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Seminar für Filmwissenschaft

Geschichte, Gestaltung und Formen des Dokumentarfilms

Vorlesung 10: FOOLISH WIVES; CITIZEN KANE, Esther Schub, DER UNTERGANG DES HAUSES ROMANOW; UN CHIEN ANDALOU; LAS HURDES

"Film und Realität" heisst unser Thema. Im ersten Teil der Lehrveranstaltung gingen wir historisch vor. Dabei verstrickten wir uns immer mehr in die Verflechtung von Wirklichkeitserfahrung und Propaganda für die betreffende oder für eine alternative Realität. Die Dokumentarfilme erwiesen sich als Dokumentationen der Sichtweise und nicht als Dokumente des Sichtbaren, Erfahrbaren, visuell und akustisch Aufgezeichneten. Im zweiten Teil der Lehrveranstaltung gilt es, eine Phänomenologie dokumentarischer Erscheinungsformen zu erarbeiten.

Das im ersten Teil dargelegte historische Verständnis wird den Hintergrund für unsere weitere Beschäftigung bilden. Die mehr theoretisch angestrebte Auseinandersetzung wird jedoch auch eine filmgeschichtliche Fixierung erfahren. Der amerikanische Dokumentarfilm, wie er in den Dreissigerjahren entstand, zum "Living Cinema" eines Leacock hinführte und schliesslich heute in den Arbeiten eines Frederick Wiseman oder eines De Antonio aufgeht, soll die Linie bilden.
Deshalb wird das nächste Mal die Vorlesung von einem amerikanischen Dokumentarfilmer gehalten. Nach einer kurzen Einführung zeigen wir hier Leo Hurwitzs fast vierstündigen DIALOGUE WITH A WOMAN DEPARTED. Der Film ist von Hurwitz 1980 in den USA nach einem achtjährigen Arbeitsprozess vollendet worden und ist eines der faszinierendsten Zeugnisse eines Menschen, der mit der Kamera in der Hand sich der Welt ausgesetzt hat. Thema ist eine Frau, die mit Leo Hurwitz zusammengearbeitet hat. Und dieser Film ist zugleich ein Stück Filmgeschichte und Darstellung des Dokumentarfilms selbst. Ich werde am Ende der heutigen Vorlesung auf den Film zurückkommen.

"Film und Realität": Steigen wir erneut in die gestellte Thematik ein. Für FOOLISH WIVES (1922) liess Erich von Stroheim in den Studios das Casino von Monte Carlo und den grossen Garten mit den Palmen vor dem Casino, das Hôtel de Paris mit seinem berühmten Côté de Paris und die Spazierterrasse über dem Meer nachbauen. In diesen Kulissen inszenierte Stroheim mit letzter Akribie superrealistisch ein Monte Carlo hinein. Strohheims Nachbildung und Nachinszenierung ist detailgerecht, angefüllt von den Teilstücken genauestens wiedergegebener Wirklichkeit. Jede Uniform und jede Geste ist stimmig. Und die Studioscheinwerfer tauchen die Szenerie in ein strahlendes mediterranes Sonnen- respektive Lampenlicht: Ein ewig strahlender Tag, auch wenn die Dreharbeiten tagelang dauern.
Stroheims fiktives Monte Carlo, das ganz der Wirklichkeit nachgebildet erscheint und vorgibt, ein superrealistisches Abbild zu sein, ist ein Dokument über die Vorstellung, wie Monte Carlo auszusehen hat, wenn es dem Bild vom Monte-Carlo-Traum entsprechen sollte.

In einer späteren Szene wird auf einem echten Kreuzer der amerikanische Diplomat mit seiner Gattin auf Deck ordnungsgemäss verabschiedet. Die Spielfilminszenierung spielt sich in der realen Gegebenheit eines Schiffdecks ab. Dabei schwenkt die Kamera, um die ebenso reale Umwelt zu zeigen, über Monte Carlo, das grau und miefig, ohne Glamour an einem Hang klebt. Der dokumentarisch initiierte Schwenk löst auf keinen Fall die Vorstellung aus, dass hier an diesem Ort Vermögenswerte verspielt werden und die Hochstapler der Welt sich ein Stelldichein geben. Der Schwenk ist nur die schmucklose Bestandsaufnahme eines Ortes, in einer Totalen fixiert, ist die authentische Standortbestimmung ohne spezielle Kennzeichen.
Stroheims Fiktion hingegen ist die Authentizität eines imaginativen Monte Carlo und als solche dokumentiert sie die Sichtweise Monte Carlos. Stroheims Superrealismus geht nicht von der Realität aus, sondern von der Imagination einer Realität. Übertragen auf einen anderen Film, – auf einen Kultfilm: Gehen Sie um Gottes Willen nie in CASABLANCA "Casablanca" suchen.

