarfilms: einfühlsam,
materialbezogen, dem Menschen in seinem Alltag, besonders in seiner Berufswelt
zugewandt, werkstattverpflichtet – zwinglianisch (die Wahlverwandtschaft zwischen
DDR- und Zwingli-Geist wäre auch ein Thema). Junges und Leopolds
Dokumentarfilme erinnern mich stark an die englischen Dokumentarfilme der
Grierson-Schule: die soziale Bezogenheit, die Ernsthaftigkeit, die moralische
Perspektive auf eine bessere Welt hin – nur waren die Filmemacher der Grierson-Schule
experimentierfreudiger, innovativer, filmästhetisch betonter.
Meines Erachtens sollte gerade diese Art von Dokumentarfilmen weitergeführt
werden – in der Zeit der Wende und im Hinblick auf einen Konsum-Kapitalismus
hin. Es wäre schade, wenn jetzt die Satire käme, Belächelung früherer
Ernsthaftigkeit, die Ironie angeblicher historischer Distanz, so wie einst
Staudte im Wechsel von Ost- zur Westzone, von den MÖRDER SIND UNTER UNS zu den
ROSEN FÜR DEN STAATSANWALT filmkonsumfreundlich korrumpierte. Es wäre schade,
wenn die deutsche Einigung sich im ästhetischen Wandel als journalistische
Reportagehaftigkeit im Stil gut moderierter Magazinitis niederschlüge,
Fernsehglätte entstünde und Eurofreundlichkeit.
Gestern, heute – morgen. Das Gestern ist gedreht. Junge selbst weist anhand eines begabten Knaben – Winfried –, der Erfinder werden wollte, auf die Thematik hin, falls Winfried ein grosser Wissenschaftler werden würde, gäbe es, was stets fehlte, Filmbeobachtungen aus der Kindheit und Jugendzeit. Jetzt muss er nur noch ein grosser Mann werden. Es zeigt sich die Notwendigkeit, das Heute und das Morgen zu filmen, damit die Beobachtungen des Gestern in der historisch-soziologischen Perspektive aufgeht. Dies umso mehr, als es sich bei den KINDERN VON GOLZOW um historischen Alltag handelt, um die orale Geschichte der kleinen Leute, die jedoch Ausdruck sind für Zeit und Landschaft, für eine historische Situation und ihre Befindlichkeit.
Golzow ist eine Landgemeinde bäuerlicher Prägung, 80 Kilometer östlich von Berlin, im sogenannten Oderbruch. In der Nähe liegt der städtische Ort Frankfurt an der Oder. Von Golzow heisst es, zwei Ochsen vor dem Flug, einer dahinter – am Ende des Films sagt Junge: "Unser Bericht geht zu Ende. Wir berichteten vom Leben in unserem Land. Vom Leben im Durchschnitt. Von gewöhnlichen Leuten. Das Beispiel war Golzow. Sicher gibt es interessantere. Das macht die Dinge im Oderbruch vielleicht kleiner, aber nicht klein. Warum Golzow? Warum nicht Golzow? – Dass Frieden bleibt. Dass wir wiederkommen können." Mit solchen Sätzen ist auch die Patina der Sprache, die auch den Klang der Bilder ausmacht, festgelegt.
Zwar steht 1961 der Mauerbau am Anfang des Films, was als Erfahrung gesicherter Grenzen eingebracht, sich mit der Hoffnung verbindet, dass jetzt Friede sei. Die Geistesregulierung ist DDR-artig und somit auch historische Quelle offiziöser Meinung: Der Weg der Kinder von Golzow, von Knaben und Mädchen aus einem Landdorf, in dem noch Tradition und bäuerliche Vergangenheit mit Sinn für Privateigentum und religiös geprägte Moral durchschimmert, in eine kollektivierte und industrialisierte Landwirtschaft und in eine expansiv anwachsende Industrielandschaft mit veränderten Agglomerationen – dieser Weg ist jedoch individualbezogene Lebensgeschichte.
In den DDR-Kontext, der dem offiziellen Befund der Sechziger- und Siebzigerjahre entspricht, setzen Junge und Leupold direkt und ungebrochen die Geschichten von Menschen, die ihren Weg gehen müssen. Geprägt von Kindheit und Jugendzeit, von Schule und Lehre, von Elternhaus und parteipolitischer Jugendgruppe sind ihre Fixpunkte Ausbildung, Volksarmee, Beruf, Ehe, Kinder, Scheidung und immer wieder die Wohnungssuche. Oder wie es der Spiegel 1983 anlässlich der Ausstrahlung in der ARD schreibt: "Und so entfremdet, wie die Weltpolitik es nahelegt, ist das Drüben uns noch nicht. Schul-Kalamitäten, das Abnabeln vom Elternhaus, der Trott im Job, Hochzeit in Weiss, Fussballfernsehen, Bier, der bürgerliche Hang zum häuslichen Glück samt Kleinwagen und Schrebergarten – vieles von diesem zweimal abendlangen Kennzeichen DDR passt auch zum Kennzeichen D."
