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Geschichte, Gestaltung und Formen des Dokumentarfilms

Vorlesung 11: Leacock, FOOTBALL; A HAPPY MOTHER'S DAY, Rouch, MOI, UN NOIR; JAGUAR; LES MAÎTRES FOUS

Schon immer versuchten Dokumentarfilmer, die Authentizität der Wirklichkeit in einer Authentizität des filmischen Materials aufgehen zu lassen. So verstanden Dsiga Wertow und teilweise auch Robert J. Flaherty ihr filmisches Handwerk. Nur liess die Verarbeitung des filmischen Materials die Authentizität der Wirklichkeit zu einer Gestaltungsfiktion werden.

Bei der Drew-Leacock-Pennebaker-Maysles-Gruppe findet sich ein entscheidend anderer Ansatz. Unter dem Eindruck eines neuen Mediums – des Fernsehens, das in Amerika sehr rasch an medialer Realität gewann – und der Innovation neuer technischer Mittel, leichter synchrongesteuerter Kameras und Tonaufnahmegeräte wurde der Text-, Radio- und Fotografie-Journalismus in den Film übertragen. Was bis anhin dem Bildjournalismus, der Montage von Fotografie und Text, vorbehalten war, liess sich auf einen Film, der Bild und Ton in direkter und synchroner Aufnahmen umfasst, umsetzen. "Direct Cinema" hat somit weniger mit Dokumentarfilmverständnis, als vielmehr mit journalistischem Handwerk zu tun, das für ein neues Medium eine aktualitätsbezogene ästhetische Ausdrucksform suchte. Dies zeigt sich nun besonders in der Auswahl der Themen und in der Weiterentwicklung der Methode. Es finden sich bei der Gruppe kaum Alltagsbeobachtungen, auch wenn ihre Methode in der Folge Grundlage für filmische Alltags- und Langzeitbeobachtungen wurde. Der Unterschied liegt bereits in der zeitlichen Arbeitsweise. Die Gruppe arbeitet sehr schnell, dreht ihre Filme mit mehreren unabhängigen Teams in wenigen Tagen, ohne irgendwelche Solidarität mit den Gefilmten, den Betroffenen aufzubauen, während in der Folge Dokumentarfilmer, die die technische Arbeitsmethode des "Direct Cinema" aufnehmen (zum Beispiel Klaus Wildenhahn), zunächst grosse Recherchearbeiten leisten, mit den Betroffenen zusammenarbeiten, vielfach eine Solidarität aufbauen und in mühsamer Kleinarbeit und behutsamer Annäherung an Mensch und Thema ihre Alltags- und Sozial-Beobachtungsfilme drehen.

Die Drew-Leacock-Pennebaker-Maysles-Gruppe geht thematisch nicht sozialen, menschlichen, politischen Beobachtungen nach, sondern greift handfeste Ereignisse auf, die eine innere Dramatik versprechen. Die Montage ihrer Filme beruht kaum auf einer filmischen Dramaturgie – wie wir es zum Beispiel bei Flaherty herausgearbeitet haben –, sondern die "Direct Cinema"-Filmautoren vertrauen sich der Dramaturgie der Ereignisse an; und deshalb werden in erster Linie Themen angegangen, die ein "Drama" versprechen.

PRIMARY (1960) ist die Aufzeichnung eines Kampfes – der Vorwahl von Humphrey oder Kennedy. Am Ende wird es einen Sieger oder einen Verlierer geben, wie in einem Western. In ON THE POOL (1960) und EDDIE (1961) verfolgt das Team den Rennfahrer Eddie Sachs, der das Rennen von Indianapolis gewinnen will. In FOOTBALL, auch bekannt als MOONEY VS. FOWLE (1961), geht es um das Prestigespiel zweier Footballteams von High Schools in Miami. In THE CHAIR (1962) kämpft der junge Anwalt Dan Moore um die Begnadigung seines zum Tode verurteilten Mandanten Paul Crump. In CRISIS: BEHIND A PRESIDENTIAL COMMITMENT (1963) stehen "Gunfight"-artig Robert Kennedy und Gouverneur Wallace einander gegenüber. Es geht um die Zulassung Schwarzer an die Universität von Alabama.

Die Themen tragen die dramatische Struktur in sich. So gleitet das neue Dokumentarfilmverständnis in einen Filmjournalismus hinüber, der versucht, möglichst anschaulich und spannend zu erzählen. Bezeichnend ist, dass sich bei Leacock in Bezug auf die Materialverwendung extreme Positionen finden. In THE CHAIR war das Drehverhältnis 1:35. Andere Filme zeigen, dass Leacock ein Meister der Montage in der Kamera ist. Seine Cutterin Patricia Jaffe stellt 1965 fest: "Man kann den Film oft so zeigen, wie er aus der Kamera kommt. Er hat die Qualität und den Rhythmus eines Balletts, und ganze Sequenzen können so gelassen werden, wie sie sind."

