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Geschichte, Gestaltung und Formen des Dokumentarfilms

Vorlesung 12: Jean Rouch, CHRONIQUE D'UN ÉTÉ, Chris Marker

Wir schauten uns das letzte Mal verschiedene Filmausschnitte aus Filmen von Jean Rouch – MOI, UN NOIR und JAGUAR – und den ethnologischen Dokumentarfilm LES MAÎTRES FOUS an. Bevor ich auf CHRONIQUE D'UN ÉTÉ, der Übertragung des ethnologischen Dokumentarfilms Rouchs auf die mit "cinéma vérité" bezeichnete Anwendung im soziologischen Dokumentarfilm der eigenen Ethnie eingehe, versuche ich Wesenszüge von Rouchs Dokumentarfilmarbeit zusammenzufassen:
Um Rouchs dokumentarisches Filmverständnis zu verstehen, das über die Kunst des visuellen und akustischen Fabulierens zum Nicht-Darstellbaren – zum Mythos – vorstossen will, ist sein, von seinem Lehrer Marcel Griaule geprägtes Ethnologie-Verständnis einzubeziehen. Eines der ganz grossen ethnografischen Projekte von Griaule und Germaine Dieterlen (das von Rouch und seinen Schülern weitergeführt wurde) ist die Langzeitbeobachtung der Segui-Feierlichkeiten der Dogon. Alle 60 Jahre finden sieben Jahre lang die Segui-Feierlichkeiten in verschiedenen Dörfern statt. Sie galt es, zwischen 1966 und 1973, wissenschaftlich zu beobachten und aufzuzeichnen. Daraus wurde ein zehnstündiger Film, der bis heute einmal öffentlich aufgeführt wurde. Zu den ungelösten ethnologischen Problemen gehört die Festlegung des Datums für den Beginn der Feierlichkeiten. Grundlage bildet die Konjunktion von Sirius und seinem Begleiter Pontolo: Die Konjunktion findet alle 50 Jahre statt, die Feierlichkeiten setzen jedoch nach 60 Jahren ein.

Rouch schildert als Beitrag zu seinen ethnologischen Lehrjahren die experimentelle Zusammenarbeit von Griaule und Dieterlen mit alten Dogon-Informanten und erzählt anschliessend folgende Geschichte:

Wir wollten schon die Felswand verlassen, um an den Fluss zu gehen, als Griaule eines Abends – er war gross in Form – eine Bilanz seiner derzeitigen Untersuchungen zog. Er sprach nicht von seiner Methode, nicht einmal von den Angriffen auf ihn, derer er müde war, sondern von ganz einfachen Tatsachen, die ihm schwierige Probleme stellten. Es ging um die ersten Informationen über den Pontolo, den "Begleiter des Sirius", jenen winzigen Satelliten, der von den Dogon mit dem ersten Korn wilden Fonios gleichgesetzt wurde, dem kleinsten Samenkorn, das es gibt. Die Konjunktion von Sirius und seinem Begleiter soll den Dogon dazu gedient haben, das genaue Datum der alle sechzig Jahre stattfindenden Segui-Feierlichkeiten festzusetzen. Ich war überrascht von diesen astronomischen Kenntnissen der Dogon; die Menschen vom Fluss waren für gewöhnlich gerade in der Lage, am Himmel die Albora-Konstellation, "den Mann", Orion, auszumachen. Doch als Griaule mit einem kleinen geheimnisvollen Lächeln sagte: "Das Seltsame an dieser Sache ist, dass der Begleiter des Sirius für das blosse Auge unsichtbar ist", konnte ich nicht umhin, ihm zu entgegnen: "Dann ist doch jede Beobachtung unmöglich, und folglich kann die Finsternis des Sirius und seines Begleiters auch nicht das Datum der Segui-Feierlichkeiten bestimmen ..." Griaule antwortete nicht sofort; er sah mich spöttisch an und sagte nur: "Ich weiss, es ist schwer, so etwas zu akzeptieren, aber wenn Sie es nicht akzeptieren können, werden Sie nie ein Ethnograf sein ..."
Und an diesem wunderbaren Augustabend in Sangha wusste ich, dass dieser Mann mein Vater hätte sein können, dass er nicht scherzte, dass er auf meine Unsicherheit mit seiner Sorge um mich antwortete, und dass er Recht hatte, dass genau das Ethnografie ist: sich von seinen eigenen Denksystemen zu lösen, um zu versuchen, die Denksysteme des anderen zu begreifen ...

Das Imaginäre, Unvorstellbare, sich jeder kritischen Vernunft Entziehbare erfassen, ist die Voraussetzung ethnografischer Arbeit. Sich von den eigenen Denksystemen befreien, um die Denksysteme anderer zu begreifen, ist der ethnologische Prozess. Ein Film wie LES MAÎTRES FOUS entzieht sich jeglicher Rationalisierung. Und gerade deshalb ist der Film das Instrument, das nicht Nachvollziehbare visuelle und akustische Realität werden zu lassen.
Deshalb lehnt Rouch auch jegliche Form von Rationalismus ab, so insbesondere den Strukturalismus in der Ethnologie, den er wie die Filmsemiotik als szientistisch bezeichnet. Ihm geht es darum, den Standpunkt der Menschen der betreffenden Kultur zu verstehen, zu verstehen, wie sie ihre eigene Welt sehen, und dies ist zugleich der Prozess dokumentarfilmischer Arbeit.