Befassen
wir uns im Folgenden mit der filmischen Struktur. Bevor wir uns der Montage der
Bilder, der Verschränkung von Bild und Text und der Frage zuwenden, wie
sich das immense Material zu Porträts bündeln lässt, die als Teil des Ganzen das
offene und verdrängte Menschenbild in einer sozialistischen Gesellschaftskonzeption
wiedergeben, möchte ich auf den Kommentar eingehen. Wir stellten gerade im
neueren und neuesten Dokumentarfilmschaffen fest, dass unter dem Eindruck des
"Direct Cinema" der Kommentar überflüssig wird, da der Zuschauer aufgrund des visuellen
und akustischen Befundes sich selbst seinen Kommentar, seine Sichtweise und
seine Erfahrung schafft.
In LEBENSLÄUFE wird jedoch Junges
Kommentar zu einem entscheidenden Gestaltungselement. Gerade weil die Bilder
trotz poetischen Einschüben oft sehr spröde, sachlich nüchtern, aber im
Erfassen der Situation sehr präzise sind, erhält der Kommentar eine
mehrschichtige Funktion.
- Der Kommentator ist Chronist. Er bezeichnet die Dinge, die zu sehen sind. Zeit und Ort werden stets benannt. Der Zuschauer ist nie im Ungewissen, um welche Altersstufe es sich handelt und um welche Situation es geht. Es entsteht nie ein verschwommener, rein gefühlsmässig sich bindender und bildender Eindruck im Sinne einer allgemeinen Befindlichkeit. Es kommt zu keiner am Nouveau Roman geschulten Äquivalenz der Zeiten. Chronologische Sprünge werden stets als solche bezeichnet und inhaltlich, teilweise auch formal thematisiert.
- Der Kommentar macht die dokumentarische Situation transparent. So wenn Junge sagt: Wir arbeiteten nach Drehbuch. Oder in der Szene mit Gudrun: Sie spielt es uns nach eigenem Drehbuch vor. Oder: Wie Brigitte mit ihrem kleinen Marcel in die Wohnung heimkehrt, lautet der Kommentar: Sie zeigen uns, wie das aussieht. Oder: Wir inszenieren die Szene nach, die vorher stattgefunden hat. Über Elke sagt Junge im Zusammenhang mit einem Interview: Sie liess sich nicht gerne befragen. Heitere Bilder im Porträt von Marieluise kommentiert Junge mit: die Sonnige – die Filmvariante. Oder: Um die Hast, die Ungeduld erklärlich zu machen: Die teuren Filmmeter laufen und ich greife zur nächsten Frage. Oder nach einem Interview: War ich fair zu ihm? "Das geht uns nichts an".
- Unverhofft wird Junges Kommentar brüchig, ganz subtil von der gängigen Sprache abweichend. Risse entstehen. Man horcht unverhofft auf. Es ist dies der brecht'sche Ansatz, da Sprache Distanz, Anregung zur Überlegung schafft.
Zwischen
den Sätzen lässt es sich denken. Sprache montiert sich selbst zur Dialektik. Es
ist am Zuschauer, Einsicht in die Berührungspunkte von Sätzen zu gewinnen. In
gleicher Weise geht Junge auch mit der Montage der Bilder und insbesondere mit
dem Bezugssystem zwischen Bild und Text um.
Ein einziges Porträt ist chronologisch aufgebaut – dasjenige von Ilona, der
Elektronikfacharbeiterin, die als Mitglied der PDJ politisch-ideologische
Arbeit leistet und Kreisleiterin wird: Die Karriere einer Genossin erfolgt in chronologischer
Abfolge. Ist dies Ironie? Ist dies Anpassung an den staatlichen DEFA-Arbeitsgeber,
doch noch ein positives Ende zu finden, auch wenn die Enttäuschung der
Kreisleiterin nicht unausgesprochen bleibt?
Alle
anderen acht Porträts leben von einer teils thematisch, teils emotional bestimmten
Montagestruktur, die durch den permanenten Sprung in den Zeiten die inneren
Zusammenhänge und Kausalitäten deutlich macht. Mit Ausnahme des Porträts
Winfrieds beginnen alle Porträts in der Schulzeit. Und wie sehr auch die
Porträtierten äusserlich erwachsen werden, Beruf, Heirat, Kinder, Wohnung, die
Bilder weisen immer wieder zurück in die Schulstube von Golzow.
Ein Thema taucht immer wieder auf: Inwiefern wird die Berufswahl durch Schulerlebnisse
bestimmt? Verwoben damit ist das Thema der Veränderung von Vorstellungsbildern.