Wer um die Magie von Fiktionen wusste, die realer zu sein vermögen als die Realität, war Orson Welles. In F FOR FAKE (1973) geht er der Frage nach, worauf Fälschungen beruhen, denn Fälschungen ergeben sich aus einer perfekt vorgetäuschten Realität. Eine Unterschrift mit den richtigen Schriftzügen identifiziert den Schreiber, den Urheber der Unterschrift. Doch was geschieht, wenn ein anderer sich der Zeichen einer Unterschrift so bedienen mag, dass er, obwohl er ein anderer ist, als der ursprüngliche Urheber der Unterschrift identifiziert wird. Er kann – zum Beispiel bei einem Scheck – konkret das Geld kassieren. Dies besagt: Fälschung hat mit der Aneignung von Gestaltungsmitteln zu tun, welche die Täuschung ermöglichen. Der Fälscher hat zunächst einmal das Medium zu beherrschen, mit dem eine Kommunikation stattfindet und zugleich hat der Fälscher das Produkt in seine Elemente zu zerlegen, es genau zu analysieren – das heisst, die Form zu erkennen, wodurch ein Inhalt vermittelt wird.
Der Magier täuscht mit seinen Tricks Illusionen vor. Da die Machart nicht durchschaubar ist, ist die Täuschung als Realität zu nehmen. Und sie ist eine Realität, auch wenn sie nur eine vorgetäuschte ist. Die Dame schwebt tatsächlich, und sie wird tatsächlich lebend zerschnitten und tatsächlich werden aus Blumen Kaninchen und umgekehrt. Dies nennt sich Zauberei. Doch was ist Zauberei anderes, als eine Tatsächlichkeit vorzutäuschen, zum Beispiel Metamorphosen, Überwindungen der Schwerkraft und so weiter, – doch beim Zauberer, beim Magier weiss der Zuschauer, womit er es zu tun hat. Er weiss, dass es zwei verschiedene Unterschriften sind, auch wenn sie auf Grund der Form den gleichen Urheber identifizieren.

Aneignung der Gestaltungsmittel, Analyse des Produktes, sodass die entsprechende Form gefunden werden kann, die den Realitätscharakter garantiert. Doch letztlich geht es um das Medium selbst. Es geht um Schriftzeichen, Sprache, Worte und Bilder, die fabrizierbar werden. Denn auch sie sind eine Realität. Nur beim Maler und Zauberer weiss ich um den Illusionscharakter. Wenn das Medium selbst jedoch als Garant von Realitätsvermittlung erscheint, wird die Rezeption vertrackter.
Wenn Welles in seiner Radiosendung "Krieg der Welten" die er mit 23 Jahren gestaltete, eine Panik auszulösen vermochte, war die nur möglich, weil der Zuhörer das Medium "Radio" als Vermittler von Nachrichten und Aktualitäten und nicht mehr als Vermittler eines Hörspiels zu eruieren vermochte, denn Orson Welles wählte für sein Hörspiel die Form einer Aktualitäten- und Nachrichtensendung. Er ging noch weiter. Das Radio ist im Katastrophenfall das eigentliche Instrument der Informationsvermittlung. Somit verspricht das Radio als Medium sicherlich die Vermittlung authentischer Realität. Wenn die Nachrichtensprecher eine fiktive Aktualität zu spielen beginnen, verbleiben Informationen Informationen, auch wenn sie noch so fantastisch erklingen mögen.

Bezeichnend ist, dass Hollywood gleich Orson Welles für sich einkaufte. Denn ein Mann, der vermag, Fiktionen als Nachrichten zu vermitteln, kann auch Kino-Illusionen so zu einer Realität verdichten, dass die kinogene Panik ausbricht. Was jedoch Orson Welles mit CITIZEN KANE (1941) auslöste, war die Wut von William Hearst, der die Allusionen an seine Person nicht zu akzeptieren bereit war, auch wenn sie nur als Spielfilm – und nicht als Dokumentarfilm – in die Kinos kamen.
Im Film CITIZEN KANE thematisiert Orson Welles das eben Gesagte. Nach einer märchenhaften Einstiegsszene, die magisch die Todesstunde Kanes beschwört, donnert eine Wochenschau im Stil von "The March of Time" über die Leinwand. Durch die Handhabung der gängigen, eingespielten, allgemein bekannten filmischen Form der Wochenschau, durch die genaue Rekonstruktion der betreffenden Zeiten und Orten aus Kanes Biografie entsteht ein Dokumentarfilm über Kane. Dieser Dokumentarfilm ist jedoch eine Fiktion. Da der "Dokumentarfilm" die fiktional Anwesenden im Film unbefriedigt lässt, ist die Voraussetzung geschaffen, dass die Forderung nach der Wahrheit über Kane entsteht, und diese Wahrheitserforschung, die hinter die Fassade der Erscheinung dringen will, stellt nun Orson Welles bewusst – auch in der Handhabung der filmischen Gestaltungsmittel – als Fiktion dar – als Spielfilm.