Wir sind mehrere, die glauben, dass die Strukturalisten szientistische Methoden praktizieren. Die Humanwissenschaften sind etwas ganz besonderes: Wie Marcel Mauss gesagt hat, hat der Beobachter per definitionem und notwendigerweise die Rolle eines Störenfrieds. Es ist klar, dass die Tatsache, mit Menschen zu sprechen, sowohl mich als auch die anderen völlig unsicher macht. […] Ich habe das Gefühl, dass die Strukturalisten versuchen, diese vermeidliche Störung zu verbergen, indem sie menschliches Verhalten auf eine begrenzte Anzahl von vornherein gegebener Themen und Strukturen zurückführen wollen. Man will um jeden Preis die Realität in eine bestimmte Anzahl von Schubladen stecken. […] Man darf aber nicht aus den Augen verlieren, dass man menschliche Wesen untersucht, bei denen es so viele Unbekannte gibt, die man nicht in Schubladen stecken kann.
(Rouch 1971a, S. 94f.)

Der Beobachter hat die Rolle eines Störenfrieds. Auf diese Weise sieht auch Rouch seine Kamera. Einerseits beobachtet sie, anderseits löst sie durch ihre Anwesenheit auch aus. So heisst für Rouch "cinéma vérité" nicht einfach beobachtendes "Direct Cinema", wie es Leacock versteht, sondern da die Wahrheit nicht sichtbar ist, entwickelt Rouch die Idee einer provozierenden Kamera, welche die Wahrheitsfindung ermöglicht. Das an sich störende Element wird produktiv, kreativ.

Ich zitiere im folgenden Eva Hohenberger, die in ihrer Untersuchung "Die Wirklichkeit des Films" den Erfahrungen Rouchs mit Besessenheitstänzen nachgeht, wonach "die Wahrheit am Zustand der Trance nicht in den Gebärden der Besessenen – dem einzig Beobachtbaren – liegt, sondern in der Kommunikation mit den Göttern". Diese Rolle übernimmt die Kamera, um die Wahrheit zum Ausdruck zu bringen. So spricht denn Rouch von "ciné-trance" als Arbeitsweise, die sich auf intuitive Weise und ganz im Sinne des surrealistischen Vertrauens in die unkontrollierte Kreativität des Unterbewussten, dem "objektiven Zufall" anvertraut. Daraus wächst, fernab von ethnologischen und filmischen Theorien, rationalen Überlegungen und Kriterien entzogen, antiszientistisch und antistrukturalistisch das heran, was Rouch die "Barbarei des Erfindens" nennt.
Der Filmemacher verwandelt sich in der "ciné-trance", wenn er filmt. Ich zitiere Eva Hohenberger:

Er sieht nicht mehr mit seinen nichtfilmischen Augen, sondern mit "Kino-Augen", er hört nicht mehr mit seinen Alltagsohren, sondern mit "Kino-Ohren". Ist der Beobachter eines Ereignisses Ethnologe, dann "ethno-denkt" und "ethno-beobachtet" er, tut er dies mit der Kamera, dann "ethno-kino-sieht" und "-denkt" er. Diesen Zustand der Verwandlung des Filmemacher-Ethnologen hat Rouch als "ciné-trance" bezeichnet. Ciné-trance setzt die engstmögliche Verbindung von Filmemacher und Gerät voraus, ihre Symbiose zu einem "geschlossenen, miteinander verbundenen System" (Rouch 1978b, S. 25), das die Technik personalisiert und die Person technisiert, so dass beide zu einer Art "Maschine" werden, die beispielsweise ein Interview führen kann, in dem der Befragte sich an den Fragenden und die Kamera zugleich richtet.
(Hohenberger, S. 254 f.)

Schauen wir uns auf diesem Hintergrund Rouchs Kameraarbeit näher an. Sie ist durch eine wilde anarchische Subjektivität geprägt. Die Kamera ist die subjektiv autoritär erzählende Instanz. Dabei ist Rouch mit seiner Kamera wie besessen im Geschehen selbst drin. Die Kamera entspricht der natürlichen Wahrnehmung, die sich vom Momentanen, Spontanen bestimmen lässt. Rouch versteht sich als "Magier des Augenblicks", der Wechsel der Kadrierung ergibt sich nicht aus dem Objektbezug, sondern manifestiert die subjektive Sicht des Kamera-Auges, das heisst des Kamera-Autors. Die Körper und Dinge sind in Bildfragmente aufgesplittert. Die Kadrierung schneidet ab, zentriert Bewegungen, Einzelteile, Farbreflexe. Plastizität entsteht durch Unschärfe, ins Bild ragende Körperteile. Schwenks brauchen keine Motivation, sie sind nicht Teil behutsamer Beobachtung, sondern Ausdruck unmittelbaren Handelns der Kamera.
Rouch spricht denn auch immer wieder von der Einheit von Kameramann und der Kamera in Bewegung. In Nanterre lässt er seine Studenten Körperschulung und Yoga treiben, denn Filmen hat nach Rouch mit dem sinnlichen Erleben von Körperlichkeit zu tun. Rouchs filmische Fabulierlust weist sich in einer Kameraarbeit aus, die sich aus einer Symbiose von Körper und Kamera ergibt.