Und als Gegensatz: In FOOTBALL, einer Robert-Drew-Produktion für Time Life Broadcast, waren bis acht Kamerateams im Einsatz. Es galt, das jährliche Prestigespiel zweier High Schools in Miami gleichzeitig von verschiedenen Positionen aus zu verfolgen. So entstand nicht eine lineare Erzählung, sondern eine Parallelmontage verschiedener Handlungsabläufe sollte den Football-Kosmos wiedergeben. Trotz der für einen Leacock-Film komplizierten dokumentarischen Erzählstruktur, indem das Geschehen unter der Einhaltung der Zeiteinheit auf verschiedene Handlungsorte aufgefächert wurde, blieb die dramaturgische Grundstruktur erhalten: nämlich die Darstellung eines Kampfes, der im Ereignis selbst liegt, aber in der kinogenen Umsetzung einem Duell, einem "Gunfight" entspricht. Trotz vieler Einzelbeobachtungen, trotz der Montage von Details und aufschlussreichen gesellschaftlichen, sozialen und psychologischen, visuell und akustisch eingebrachten Beobachtungen schafft die Kampfsituation die Spannung des Filmes.
Zwei Mannschaften stehen einander gegenüber; zwei Trainer, die ihre Mannschaften für das Spiel präparieren, sie aufpeitschen, spiel- und kriegstüchtig machen. Wir schauen uns einen Ausschnitt aus FOOTBALL an. Die Situation vor dem Spielantritt. Im Stadion produzieren auf dem Rasen die Girls und Boys der beiden Schulen ihre Unterhaltungs-Parade, während die beiden Trainer ihre Mannschaften für den Kampf motivieren. Drei Handlungsorte, die Räume der beiden Trainer mit ihren Mannschaften und die Stadionszenerie, schaffen parallel gleichzeitig die Exposition für das Drama, das einen Sieger und einen Verlierer braucht. Am Ende des Films steht dann auch gegenüber der ekstatischen Freude des Siegers die schwarze Untergangsstimmung des Geschlagenen.

1 FOOTBALL I (auf dem Rasen einsetzen, 4 Minuten)

Wir brechen hier die Sequenz respektive das Spiel ab, oder möchten sie weitersehen? Es ist doch spannend?! Eine Spannung, die in der aufgegriffenen Handlung liegt.
Noch arbeitet Leacock mit einem Kommentar. Ein Sprecher gibt Informationen ab. Noch vertraut er nicht ganz dokumentarischen Bildern und Tönen, auch wenn sie sich noch so authentisch geben. Dies ist wichtig im Hinblick auf die Dokumentarfilme Wisemans, auf die wir noch ausführlich eingehen werden.

Wir schauen uns noch einen weiteren Ausschnitt aus FOOTBALL an. Er soll aufzeigen, wie Leacock seinen filmischen Stil durchhält. Die Montage der Filmstücke selbst, welche die einzelnen Kamerateams einbrachten, wird Form des Inhalts. Die agonale Spannung zwischen den beiden Mannschaften, die ihren Ausdruck im jeweiligen Trainer finden, wird auseinandergehalten durch das Spielfeld. Das Spielfeld ist die Szene für die Aufmarschrituale und die Kampfesstrategien. Wie in Revuefilmen, Paraden, in machtpolitischen Inszenierungen zeichnen sich Ballettformen und Körper-Ornamentik ab. Wie in der Händeschüttelszene der Sympathie-Parade in PRIMARY liess sich auch hier eine Köperstudie nachvollziehen – was aufzeigt, wie präzis, aufs Wesentliche bezogen, die Kamera ausgerichtet ist. Die Sequenz gibt die Halbzeit wieder – die Zeit zwischen den Spielblöcken.

2 FOOTBALL II (Zwischenzeit, 10 Minuten)

Die frühen "Direct Cinema"-Filme hatten in Amerika wenig Erfolg. Erst mit der Zeit wurden sie von den Fernsehanstalten gekauft. Vielmehr wurde man in Europa darauf aufmerksam, was sich im amerikanischen Dokumentarfilm abspielte. Leacock, Pennebaker und die Gebrüder Maysles verliessen dann auch ab 1962 ihren geschäftstüchtigen Produzenten Drew, Mitherausgeber von Life, und arbeiteten in eigener Regie oder für europäische Fernsehanstalten. Leacock lebt heute in Paris. Die andere Entwicklung war, dass das "Direct Cinema" besonders mit einer Anzahl von Rockfilmen zum Kommerzkino hin tendierten, so mit GIMME SHELTER (1970) der Gebrüder Maysles, einem Dokumentarfilm über das Altamont-Konzert der Rolling Stones, bei dem "Direct Cinema"-gerecht vor der Bühne ein Mord geschah.

Leacock trennte sich zusammen mit Pennebaker 1963 von Drew. Seinen ersten unabhängigen Film realisierte er mit Joyce Chopra: HAPPY MOTHER'S DAY. Wie "unabhängig" Leacock jedoch war, zeigt die Produktionsgeschichte des Films. Leacock bekam Krach mit seinem Arbeitsgeber, der Saturday Evening Post. Er sah sich gezwungen, das Material zurückzukaufen und er schnitt HAPPY MOTHER'S DAY. Der Film hätte ursprünglich "Quint City, USA" heissen sollen. Die Fernsehanstalt ABC montierte aus dem gleichen Material einen von der Beech-Nut gesponserten halbstündigen Werbefilm für Baby-Nahrung. So gibt es zwei Fassungen des Films.

HAPPY MOTHER'S DAY (1963): Am 23. September 1963 bringt Mrs. Fisher in Averdeen, einem typischen Landwirtschaftsstädtchen in South Dakota, Fünflinge zur Welt. Die Familie hat bereits fünf Kinder. Vater Fisher hält sich als Nebeneinnahme eine kleine Farm mit Tieren, sodass seine Kinder recht idyllisch aufwachsen können. Die Geburt der Fünflinge wird zum Einbruch in die Intimsphäre von Mutter–Kinder–Katzen – wie die kleine Welt der Familie Fisher beschrieben wird.