Bernd, der gute Schüler, der Offizier werden wollte, wird im petrochemischen Kombinat
Schwedt Chemiefacharbeiter. Als Lehrling schaffte er sich ein Berufsbild, das
ihn hinter Reagenzgläsern wissenschaftlich forschend fand. Doch: Statt der
Faszination des Laboratoriums erwartet ihn der Kontrollgang durch die Fabrik.
Der Beruf ist ganz anders.
Bezeichnend für Junges Arbeitsweise ist: Während Bernd die Frustrationen des
Berufes andeutet, zeigen die Bilder den Lehrling in seiner animierenden Laborantenwelt.
Die Begegnung mit einer Kollegin führt zu neuen Vorstellungsbildern, die über
die soziale Realität abgebaut werden. Die Realisierung des Privaten scheitert
an der sozialen Wirklichkeit des sozialistischen Staates. Mit zwei weiteren
Paaren wohnen sie in einer Drei-Raum-Wohnung des Werks. Zu den Bildern des
nationalen Jugendfestivals in Berlin stellt der Kommentar fest: "Sie
suchen immer noch eine Wohnung. Jetzt brauchen sie sie wirklich."
Aus dem Spannungsfeld zwischen sozialistischer Feststimmung und informativem
Kommentar wächst die Andeutung einer Kritik an der gesellschaftlichen Realität.
Die Porträts enden stets mit einer Abfolge von Standbildern, die den Werdegang,
den Stationenweg der Porträtierten wiedergeben.
3 LEBENSLÄUFE – DIE GESCHICHTE DER KINDER VON GOLZOW IN EINZELNEN PORTRÄTS (Bernd, 6 Minuten)
Ein ganz anderer Ansatz findet sich im Porträt Brigittes. Sie, die die kleinen Küken liebte, wird Kleintier-Züchterin und zerbricht am Alltag der Arbeit. Erinnerung und nervende Gegenwart werden auch in die Montage von einst und heute übertragen. Junge geht behutsam dem Abbau von Brigittes Selbstbewusstsein nach. Ein Interview mit der 20-Jährigen lässt ein Selbstporträt entstehen, das anhand von Bildern aus der Schulzeit überprüft wird. Sie fand keinen Halt im Kollektiv, weder in der Schule noch später im Beruf. Herzkrank und mehrfach medizinisch falsch behandelt ist ihr nicht zu helfen.
4 LEBENSLÄUFE – DIE GESCHICHTE DER KINDER VON GOLZOW IN EINZELNEN PORTRÄTS (Brigitte I, Anfangssequenz, 5 Minuten)
Mit 17½ Jahren kriegt Brigitte ein Kind. Vom Vater erzählt sie nichts. In der Langzeitbeobachtung von Junge und Leupold lässt sich auch so etwas wie eine Ethnologie der DDR-Gesellschaft finden. Wie sie ihre Feste feiern, die Reden beim Schulabgang, die Rituale der Eheschliessungen oder die Einschulung. Wir bleiben bei Brigitte. Ihr Kind Marcel wird eingeschult: ein grosses Ereignis. Selbst ihre Eltern kommen. Nur der Vater fehlt. Dann erzählt aber der Kommentator die Geschichte zu Ende. Sie fand einen Mann, und jetzt bauen sie an einem Haus.
5 LEBENSLÄUFE – DIE GESCHICHTE DER KINDER VON GOLZOW IN EINZELNEN PORTRÄTS (Brigitte II, 3 Minuten)
Wir schauten uns den Anfang von Marieluises Porträt an, von jenem Mädchen aus christlicher Familie in einer durch die Schule verkörperten, sozialistischen Gesellschaft. Wir kehren mit unserem letzten Ausschnitt zu ihr zurück. Das Private deutet der Film nur an. Eine Liebesgeschichte geht zu Ende – mit Georg, mit dem sie sich so gut verstand und glücklich war. Sie heiratet Steffen, einen Genossen Hauptmann der Luftstreitkräfte, und an der Hochzeit dokumentieren Junge und Leupold ganz unauffällig und doch politisch brisant die Konfrontation zweier Sprachen.
6 LEBENSLÄUFE – DIE GESCHICHTE DER KINDER VON GOLZOW IN EINZELNEN PORTRÄTS (Marieluise II, 3 Minuten)
Dieser Begegnung zweier Welten geht eine sich Zeit lassende Beobachtung der Braut und ihrer Eltern voran. Der gesellschaftlichen Konfrontation, die jedoch menschlich keine ist, wird Hintergrund geliefert.
Filmografie
LEBENSLÄUFE – DIE GESCHICHTE DER KINDER VON GOLZOW IN EINZELNEN PORTRÄTS (DDR 1981) R: Winfried Junge, P: DEFA-Studio für Dokumentarfilme, B: Winfried Junge, Hans-Eberhard Leupold, Idee: Karl Gass, K: Hans-Eberhard Leupold und neun Kameraleute , Ton: 13 verschiedene Tonleute, S: Christel Hemmerling, Charlotte Beck, M: Kurt Grottke, P. Gotthardt, Gerhard Rosenfeld.