In Rouchs Filmen entsteht ein Höchstmass an Authentizität, aber nicht über Abbildung, sondern über Vermittlung. In dem Sinne ist seine subjektivistische Kameraarbeit interkulturelle Kommunikationsarbeit, um über die Arbeit mit der Kamera an die andere Kultur heranzukommen. Das Gleiche lässt sich auch anhand seiner Tonarbeit nachweisen. Das Überborden der Tonspur, das Gewirr von Stimmen, von Originalton und Kommentar, die Toninszenierungen sind im gleichen Sinne "ciné-trance" wie die Kameraarbeit, die sich an keine Regeln hält und nur von der Unmittelbarkeit subjektiver Erfahrung lebt.
Wie bei Leacock lässt sich auch bei Rouch eine ganze Geschichte der Tonentwicklung, die aufs Engste mit dem Kampf um technische Innovationen verbunden ist, verfolgen. Seine ersten Filme drehte er stumm, was zu grässlichen, dem damaligen Dokumentarfilm entsprechenden Vertonungen führte. 1951 nimmt er ein 30 Kilo schweres Tonbandgerät mit, um mindestens Originaltöne aufnehmen zu können.

Aus der Not, nicht mit Synchronton arbeiten zu können, entwickelt Rouch in der Folge jene Toncollagen, wie wir sie letztes Mal an Filmen wie MOI, UN NOIR und JAGUAR verfolgen konnten. Neben dem durch Rouch selbst gesprochenen Kommentar, den Originaltönen an Geräuschen, Musik und fremdklingenden Stimmen, wird der stumm vorgeführte Rohschnitt von den Gefilmten nachträglich kommentiert. So werden zum Beispiel die nicht synchronisierten Dialoge einer unbekannten Sprache in einer stimmlichen Inszenierung in die Sprache des Zuschauers übersetzt. Mit nur einer Stimme wird geradezu animistisch das Gespräch beschworen. Rouch ist gegen jegliche Form von Untertitelung. In der stimmlichen Nachinszenierung glaubt Rouch jenes Mittel finden, das am ehesten erlaubt, über Ton und Kommentar zu vermitteln, was als unsichtbare Wahrheit sich in der Aura der Authentizität abspielt. Der provokativen Kamera entspricht die Spontanität tonlicher und stimmlicher Unmittelbarkeit eines nachinszenierten Kommentars.

Schauen und hören wir uns zur Illustration ein Beispiel an. In MOI, UN NOIR arbeiten Oumaru Ganda alias Edward G. Robinson und Eddie Constantine als Taxifahrer und Tuchverkäufer. In der Nacherzählung entwickelt Oumaru Ganda die Dialoge von sich und seinen Kameraden. Im akustischen Hintergrund ist der Originalton, auch die Originalsprache noch wahrnehmbar. Die vermittelnde Nachdialogisierung wirkt möglicherweise vitaler als abbildmässiger Originaldialog mit Untertitelung.

1 MOI, UN NOIR (3 Minuten)

JAGUAR endet mit der vollen Gegenwart der Grossaufnahme einer jungen Frau und der vollen Präsenz der Sprache. Der Kommentar der beiden Freunde ist zugleich Dialog zwischen ihnen und Dialog mit der Frau. Dies als ganz kleiner Ausschnitt, um die Kleinstruktur von Rouchs Arbeit mit dem asynchronen Ton aufzuzeigen, der entstand, weil ihm die Synchronität nicht geriet.

2 JAGUAR (2 Minuten)

In LA PYRAMIDE HUMAINE, einem bereits eher soziologisch ausgerichteten Film über schwarze und weisse Studenten und Studentinnen in Abidjan, versuchte Rouch mit synchronem Originalton zu arbeiten. Der Versuch scheiterte und die spontanen Tonimprovisationen mussten Satz um Satz im Studio mit Weissen nachsynchronisiert werden. Selbst CHRONIQUE D'UN ÉTÉ (1960) war noch kein durchgehender Synchrontonfilm, obwohl ein Nagra-Gerät und das vom kanadischen Dokumentarfilmer Michel Brault mitgebrachte Krawattenmikrofon durchgehende Synchronpassagen ermöglichte. Erst 1965 entstand mit LE GOUMBÉ DES JEUNES NOCEURS der erste vollständige Synchrontonfilm.