Richard Leacock und Joyce Chopra verfolgen mit Kamera und Mikrofon, wie diese Fünflinge nicht nur das bis anhin einfache Leben der Familie Fisher in ein öffentliches Leben verwandeln, sondern auch, wie ein Städtchen, durch die Weltsensation aus dem Gleichgewicht gebracht, in Taumel gerät. Die einen wollen die Familie vor dem Rummel schützen, sie vor dem Angriff der Medien- und Business-Öffentlichkeit abschirmen, die anderen träumen von einem grossen Haus, das Wohnhaus der nun 12-köpfigen Familie und zugleich Museum für die Sensationspilger sein könnte. Denn Fünflinge lassen sich nicht verstecken.
Hier setzt Leacock noch einen Kommentar – und zwar von Ed McCurdy – ein, der den sachlich und cool aufgenommenen Bildern eine gewisse ironische, gesellschaftssatirische Brechung gibt. Leacock wagt noch nicht, ohne begleitenden Text auszukommen und ganz auf die dokumentarische Aussagekraft zu vertrauen.

Schauen wir uns einmal anhand von HAPPY MOTHER'S DAY die dokumentarische Machart bei Leacock an und besonders auch, wie er die Sequenzen – die einzelnen Bestandsaufnahmen – miteinander verbindet.
Die Reporterin der Lokalpresse ist bereits ins Haus eingedrungen: Der Fotograf der Saturday Evening Post, mit dem Leacock wegen des Films in Streit geriet, hat bereits eine Reportage von Fishers kleiner Farm mit Enten, altem Ford und den freudig lebenden Kindern mit Vater und Mutter gemacht. Bereits ist die Mutter durch die öffentliche Hilfe neu eingekleidet worden: das erste neue Kleid nach der Hochzeit, die auch schon einige Jahre zurück liegt, was so en passant Auskunft über den sozialen Status der Familie Fisher abgibt. Und dann setzt Leacock mit der Präsentation der Geschenke ein, leitet über zu einem Gespräch mit dem Vater und der Mutter, die ihre Kinder nicht ausstellen will. Nun achten Sie darauf, wie Privatraum und Öffentlichkeitsbereich in den Konflikt geraten.

3 HAPPY MOTHER'S DAY I (Geschenke, Interview Mutter, Versammlung, Einladung)

Auf die Familienszene folgt eine Öffentlichkeitsszene. Eine Gruppe von Männern – es finden sich keine Frauen – diskutiert das vertrackte Problem, wie der Schutz der Familie, das Geschäft und die öffentlichen Interessen in Einklang gebracht werden können.
Nach der Öffentlichkeitsszene schneidet Leacock auf die Einladung der Mutter Fisher zu einem Essen. Die Mutter soll präsentiert werden, dass die fünf Babys sagen: "Mami, wir sind stolz auf dich". Dann wieder Schnitt auf das öffentliche Interesse: Die Männerversammlung ist grösser geworden. Der Bürgermeister sieht sich und fühlt sich schon fast wie der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Die Männer planen organisatorisch die Auswertung der Fünflinge, eine Public-Relation-Tour, eine Fisher-Stiftung. Dem setzt Leacock still die fünf Babys entgegen. Sie schlafen dahin und gewinnen an Gewicht.

4 HAPPY MOTHER'S DAY II (von Fotograf bis Babies, 7 Minuten)

Einerseits Öffentlichkeitsinteressen, Geschäftsinteressen, Planung, Organisation, anderseits das private Leben einer Familie, das aus den Fugen gerät. Leacock baut eine gesellschaftskritische Dialektik auf, die er auch filmisch im Wechsel der Räume situiert. Doch dann erfolgt der Bruch: HAPPY MOTHER'S DAY entsteht. Der Film mündet in ein grosses Fest mit Bankett und Umzug ein. Der kritische Ansatz wirkt wie weggefegt – Happy-End im Dokumentarfilm, auch wenn der Regen einsetzt.

5 HAPPY MOTHER'S Day III (Rede des Bürgermeisters bis Schluss)

Ein optimistischer Schluss, doch Leacock kam nie mehr auf die Fünflinge zurück. Es entstand also keine Langzeit-Beobachtung. Die Fernseh-Anstalt ABC brachte jedoch eine eigene von Beech-Nut gesponserte THE FISHER QUINTUPLETS-Fassung. Mittelpunkt sind die Fünflinge, die sich bestens zur Werbung für "Baby-Food" eignen. Damit findet die in der Männerversammlung zu Aberdeen angesprochene kommerzielle Nutzbarmachung des Ereignisses doch noch statt.

Schauen wir uns den Anfang des Films an. Er wird mit dem Umzug eröffnet, mit dem Triumphzug der Fishers, also mit jener Szene, mit der Leacock seine Fassung des Films enden lässt. Achten sie auf den Kommentar und die Stimme des Kommentators.

6 THE FISHER QUINTUPLETS (Anfang des Films, 4 Minuten)

Zur inneren Dramaturgie der Ereignisse gehört im "Direct Cinema"-Verfahren der Zufall. Das Thema garantiert, wenn es wie bei Leacock und der Drew-Gruppe von einer gewissen journalistischen Brisanz ist, eine in den Dingen selbst liegende dramatisierende Struktur: Wahlkampf, Wettkampf, Kampf um eine Begnadigung, Konfrontation mit, durch und in der Öffentlichkeit.
Das thematische Stichwort heisst Kampf, und Kampf hat stets mit Dramatisierung zu tun. Innerhalb dieses Rahmens ist das Einzelne nicht planbar. Hier spielt der Zufall Regie, und noch mehr ist die Beobachtung der Details – die momentane Zuwendung von Kamera und Mikrofon – ein Akt des Zufalls, auch wenn der Autor noch so bewusst mithört und mitsieht, sich auf einer intuitiven Spur befindet.