Auch die Entwicklung der von Rouch benutzten Kameras spiegelt den Kampf um filmische Unmittelbarkeit und Spontaneität. Seine erste Kamera war eine Bell-and-Howell-Handkamera mit Handaufzug von 20 Sekunden Länge. Die elektrischen Kameras erlaubten Ende Fünfziger Jahre längere Einstellungen, aber für LA PYRAMIDE HUMAINE brauchte Rouch noch einen umständlichen Blimp. Für LA CHRONIQUE D'UN ÉTÉ wiegt die Arriflex noch zehn Kilo.
Michel Brault, der kanadische Kameramann, bringt Rouch eine geblimpte, aber tragbare Arriflex mit. Aus der Zusammenarbeit mit der Firma Eclair entsteht schliesslich eine sechs Kilo schwere Handkamera mit Magazinen für drei Minuten Filmdauer. 1971 vermag Eclair mit der ACL endlich die Bedürfnisse Rouchs momentan zu befriedigen. Denn Rouch wendet sich nun teilweise in Zusammenarbeit mit Leacock der Super-8-Technik zu, die er besonders für den Aufbau einer afrikanischen Filmkultur propagiert. Doch die Industrie zeigt kein Interesse, den Super-8-Film zu professionalisieren. Die Video-Technik lehnt Rouch weitgehend ab.

Rouch arbeitet mit kleinen Brennweiten, was vom Kameramann eine unmittelbare Nähe zum Objekt erfordert. Er lehnt Teleobjektive ab, ebenso das Zoom. Er tritt insbesondere im Rahmen des ethnologischen Films für den Farbfilm ein, da die fremden Kulturen, wie er beobachtete, den Schwarz-Weiss-Film als eine visuelle Abstraktion weisser Kultur schlecht verstehen. Ich zitiere Rouch: "Farbe ist das Leben. Die Welt ist farbig. Die Farbe zu unterdrücken heisst, der Weisse zu sein, der sich hinter seinen Schriften verschanzt" (zitiert nach Hohenberger, S. 240).

Der Begriff "cinéma vérité" wird 1960 von Edgar Morin, dem Soziologen, zum ersten Mal in einem Bericht über das "Festival dei Popoli" in Florenz gebraucht. In der Auseinandersetzung mit den amerikanischen Autoren, die "cinéma vérité" mit "Direct Cinema" und "unkontrollierten Dokumentarfilm" übersetzten, beginnt eine bis heute andauernde terminologische Verwirrung. Bereits CHRONIQUE D'UN ÉTÉ nannten Rouch und Morin "nouveau cinéma vérité" und setzten sich dabei von Wertow ab, vom dem sie "Kino-Prawda" als Begriff übernommen hatten. Doch Wertow filmt heimlich, hinter den Büschen, aus dem Zufall der Beobachtung heraus. Sein Auge überrascht die Welt. Bei Rouch und besonders auch in der Zusammenarbeit mit Morin erhält die offene Anwesenheit der Kamera die Funktion einer kreativen Provokation und wird Kennzeichen des "cinéma vérité", das heisst des "nouveau cinéma vérité".

Als Auslöser, als Provokateur sieht Rouch auch seine Rolle als Autor. In LA PYRAMIDE HUMAINE – 1959 in Abidjan gedreht – weist eine Schrifteinblendung auf den Vorgang hin: "Dieser Film ist ein Experiment, das der Autor in einer Gruppe von schwarzen und weissen Heranwachsenden provoziert hat. Als das Spiel in Gang gebracht war, hat sich der Autor damit begnügt, seinen Fortgang zu filmen" (zitiert nach Hohenberger, S. 201).
Im gleichen Jahr wie MOI, UN NOIR kommt 1960 CHRONIQUE D'UN ÉTÉ in die Kinos. Und wie bei LA PYRAMIDE HUMAINE eröffnet Rouch den Film mit einer programmatischen Erklärung, diesmal in Schwarz-Weiss – denn wir sind im Kulturraum der Weissen.

3 CHRONIQUE D'UN ÉTÉ I (Anfang der Sequenz, 1 Minuten)

CHRONIQUE D'UN ÉTÉ ist eine filmsoziologische Untersuchung über die Befindlichkeit von Menschen im Sommer 1960. Der Film will über Interviews, Kollektivgespräche, Beobachtungen des privaten und öffentlichen Lebens das Klima einer bestimmten Zeit in Paris erfassen. Es ist die Zeit des Algerienkriegs, der Kongo-Wirren, die Zeit militärischer Interventionen der Kolonialmächte – eine Zeit, die in nachexistenzialistischer Manier teilweise bereits "68" emanzipatorisch-anarchisch antizipiert: St. Tropez, modisch zwar, spielerisch, Gott schuf das Weib, und so geht man nach St. Tropez, wo alle Mädchen gleich aussehen, blond mit Chiffon-Tuch wie Brigitte nationale und das Wort "merde" gesellschaftsfähig wird – als eine etwas stärkere Betonung eines Lebensgefühls, das schon Baudelaire dandyhaft exhibitionierte: "l'ennui" – Langeweile.
Gespräche bei gleichzeitiger naher Anwesenheit der Kamera und ihres Autors sollen helfen, Menschen und ihre Zeit visuell-akustisch zu erfühlen. Grundlage bildet eine soziologische Feldarbeit mit der Fragestellung: Wie leben Sie? – Sind Sie glücklich? So führt im folgenden Beispiel diese banale Fragestellung zum Diagramm einer Beziehung, die trotz ihres äusseren Anscheins von Einverständnis sich auseinander spricht. Die Wohnungsfrage als gewichtiges Problem des damaligen – und heutigen – Paris führt bei der Frau zur vehement geführten Diskussion über Flöhe, die bei dem Bekenntnis endet: Was ihr fehle, sei Geld, während der Mann unter der Monotonie seines Lebens leidet. Achten Sie auf die unglaubliche Nähe der Kamera in der intimen Gesprächssituation.