Als der 1957 entstandene dokumentarische Spielfilm MOI, UN NOIR von Jean Rouch – der zunächst unter dem Titel TREICHVILLE 1956 uraufgeführt und gleich mit dem "Prix Delluc" ausgezeichnet wurde – in die Pariser Kinos kam, schrieb Jean-Luc Godard 1959 in den Cahiers du Cinéma: "Sich dem Zufall anzuvertrauen heisst Stimmen zu hören. Wie die Jeanne von einst ist unser Freund Jean mit seiner Kamera losgezogen, um, wenn nicht Frankreich, so doch das französische Kino zu retten."
Auf dem Plakat wurde der Film mit dem Slogan lanciert: "Ein Tor zum neuen Kino". In der gleichen Kritik von Rouchs Film schrieb Godard: "Ein Tor zum neuen Kino, sagt das Plakat von MOI, UN NOIR. Wie Recht es hat." Heute wird Rouchs Film kaum mehr zur Kenntnis genommen. 1959/60 war MOI, UN NOIR ein kinematografisches Ereignis, das im Aufbruch der französischen "Nouvelle Vague" die Filmgattungen durcheinanderbrachte.
Alain Tanner schrieb 1958 bereits bei der Uraufführung von TREICHVILLE in der französischen Filmzeitschrift Cinéma: "Kein Dokumentarfilm im üblichen Sinne, aber auch kein fiktionaler Film, sondern eher eine Art verfilmter Autobiografie. Auch ein Dokument und gleichzeitig ein Gedicht." "Sich dem Zufall anvertrauen heisst Stimmen hören", schreibt Godard und Tanner analysiert: "Ein Dokument und gleichzeitig ein Gedicht."

Jean Rouch selbst definiert seine Arbeit: "Ich treibe im Wind des Möglichen". Er spricht vom objektiven Zufall, dem der Autor Rouch in Anspielung an Astrucs Caméra-Stylo mit seiner Kamera nachgeht. Nur sieht Rouch in Astrucs vornehmem Federhalter eher einen "Bic-Kugelschreiber", der schnell und unmittelbar hinskizziert, was der objektive Zufall an Bildern und Tönen abwirft.

MOI, UN NOIR war das Ereignis. Rouchs Film beschriebt genau beobachtend das tägliche Leben von Gastarbeitern aus dem Niger in Abidjan, der Hauptstadt der Elfenbeinküste. Sie arbeiten im Hafen, verkaufen Stoff, fahren Taxi und am Wochenende geben sie sich ihrer Freizeit hin, gehen in die Kirche, an den Strand und träumen. Sie träumen von Geld, Boxkarrieren und von Liebe. Sie haben sich die Namen von Filmschauspielern weisser Zivilisation zugelegt: Edward G. Robinson, der gleichzeitig Held, Erzähler, Kommentator des Films ist, Eddie Constantine, Tarzan Johnny Weissmüller und Dorothy Lamour, die Schauspielerin aus EXTASE und SAMSON UND DELILAH.

MOI, UN NOIR ist eine Beobachtungsgeschichte: eine Verbindung von Dokumentarismus und Fiktion. Jean Rouch brachte seine Schauspieler, die keine waren, in Situationen, die sie zwangen, ihr Leben nicht nur im Sinne dokumentarischer Aufzeichnung zur Beobachtung freizugeben, sondern sich selbst zu inszenieren. Die beobachtende Funktion der Kamera lässt die Selbstdarstellungs-Inszenierungen aus. Dies ist umso eher möglich, als Rouch in seinen Dokumentardarstellern Menschen vorfand, die in ihrem Erleben Kino und Wirklichkeit ineinanderfliessen liessen. Auch Kino dokumentiert eine Befindlichkeit.
Rouch schnitt den Film stumm und liess ihn dann in der direkten Konfrontation mit seinem Hauptdarsteller, der sich den Namen des amerikanischen Schauspielers Robinson gab, gleichsam über die Sprache ein zweites Mal dokumentieren.

Wir schauen uns den Anfang des Films an. Rouch eröffnet den Film mit dokumentarischen Bildern und spricht selbst einen klärend-sachlichen Kommentar über die jungen Afrikaner, die ohne Schule und Beruf in das moderne Leben eindringen wollen. Dann übergibt er den Kommentar den Betroffenen. Robinson nimmt uns in sein Treichville mit. Er erzählt, kommentiert, spricht Dialoge, die ohne Synchronton aufgenommen worden waren, er singt und seine Stimme bringt uns in eine gelebte Realität und zugleich nimmt er uns in seine und die Geschichte seiner Kameraden, in die Geschichte seines Treichville auf.