4 CHRONIQUE D'UN ÉTÉ II (Paar, Flöhe, 5 Minuten)

Ganz ins Persönliche vorstossend, aufdeckend wird das Gespräch mit Mary Lou noch intimer, innerlicher. Aus einer bürgerlichen Familie in Italien ausgebrochen liess sich Mary Lou in Paris nieder, um sich selbst zu finden, was ihr alles einbrachte, Alkohol, Männer, Einsamkeit, aber nicht sich selbst. Rouchs Kamera kadriert Mary Lou in einer Grossaufnahme. Ihre Geschichte ist zugleich die Geschichte einer Grossaufnahme. Biografie und Befindlichkeit setzten sich um in filmische Vermittlung. Inhalt äussert sich in Form, was Rouchs Vorstellung von "ciné-trance" entspricht. Besessenheit als Vermittlung von Wahrheit.
Die Grossaufnahme als Transaktion einer Biografie verliert ihren Abbildcharakter und wird Erzählung einer im Gesicht eingeschriebenen, sich laufend verändernden Geschichte – eine Geschichte, die lautlos in stumme Tränen erstickt, untergeht, und zugleich anwesend bleibt. Ganz im Sinne von "ciné-trance" löst sich nach der Besessenheit die Spannung. Ein eigenartiges sphinxisches Lächeln breitet sich über das Gesicht, sodass man sich fragt, woran denkt Mary Lou, wovon träumt Mary Lou, weshalb wirkt Mary Lou nach diesem Gespräch glücklich? Die Frage taucht auf, inwiefern die Anwesenheit der Kamera eine Wahrheitsfindung auslöste. Die provokative Kamera erhält die kreative Funktion, in die seelische Erlebnislandschaft eines Menschen einzudringen, die sich inhaltlich physisch auf der Leinwand formal in einer Grossaufnahme vollzieht.

5 CHRONIQUE D'UN ÉTÉ III (Mary Lous Grossaufnahme, 5 Minuten)

Dem Weg nach innen, in die persönliche Intimität setzen Rouch und Morin Kollektivdiskussionen entgegen, die Themen wie Arbeitsmonotonie, Klassenkampf, Algerienkrieg, Wirren im Kongo und Rassismus aufgreifen. Ich zeige Ihnen einen Ausschnitt aus einer solchen Kollektivdiskussion, die ungemein direkt geführt wird. Marceline, in die sich Joris Ivens in diesem Film verliebte, bekennt sich zu ihrer Schwierigkeit, mit Schwarzen umzugehen – sie, Marceline, die als jüdische Deportierte selbst Opfer des Rassismus wurde, auf ihrem Arm die Lager-Nummer eingraviert trägt und sich selbst als nicht rassistisch definiert. In dieser Situation spielt sich ab, was wirklich den Namen "cinéma vérité" als Akt eines Bewusstseinsprozesses verdient. Rouch fragt Landry, den Schwarzen aus Guinea, ob er wisse, was die Nummer auf Marcelines Arm bedeute. Er weiss es nicht. Rouch klärt auf.

Die Wahrheit lässt die schwarzen Teilnehmer verstummen, die den selbst erlebten Rassismus in der Geschichte einer weissen Jüdin wiederfinden. Sie, die Schwarzen, kennen Ausschwitz aus Alain Resnais' Dokumentarfilm NUIT ET BROUILLARD. Resnais' Film assoziiert Marcelines Wahrheitswirklichkeit. Kolonialismus und Antisemitismus werden auf der Leinwand in der Gegenwärtigkeit unmittelbar gefilmter beobachteter Lebensgeschichte greifbar nah. Das Bild des verstummten, um die Sprache gebrachten Landry sagt mehr aus als alle Theorien über Kolonialismus und Antisemitismus.
Bruchlos, nur durch die innere Klammer gehalten, geht die Szene über in einen Monolog Marcelines. Die Kamera folgt ihr über die sonnige Helle der Place de la Concorde hinein in die Eisen-Träger-Dunkelheit der Markthallen, wo im Jahre zuvor Alain Resnais ebenfalls eine entscheidende Sequenz von HIROSHIMA, MON AMOUR gedreht hat. Marceline erzählt in sich versunken ihre Geschichte, die Geschichte ihrer Deportation – das kleine Mädchen mit ihrem Vater. Sie erzählt ihre Liebesgeschichte mit ihrem Vater.
In einer späteren Diskussion im Film wird ihr und den Autoren vorgeworfen, sie habe gespielt, und sie wird antworten, ich habe nicht gespielt. In diesen beiden Sequenzen vermittelt sich, was Jean Rouch unter "cinéma vérité" versteht: Konfrontieren und Erzählen legen bloss, was sich hinter dem dokumentarischen Abbild findet.

6 CHRONIQUE D'UN ÉTÉ IV (Rassismus-Diskussion)

7 CHRONIQUE D'UN ÉTÉ V (Marcelines Monolog)

"Das ist die Schwierigkeit, etwas mitzuteilen" war der letzte Satz in CHRONIQUE D'UN ÉTÉ. Vermittlung als Akt des Mitteilens ist das eigentliche Thema von Rouchs Vorstellung des "cinéma vérité". Nicht Abbilden, sondern Vermitteln. In die Kultur der Anderen einsteigen, auch wenn sie noch so unverständlich ist, war schon sein Traum des ethnologischen Film.
Mit Mary Lou wird das Gespräch wieder aufgenommen. Musik und Ball-Tanz-Berührung signalisieren ihre Veränderung. Sie hat den Weg zu den Menschen wieder gefunden, was ihr Leben zurück gab, Begegnung ermöglichte. Rouch filmt dies als Geschichte zweier Hände. So einfach lässt sich eine Veränderung dokumentieren. Es ist zugleich ein Beispiel für Rouchs Kameraführung: die Einheit von Kamera-Autor und Kamera.

8 CHRONIQUE D'UN ÉTÉ VI (3 Minuten)

Am Ende des Films erfolgt eine Nachbearbeitung des Films. Die Teilnehmer schauen sich den Film und sich selbst an und sie werden wiederum in ihren Reaktionen gefilmt. Sie fühlen sich gegenseitig betroffen, bezweifeln die Authentizität gerade dort, wo Authentizität stattfand – zum Beispiel bei Marcelines Monolog in das Krawattenmikrofon hinein. Das Wort Schamlosigkeit taucht immer wieder auf. Auch die Kinder werden gefragt. Sie Antworten: Chaplin sei besser. Und Morin fragt recht ungeduldig nach, wie sie ihre eigene Szene – sie kletterten und sangen in der Ferienkolonie ein Lied – beurteilen, ob es wahr oder nicht wahr sei. Ein 12-jähriges Mädchen antwortet: Vor der Kamera kann man nicht lügen. Der Film endet mit einem Gespräch zwischen Rouch und Morin. Sie sprechen über die Rezeption des Films. Denn in der Rezeption soll das dokumentarische Suchen nach Wahrheit aufgehen.
Rouchs "cinéma vérité" will über Vermittlung und Kommunikation Einblicke und Einsichten auslösen. Deshalb versteht Rouch Kamera und Ton als provokative und kreative Elemente filmischen Gestaltens im Dokumentarfilm. Diesen Anspruch stellte Leacock mit seinem "unkontrollierten Film", seinem "Direct Cinema" nicht. Er verblieb im Abbildhaften.

Ich zeige Ihnen im Folgenden ein Beispiel, das "Direct Cinema" – "cinéma direct", "unkontrollierten Film" mit "cinéma vérité" verbindet: LA REPRISE DU TRAVAIL AUX USINES WONDER (1968). In einer einzigen zehnminütigen Einstellung wird eine Gruppe von Arbeitern gefilmt, die darüber diskutieren, ob sie ihren Streik beenden und ihre Arbeit wieder aufnehmen sollen. Am Ende der Diiskussion, das heisst am Ende des Films, nehmen sie ihre Arbeit wieder auf.
Reines "cinéma direct", ohne Schnitt, ohne Montage, eine einzige dokumentarische Plansequenz. Die Montage ist der bildimmanente Schlagabtausch der Sätze – ist die Dialektik der Diskussion. Die Tonkamera steht dabei, schaut hin, hört mit, als wäre sie Teil der Gruppe. Unkontrollierter Film, bei dem man nicht weiss, was die nächste Sekunde bringt – Beobachtung einer nicht wiederholbaren Handlungswirklichkeit. Doch die Frage stellt sich, inwiefern durch die bewusste Anwesenheit der Kamera die unkontrollierte Inszenierung einer Befindlichkeit entsteht. Die Anwesenheit, der Kamera provoziert die Darstellung einer Entscheidung und vermittelt auf diese Weise die Wahrheit, welche hinter der Diskussion steht. Die Arbeit muss wieder aufgenommen werden. Zugleich wird die Darstellung der Entscheidung ans Bewusstsein des Zuschauers delegiert. Im Sinne einer politischen Stellungnahme ist es am Zuschauer, mitzuentscheiden, ob die Arbeit hätte wirklich wiederaufgenommen werden sollen – ob die Verhandlungen wirklich einen Sieg bedeuten oder nur ein Mittel, Zeit und Atem für die Weiterführung des Klassenkampfes zu gewinnen.

9 LA REPRISE DU TRAVAIL AUX USINES WONDER (10 Minuten)

Der Film stammt aus der von Chris Marker 1967 geschaffenen Filmcooperative SLON – der "Société pour le lancement des ouevres nouvelles".
Ziel war, in kooperativer Zusammenarbeit aktivistische Filme zu drehen. So entsteht zunächst einmal 1967 der Antivietnam-Film LOIN DE VIETNAM. Dann will die Produktionsgruppe den Betroffenen die Stimme leihen, den Dokumentarfilm zum Instrument der Betroffenen erklären. Konkret heisst dies, die Filmautoren filmen nicht mehr über die Arbeiter, sondern sie filmen mit den Arbeitern, schliesslich filmen die Arbeiter selbst. Die Betroffenen übernehmen die filmischen Produktionsmittel.