7 MOI, UN NOIR I (bis Lied, 4 Minuten)

Während es bei Leacock um die Erfahrung des Synchrontons geht, experimentiert Rouch zunächst mit einem Ton, der aus Musik, Originaltönen, Nach-Synchronisation und Direktkommentar besteht. Für Rouch wird der Ton zu einem akustischen Gewebe von Dokumentation und Erzähllust. In der Konfrontation des Sprechers mit der Leinwand kann die Sprache zum Gedicht werden. Eddie Constantine, der Frauenheld im Film, geht mit Nathalie den "Goumbé" tanzen. Es ist ein Tanzwettbewerb, bei dem das beste Tanzpaar eruiert werden soll. Robinson lässt sich vom Film wegtragen und dokumentiert im rhythmischen Stakkato seiner Worte seine eigene Erlebniswelt. Die Sprache selbst, im Nachvollzug zur Musik geworden, wird in ihrer poetischen Formung Teil einer dokumentarischen Vermittlung.
Auf solche Weise eine Erlebniswelt zu dokumentieren, war das Ereignis, als MOI, UN NOIR 1960 als aufgebrochene Emotionalität in die Kinos kam. A BOUT DE SOUFFLE, ORFEO NEGRO, MOI, UN NOIR – da bahnte sich ein Filmverständnis an, das fiktionale und dokumentarische Kino-Wirklichkeit in gleicher Weise als Veräusserlichung des Lebens begriff.

8 MOI, UN NOIR II (Tanz von Constantine und Nathalie, 3 Minuten)

Wer ist Jean Rouch, auf dessen Namen der Begriff "cinéma vérité" fokussiert ist? Das Werk Jean Rouchs ist sehr schwierig zu fassen. Er versteht seine Filmarbeit als "work in progress". Als das Berliner Arsenal-Kino 1989 eine vollständige Retrospektive der Filme von Jean Rouch versuchte, ergaben sich fast unlösbare Schwierigkeiten, denn das Werk Jean Rouchs präsentiert sich nicht als abgeschlossen. Ich zitiere: " Alte Filme gehen in neuen auf, werden umgeschnitten, erweitert oder in einen neuen Zusammenhang gestellt, in einen neuen Film integriert – ganz zu schweigen von einer Reihe nicht montierter Filme, die (einschliesslich Längenangaben) bisher nur im Kopf Jean Rouchs existieren. Eine 'vollständige' Retrospektive ist so zuallererst Bestandsaufnahme eines work in progress, zu einem bestimmten Zeitpunkt."
Pierre Braunberger, der grosse französische Produzent, und somit auch Produzent von Jean-Rouch-Filmen, bemerkt: "Er vergisst ganze wichtige Szenen einzufügen und manchmal verliert er den Faden. Es muss ein 'Oeuvre Rouch' in den Labors geben, das niemals jemand sehen wird, ein Oeuvre, das nur die Entwickleraugen kennen" (Braunberger zitiert in: Predal 1982, S. 159).

Um den Weg Jean Rouchs zum "cinéma vérité" zu verstehen, müssen wir – wie bei Leacock – seinem Werdegang nachgehen. Was Rouch mit Leacock verbindet, ist das Interesse für technische Entwicklung, wobei er wie Leacock nicht nur ein mit der Kamera verwachsener Kameramann war, sondern sich auf sehr experimentierfreudige Art mit dem Ton auseinandersetzte. Und was ihn ebenfalls mit Leacock verbindet, ist, dass auch Rouch als späterer Dokumentarfilmer film- und kinobesessen war. Mit fünf Jahren hatte er seine ersten Filmerlebnisse: NANOOK von Flaherty und ROBIN HOOD mit Douglas Fairbanks. Wie andere französische Cineasten wuchs auch Jean Rouch in seiner Jugend und Studentenzeit in der Cinémathèque française auf, wo Henri Langlois seine Filme ohne Angabe der Titel zeigte.

Jean Rouch liebte es zu fabulieren. Er gibt sich gern als Erzähler. Ein Dokumentarfilmer, der gerne erzählt. So fabuliert er auch über den Krieg, den er auf seine Weise cineastisch kolportiert. Er dokumentiert, indem er fabuliert. Mit einem Kameraden muss er Brücken sprengen:

Wir wussten, dass der Krieg verloren war, und gleichzeitig fuhren wir von Fluss zu Fluss und jagten Brücken in die Luft. Eines Morgens, es ist herrliches Wetter, sagt mein Kamerad, der neben mir fährt, plötzlich: "Heute abend ist es neblig." Das stammt aus LE QUAI DES BRUMES, und ich antworte: "Ja, es ist neblig; in Tonkin ist es nicht so neblig." – "Nebel in Tonkin, du machst wohl Witze?" – "Ja, Nebel hier drin", und ich deute mir auf den Kopf. Das Kino war wesentlicher Bestandteil unseres Lebens, wir kannten diese Dialoge auswendig, so wie unsere Eltern Corneille und Racine kannten.

Was Rouch jedoch von Leacock unterscheidet, ist, dass Rouch, obwohl er journalistisch tätig ist, über die Ethnografie zum Film kommt. Auf abenteuerliche Weise landet er zunächst als Ingenieur, dann als ethnologisch interessierter Amateurfilmer am Niger in Afrika. Wo er unter anderem eine Flusspferdejagd filmt, die ihm einiges unerwartetes Wissen über filmische Gestaltung einbringt.

Wenn man von den Erzählungen Rouchs ausgeht, die ganz zu seiner Person gehören und im Grunde erst seine Filme verständlich machen, war für ihn auch Filmen ein Stück Ethnologie: nämlich auf der Suche nach dem filmischen Handwerk in ein unbekanntes Land einzudringen. So wenn er beschreibt, wie er einen Film schneiden und montieren lernte. Wieder einmal sind wir dabei, was wir schon bei Flaherty und Ivens vorfanden: Der Film wird gleichsam neu erfunden. Ich denke hier auch an die Schweizer Dokumentarfilmer, die vielfach ohne Filmschule, gerade über den Dokumentarfilm den Film entdeckten und erfanden.