Wenden wir uns Chris Marker zu, dem subjektivsten aller Dokumentarfilmer, der in einer Mischung von Intellektualität und Sinnlichkeit sich und seine eigenen Dokumentarfilme immer wieder infrage stellt, sie aufhebt, um neu sich auf die Welt einzulassen.
Chris Marker: Christian François Bouche-Villeneuve, dit Chris, geboren 1921 in Belleville, in Neuilly-sur-Seine, in Oulan-Bator, irgendwo auf dieser Welt. Er ist engagierter Zeitgenosse, der sich als Journalist, Filmkritiker, Essayist, Trickfilmer, Dokumentarfilmer, Schriftsteller, Poet, Aktivist, Globetrotter, Fotograf, Verleger den Zeitläufen aussetzt, überall fotografiert und filmt, wohin es ihn als leidenschaftlich Reisender verschlägt – Nordamerika, Kuba, Sibirien, China, Japan, Israel und immer wieder Paris. Er beobachtet die Wirklichkeit, unruhig, seismografisch, irritiert. Er vergleicht, stellt in historische Zusammenhänge, ist weniger Fabulierer wie Rouch als vielmehr Causeur, geistreich, unterhaltend, witzig, verunsichernd. Er bezieht Stellung. Und Stellung beziehen heisst für ihn, heute infrage stellen, was gestern ihm sicher erschien, im Wissen darum, dass morgen wiederum alles anders sein wird. Ein Reisender zwischen Orten, zwischen den Zeiten. Ein Rastloser, der die Wirklichkeit als subjektive Erfahrung erlebt. Von keinem französischen Dokumentarfilmer wurden so viele Filme verboten, sodass Marker in seinen "Commentaires" textlich publizieren musste, was als filmisches Bild realisiert worden war.

Leacock sagt von ihm:

Nach meinem ganz persönlichen Eindruck ist Chris Marker im Grunde kein Dichter, nicht einmal ein Schriftsteller; er ist ein Essayist, ein Schulprofessor, was dasselbe ist; ein guter Lehrer sollte ein Essayist sein. Er sieht sich etwas an, denkt darüber nach, und dann macht es ihm Spass, den Leuten zu erzählen, was seiner Meinung nach vor sich geht. Und ob das dann gut oder schlecht wird, hängt davon ab, ob Chris Marker gut in Form ist oder nicht. Im Grunde hält er illustrierte Vorlesungen.

André Bazin sieht es andres: "Chris Marker gehört zu der neuen Generation von Schriftstellern, die glaubt, dass die Zeit des Bildes gekommen ist, dass man aber dem Bild nicht die Sprache opfern muss."
Über Chris Marker sagt Alain Resnais: "Chris Marker ist der Prototyp des Menschen des 21. Jahrhunderts ... Man sagt: die Methode von Leonardo da Vinci. Vielleicht wird man bald sagen können: die Methode von Chris Marker." Dem ist nur noch Henri Michauxs Apotheose beizufügen: "Die Sorbonne muss niedergerissen und an ihren Platz Chris Marker gesetzt werden."

Wir planten, Chris Marker im Rahmen der Lehrveranstaltung zu einer Gastvorlesung einzuladen. Dabei schickten wir ihm, wie wir es von der Lehrveranstaltung über den sowjetischen Film und die Perestoika her bereits gewohnt waren, zwecks perfekter Organisation einen Fragebogen, damit ja nichts schief geht. Er lehnte die Einladung ab, und ich lese Ihnen den Brief vor, der aufzeigt, dass die Einladung richtig gewesen wäre, wenn er gekommen wäre.

Cher Monsieur,
Plutôt que de remplir un Fragebogen, ce qui m'évoque de mauvais souvenirs, je préfère vous adresser une réponse, disons, personnalisée ... Et d'abord vous remercier de votre flatteuse invitation, MAIS vous préciser aussitôt que je suis biologiquement incapable de faire une conférence 1. en général 2. particulièrement sur ce que vous avez la bonté d'appeller mes oeuvres. Les petits travaux que j'ai pu faire ici ou là sous forme de films – et qui sont loin de représenter la part la plus importante de mes activités – appartiennent maintenant à ceux qui peuvent y trouver quelque intérêt, moi j'ai joué mon rôle, je n'ai plus rien à dire, je suis comme l'entremetteur de Shakespeare qui, une fois la rencontre provoquée, s'eclipse discrètement sur la pointe des pieds.
Par ailleurs, je crains de n'avoir aucune vision du film documentaire ...
Avec mes meilleurs voeux pour votre travail,
Chris Marker

"Im Übrigen fürchte ich, keine Vorstellung vom dokumentarischen Film zu haben." – Versuchen wir in einige Aspekte von Chris Markers Arbeitsweise einzudringen, einer Arbeitsweise, die dokumentarische Bilder setzt, um sie gleich über neue Bilder, über Texte, über asynchronen Ton zu reflektieren. Seine Dokumentarfilme sind laufende Reflexionen, die die vorgezeigten Bilder und Töne einer permanenten Verunsicherung unterwerfen. Weder die Geschichte noch die Welt geben eine objektive Geradlinigkeit wieder, sie sind nur Erscheinungen dessen, was ich aus ihr mache.
Und dies ist der subjektive Anspruch des Intellektuellen Chris Marker, der mit der Sinnlichkeit von Fotografie, Film und Text sich an die Sichtbarmachung seiner Gedanken, Illusionen, Utopien und ihrer Zerstückelung begibt. Doch vielleicht bleibt ein Hauch von Rot in der Kälte der blauen Luft.