Die einzige Art, einen 16-mm-Film zu montieren, bestand damals darin, sich einen Projektor zu verschaffen und den Film zu projizieren. Ich ging in die Filmabteilung des Landwirtschaftsministeriums. Dort gab es alte Cutterinnen, die einfach wunderbar waren. Sie zeigten mir, wie man mit Hilfe des Projektors einen Film montiert. Sie sagten mir stets, wenn es um die Anschlüsse zweier Einstellungen ging, dass nicht das erste, sondern das letzte Bild zählt. Sie erklärten mir, dass sich das Kino auf die Beständigkeit der Wahrnehmung gründet, durch die Beschaffenheit der Netzhaut, dass nämlich das Bild auf ihr haften bleibt und man so eine Bewegung wahrzunehmen glaubt. Deswegen sei das letzte Bild so wichtig; das erste hingegen habe Schockwirkung. Die ersten Bilder müsse man also im Hinblick auf das letzte Bild der vorhergehenden Einstellung wählen ...
So lernte ich, wie man eine Montage macht. Ich schnitt meinen Film, indem ich meine Geschichte erzählte und dabei stets auf das letzte Bild achtete. Ich montierte vom Schluss her.

In seinem Lehrgang in Film lernt Rouch jedoch auch die Produktionsverhältnisse kennen und wie man mit Dokumentarfilmen umgeht, die Dokumente sein sollten.

Durch einen Zufall wurden die Actualités françaises auf den Film aufmerksam. […] Sie wollten ihn auf 35 mm aufblasen. "Wir werden den Film neu schneiden und auf etwa zehn Minuten kürzen." Das war die damals übliche Länge eines Dokumentarfilms. "Sie geben uns den Kommentar in Grundzügen, wir unterlegen die Musik und machen den Rest." Sie machten daraus einen abscheulichen, aber auch sehr schönen Film, der nun AU PAYS DES MAGES NOIRS heisst, und in dem von meiner halben Stunde Flusspferdjagd nur zehn Minuten übrig geblieben sind. Ein Besessenheitstanz, der ursprünglich am Anfang war, wurde ans Ende gesetzt. Man fügte auch "Staraufnahmen" von Elefanten, Löwen und dergleichen hinzu, weil das Eindruck machte. Der Kommentar wurde von einem Sportreporter gesprochen, der normalerweise die Tour de France begleitete. Für die musikalische Untermalung nahm man irgend so einen "Türkischen Marsch" aus dem Archiv ... […] Wenigstens lernte ich so, wie eine solche Montage zustande kommt. Auch hier dominierte wieder die Idee der kurzen Einstellung, der Schockeinstellung, und ich musste an meine alten Damen aus dem Landwirtschaftsministerium denken, und daran, dass sie Recht gehabt hatten ...

1946 hatte Rouch seinen ersten ethnologischen Film gedreht: LA CHEVELURE MAGIQUE. Das Filmmaterial wurde durch die Hitze zerstört. Dann realisierte er AU PAYS DES MAGES NOIRES: Rituale und Technik der Flusspferdejagd bei den Sorko-Fischern vom Volk der Songhai am Niger. Er verkaufte als Ethnologe seinen Film an die Actualités françaises, die ihn, wie Sie wissen, zur Kolportage umschnitt. In der Folge entwickelte Jean Rouch einen ethnologischen Film, der über die Erzählung die tiefere Wahrheit sucht.

Die ethnologischen Beobachtungsfilme – zum Beispiel über Begräbnisrituale der Dogon von Iréli, über die Regenrituale mit Besessenheitstänzen bei den Sonhai und Zerma in Simiri (Niger), über die Rituale der Hauka, der Geister der Macht und des Windes –, all diese ethnologischen Beobachtungsfilme sind für ihn Filme, die die Wahrheit im Film zeigen, so wie dies Vertov versteht.

Als Vertov von "Kino-Prawda" sprach, hat er nicht eine Verfilmung der Zeitschrift Prawda gemeint. Es war ein Versuch, die Wahrheit zu suchen. Aber er sagt sehr deutlich: "cinéma vérité" ist die Wahrheit des Films, die Wahrheit, die man im Kino mit einem mechanischen Auge und einem elektronischen Ohr zeigen kann.

In der Wahrheit des Films spielt sich der enthüllende Diskurs ab und nicht in der authentischen Spiegelung ethnologischer Beobachtung. Wenn Rouch 1960 mit soziologischen Filmen als Übertragung ethnologischer Feldarbeit in die eigene Umwelt zum Begriff des "cinéma vérité" vorstösst, heisst dies für ihn nach der langen Erfahrung mit ethnologischer Filmarbeit: Die Wahrheit liegt in der Kameraerfahrung, in der unwillkürlichen Begegnung, in der Transformation durch das Medium. Im Akt der Beobachtung und des Filmens liegt die Wahrheit, vergleichbar den Surrealisten, die im "cadavre exquis", im Produkt des objektiven Zufalls, das Unbewusste vorzufinden hoffen. Nicht das Beobachtete gibt die Wahrheit im Abbild wieder, vielmehr spiegelt der Akt des Beobachtens die Wahrheit. Dies nennt Rouch aufgrund der Erfahrung mit Besessenheitstänzen: "ciné-trance". In der Symbiose von Kameramann und Kamera findet über den Arbeits- und intuitiven Gestaltungsprozess jene Verwandlung statt, die in poetischer Verwirklichung die tiefere, nicht abbildartig erfahrbare Wahrheit aufleuchten lässt. Denn für Rouch ist Wahrheit nicht sichtbar. Über die Kamera wird sie erfahrbar.

Mit seinen Filmen stellt Rouch letztlich die Wissenschaftlichkeit der Ethnologie infrage. So formuliert er 1971, nachdem die soziologischen und ethnologischen Filme im "cinéma vérité" aufgegangen sind:

lch betrachte die Humanwissenschaften als poetische Wissenschaften, in denen es keine Objektivität gibt, und den Film betrachte ich als nicht objektiv und das "cinéma vérité" als ein Kino der Lügen, das davon abhängt, wie man sich selbst belügt. Wenn man ein guter Geschichtenerzähler ist, dann ist die Lüge wahrer als die Realität und wenn man ein schlechter Geschichtenerzähler ist, dann ist die Wahrheit schlechter als eine halbe Lüge.
(Rouch 1971, 134 f.)

So haben Rouchs Dokumentarfilme mit Geschichtenerzählen zu tun. Über die filmischen Erzählungen versucht er zu den Mythen vorzudringen, die er in den Ritualen findet. Denn auch Mythen sind Erzählungen. Nicht Abbild, sondern Transformierung von Geschichte, die über Geschichten in die eigentliche wesentliche Geschichte eindringen lässt.
Der Sänger erzählt von Mythen. So erzählen Bilder, Töne, Gesten, Orte, Stimmungen und fabulieren sie sich selbst als Teil ethnologischer Vermittlung. Der eigentliche Erzählakt steckt jedoch bei Rouch in der Kamerahandlung und in der Handhabung des Tons. So sind seine Tonmontagen aus Originalgeräuschen und Originalsprache, aus Musik, nachsynchronisierten oder nacherzählten Dialogen (welche meistens von Einheimischen aufgenommen werden) und aus Kommentaren und Geschichten, die seine Figuren zu den montierten Bildern erzählen, ebenso Teil filmischer Fabulierlust wie Rouchs Kameraarbeit, die sich aus seiner Symbiose von Körpern und Kamera in Bewegung ergibt. In seiner Kritik über MOI, UN NOIR schreibt Godard:

Es gibt in MOI, UN NOIR ein paar Kranfahrten, die Anthony Mann zur Ehre gereichen würden. Das Schöne an ihnen ist aber, dass sie mit der Hand gemacht sind. […] [Sie entstand, indem] Rouch, der neben den beiden kauert, die Kamera auf der Schulter, sich langsam aufrichtet, wobei seine Knie funktionieren wie bei Anthony Mann der Kamerakran, und sich erhebt, um Abidjan ins Bild zu bekommen, oh Abidjan der Lagunen, am anderen Ufer des Flusses – das mag ich.
(Godard 1971, S. 127 und 1971a, S. 131)

Das Fiktionale bei Rouch, die Erzählung, ermöglicht die fremde Kultur in ihrer Denkweise zu erkennen. Nicht der Abbildrealismus, sondern die Transformierung in filmische Gestaltung schafft die Einsicht in die fremde Kultur. Die Wahrheit entsteht über die Gestaltung, und zwar nicht über eine einfühlsame beobachtende Kamera, sondern über eine lebendige mitlebende Kamera und einen mittragenden Ton, selbst mit einem subjektiven Kommentar, der das Bild übersetzt, mit sprachlichen Emotionen überdeckt.
Filmen versteht Rouch als Besessenheitstanz. "Ciné-trance" schafft als Akt den Zugang zwar Wahrheit. Rouchs ethnologische Filme waren stets auch umstritten, man glaubte in ihnen eine imperialistische und kolonialistische Haltung zu finden und man warf ihm Ausbeutung seiner Mitarbeiter und seiner Figuren vor.
Dazu gehört auch die "Filmisierung" seiner Mitarbeiter: Er machte sie film- und kinobesessen. 1954 drehte Rouch in Ghana JAGUAR. In den Jahren 1957 bis 1967 nahm er – wie schon zuvor – Dialoge im Studio der Film Unit von Accra auf. Es ist die Geschichte eines Hirten, eines Fischers und eines kleinen Banditen, die zu einer Wanderung durch Ghana in die Stadt Accra aufbrechen, um dort ihr Glück zu versuchen. Damouré, Lam und Illo lernen Land und Leute, Sitten und Arbeit ihres Landes, Industrialisierung und Probleme ihres Landes kennen.

Was Jean Rouch an Sehenswertem in diesem Land fand, wird von den Dreien miterzählt, kolportiert und verfremdet. Ein imaginärer, spontan erfundener Dialog interpretiert das Sichtbare recht unbekümmert, so wie man sich etwa als Europäer afrikanische Fröhlichkeit und Direktheit vorstellt. Damouré, Lam und Illo treffen auf einen Stamm, der noch wenig von der Zivilisation erfahren hat. Die Männer und Frauen sind noch nackt, führen eigenartige Tänze vor, doch sie sind sehr nett. Die Szene mutet wie die Projektion weisser imperialistischer Mentalität auf Schwarze an, die sich über ihre eigene "négritude" lustig machen. Man fühlt sich als Zuschauer verwirrt, irritiert und stösst auf eine nicht erwartete Sicht der Dinge. Damouré, Lam und Illo sind Muselmanen, die sich über den zivilisatorisch zurückgebliebenen Stamm der Sombas liebeswürdig mokieren: delegierter Rassismus oder Ausdruck ethischer Wirklichkeit in Ghana?