1967/68 gehörte Chris Marker zum engsten Kreis eines ideologisch militanten Kinos, das für eine historische Veränderung eintrat. In LE FOND DE L’AIR EST ROUGE, dem historischen Kompilationsfilm über diese Zeit, den wir uns das letzte Mal nach der Vorlesung anschauten, stellt er die Bilder, die für ihn das Gedächtnis des 20. Jahrhunderts ausmachen, in den Rahmen einer Reflexion gestorbener, zerstückelter, aufgebrauchter Illusionen, Utopien, Visionen. Formal Kommentar, Stimmen, Interviews, Ort und Zeit laufend überspringend, thematisch assoziierend.

Was hat der Hürdenläufer Emil Zatopek an den olympischen Spielen 1952 in Helsinki mit Leni Riefenstahls Aufnahmen von den Beinen eines Marathonläufers 1936 in Berlin zu tun? – Ich zeige diesen Ausschnitt aus LE FOND DE L'AIR EST ROUGE. Ich habe Ihnen zugleich den Drehbuch-Ausschnitt abgegeben, sodass Sie einen Eindruck bekommen, wie Chris Marker arbeitet, um stets das historisch Gesagte in einen neuen anderen Zusammenhang zu stellen. Grundthema: Man weiss nie, was man filmt.

10 LE FOND DE L'AIR EST ROUGE (5 Minuten)

Man weiss nie, was man filmt. Chris Marker arbeitet in gleicher Weise auch mit dem Text. Aussagen, Interviews, Reden, Kommentar, ineinander verwoben, in textliche Widersprüchlichkeit gebracht, in Kontext und in Verfremdung zum Bild gesetzt, asynchron, mit Geräuschen, Musik, Originaltönen und Synthesizer verarbeitet, wird Sprache als Sprache definiert, Teil einer filmimmanenten Dramaturgie, die stets auf einen Zuschauer abzielt, der schauend, hörend mitdenkt, dagegen denkt, für sich den Film ebenso kurzschliesst, wie Marker seine filmische Alchemie brodeln lässt. Bezeichnend ist, dass Marker es liebt, mit der Form des Briefes zu arbeiten. Benn Briefe evozieren Kommunikation, teilen mit, wollen einen Adressaten finden.
In LETTRE DE SIBERIE – einem Dokumentarfilm über das ferne, abgeschlossene Sibirien – arbeitet Marker mit allen Gestaltungsmitteln, um seine Sicht Sibiriens filmische Realität werden zu lassen.
Chris Marker dreht politische Filme, die er einer permanenten Reflexion aussetzt. – Nach der Vorlesung zeigen wir Ihnen LA HORA DE LOS HORNOS (DIE ZEIT DER HOCHÖFEN) von Fernando Solanas und Octavio Getino, – einen politischen Film, einen militanten Film für Militante, gedacht im Sinne von Frantz Fanon: "Jeder blosser Zuschauer ist ein Feigling oder ein Verräter." Der Film unterzieht die argentinische Geschichte und Gesellschaft einer radikalen Kritik und ruft zum revolutionären Kampf auf. Der Dokumentarfilm wird Kampfinstrument. Die Radikalität des Films entspricht der Radikalität der Zeit.

Filmografie

CHRONIQUE D'UN ÉTÉ (F 1960/61) R: Jean Rouch, Edgar Morin, P: Argos Films, K: Roger Morillière, Raoul Coutard, Jean-Jacques Tarbes, Michel Brault, S: Jean Ravel, Nena Baratier, Françoise Colin, D: Marceline Loridan, Marilou Parolini, Modeste Landry, Andelo, Jacques und Jean, Régis Debray u. a.

LE FOND DE L'AIR EST ROUGE (F 1977) P: Iskra Ina Dovidis, Montage/Tonspur: Chris Marker, Vorspannmusik: Luciano Berio.

JAGUAR (F 1954–67/71) R/K: Jean Rouch, P: Les Films de la Pléïade, Kommentar: von den Akteuren improvisiert, D: Damouré Zika, Lam Ibrahim dia, Illo Gaoudel.

MOI, UN NOIR (F 1957) R/K: Jean Rouch, P: Les Films de la Pléïade – Centre National de la Recherche Scientifique, Kommentar: Oumarou Ganda, Beratung: Ibrahim Dia, M: Myriam Touré, N'Daye Yéro, Amadou Demba, S: Marie-Josèphe Yoyette, Catherine Dourgnat, T: André Bubin, D: Oumarou Ganda, Touré Mohammed, Alassane Naiga, Mlle. Gambi, Seydou Guède, Karidyo Faoudou.

LA REPRISE DU TRAVAIL AUX USINES WONDER (F 1968) P: États généraux du cinéma.

Weiterführende Informationen

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