9 JAGUAR I (Begegnung mit dem nackten Stamm, 4 Minuten)

10 JAGUAR II (Damouré zieht nach Accra, Flaschenmarkt, 4 Minuten)

Zum Abschluss der heutigen Vorlesung möchte ich auf jenen Film eingehen, den wir uns anschliessend an die Vorlesung anschauen: LES MAÎTRES FOUS – Herren des Wahnsinns.
Rouch beschäftigte sich in Afrika immer wieder mit Aspekten der Kulturbegegnung. In seinen Untersuchungen über die Migration im Nigergebiet (Mali, Ghana und Elfenbeinküste) und ihren Auswirkungen auf die Hauptstädte Accra und Abidjan stiess er immer wieder auf den Zusammenprall verschiedener Kulturen innerhalb Afrikas und auf die Auseinandersetzung mit der weissen Kultur, mit der Zivilisation, welche die weissen Kolonisatoren – zum Beispiel auch durch Film, siehe MOI, UN NOIR – eingebracht haben. Die Filme, die in diesem Umkreis entstanden, nannte er selbst "urbane soziologische Filme".
Die Serie dieser Filme wird eröffnet mit LES MAÎTRES FOUS, 1954 in Accra gedreht, einem Film, der in der Folge unter Schwarzen und Weissen heftig umstritten blieb.
Der Film zeigt das grosse jährliche Ritual der Hauka, der Geister der Macht und des Windes. Die Zeremonie der Hauka geht auf einen in den Zwanzigerjahren entstandenen religiösen Geheimbund der Nigerregion zurück, der durch die Wanderung der Arbeiter bis an die Küste Ghanas vordrang. Hauka werden aber auch die neuen Götter genannt, die als Beamte der Kolonialverwaltung auftreten und von den Menschen Besitz ergreifen. Von diesen Göttern besessen, die die weisse Kolonialmacht verkörpern, agieren die Mitglieder der Hauka in "Trance ihrer kolonialen Unterdrückung". Gleich der historischen Situation, die in den Besessenheitstänzen zum Ausdruck kommt, sind die Rituale von äusserster Grausamkeit.
Der Film wurde in wenigen Stunden gedreht. Im Sinne einer Verdeutlichung der historischen und kulturellen Zusammenhänge schnitt Rouch Aufnahmen von einer Militärparade, den Vorbildern der Hauka für ihre Götter, ein. Die Reaktion auf diesen Film war heftig. Die Afrikaner wiesen das Bild vom "schwarzen Wilden" zurück. Die Regierung von Ghana verbot den Film. Ousmane Sembène, der grosse senegalesische Schriftsteller und Filmemacher und Vertreter einer gelebten "négritude" lehnte den Film ab, bezichtigte Rouch des französischen Kolonialismus', denn er betrachte die Afrikaner wie Insekten. Lacan, der französische Psychoanalytiker, vermochte mit den dargestellten Übertragungsprojektionen nichts anzufangen.

Der Ethnologe Marcel Griaule, Rouchs hochverehrter Lehrer in Ethnologie, riet, den Film zu vernichten. Nur André Bazin sah den Film in anderen Zusammenhängen, indem er Chris Markers und Alain Resnais’ Dokumentarfilm LES STATUES MEURENT AUSSI, einen Dokumentarfilm über die Zerstörung afrikanischen Handwerks und afrikanischer Kunst durch den Produkteeinfluss des französischen Kolonialismus, einbezog. Rouchs Film wurde in Ghana verboten, der Film von Marker und Resnais in Frankreich.

Ich zitiere André Bazin:

Chris Marker und Alain Resnais wollten uns zeigen, wie die Skulpturen der Schwarzen sterben, der Film von Rouch trägt die logische und positive Ergänzung dazu bei, indem er uns zeigt, wie auch Götter sterben, denn wenn es etwas noch Schlimmeres gibt als den Tod der Zivilisation, dann ist es der Reflex, den sie uns im Delirium ihrer Agonie von der unseren zurückwirft.
(Bazin 1983, S. 186)

Filmografie

THE FISHER QUINTUPLETS (USA 1963) P: ABC, Filmemacher: Richard Leacock.

FOOTBALL oder MOONEY VS. FOWLE (USA 1961) P: Robert Drew für Time-Life-Broadcast und Drew Associates, Filmemacher: James Lipscomb, K: William Ray (Coach Fowle), Abbot Mills (Coach Mooney), Richard Leacock, D. A. Pennebaker, Claude Fournier.

HAPPY MOTHER'S DAY (USA 1963) P: ABC und Pennebaker Associates, gesponsert von The Saturday Evening Post, Filmemacher: Richard Leacock, Joyce Chopra.

JAGUAR (F 1954–67/71) R/K: Jean Rouch, P: Les Films de la Pléïade, Kommentar: von den Akteuren improvisiert, D: Damouré Zika, Lam Ibrahim dia, Illo Gaoudel.

MOI, UN NOIR (F 1957) R/K: Jean Rouch, P: Les Films de la Pléïade – Centre National de la Recherche Scientifique, Kommentar: Oumarou Ganda, Beratung: Ibrahim Dia, M: Myriam Touré, N'Daye Yéro, Amadou Demba, S: Marie-Josèphe Yoyette, Catherine Dourgnat, T: André Bubin, D: Oumarou Ganda, Touré Mohammed, Alassane Naiga, Mlle. Gambi, Seydou Guède, Karidyo Faoudou.

Weiterführende Informationen

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