1 CITIZEN KANE

Die Form der Wochenschau hat die Authentizität der Bilder zu bestätigen. Doch diese Wochenschau ist eine Fiktion, mit Orson Welles, dem Regisseur, als Schauspieler in der Rolle Kanes. In F FOR FAKE geht Orson Welles als Magier des Kinos, als Geschichtenerzähler und filmischer Illusionist noch einen Schritt weiter. Er konstruiert einen Dokumentarfilm über einen Fälscher. Da der Dokumentarfilm jedoch als Fiktion entlarvt wird, kann der Fälscher gar nicht existiert haben, selbst wenn er existiert hätte. Und die ganze von Welles erzählte Geschichte, dass ein Fälscher eine neue Kunstepoche Picassos ausgelöst habe, ist eine Lüge. Sie ist eine Lüge, weil Welles die Form des Dokumentarfilms gewählt hat. Hätte er nur eine Geschichte fabuliert, wäre sie eine schöne Illusion geblieben, die sogar wahr hätte werden können.
Dies besagt: Die einmal gewählte filmische Form bestimmt das Realitätsverständnis sowohl des Regisseurs als auch – und dies noch vielmehr – des Zuschauers, des Rezipienten.

Realitätsverständnis orientiert sich anhand der Sichtweise. Diese Sichtweise lässt sich zunächst einmal durch die Wahl der Handhabung des betreffenden Mediums bestimmen. Ob Dokumentarfilm oder ob Spielfilm für die Zuwendung zu einer bestimmten Wirklichkeit gewählt wird, gibt in erster Linie Auskunft darüber, auf welche Weise der Filmschaffende an die bestimmte Wirklichkeit herangehen will. Desgleichen wählt auch der Zuschauer seine Sichtweise zur Wirklichkeit. Dabei finden grundlegende Missverständnisse statt. Das Publikum zieht eindeutig den Spielfilm dem Dokumentarfilm vor. Die Fiktion scheint mehr eskapistische Erwartungen zu befriedigen und damit einen höheren Unterhaltungswert zu vermitteln. Somit steht auch unsere Sichtweise der Wirklichkeit zur Diskussion.

Wenden wir uns noch einmal Orson Welles' CITIZEN KANE zu. Welles führt, wie wir feststellen konnten, als Magier filmischer Gestaltung zwei verschiedene filmische Formen vor. Dabei erweisen sich beide als Fiktionen. Was heisst dies für Orson Welles? Wie lässt sich dem Leben Kanes, der Biografie eines Mannes der Öffentlichkeit beikommen und gleichsam zur Wahrheit über diese Person vorstossen?
Wenn Orson Welles zunächst das Leben Kanes in der fiktiven Form einer Wochenschau als einer Ansammlung von Oberflächenmaterial, von sogenannten offiziellen Informationen abspulen lässt und anschliessend in die bewusst gehandhabte Fiktion eines Spielfilms eintaucht, um die Oberfläche – um die Informationen – zu hinterfragen, zeigt er zunächst einmal Sichtweisen auf. Zugleich aber – und dies ist der zweite Aspekt – bekennt er sich zur Wahrheitsfindung durch die Fiktion im Spielfilm. In der kunstvollen Gestaltung mit allen Tricks des Kinomagiers glaubt er über die bildintensive Beschwörung der Gestalt Kanes beizukommen.

Meines Wissens ist nie ein Dokumentarfilm über den Zeitungsmagnaten Hearst gedreht worden. So bleibt die Frage offen: Hätte Hearst einen Dokumentarfilm über seine Person eher akzeptiert als die Verwertung seiner Person für die illusionistische Filmfabulierkunst eines Orson Welles? Denn CITIZEN KANE wurde nach der Premiere, nachdem die öffentliche Aufführung des Films durch Hearst nicht verhindert werden konnte, von den Zeitungen des Hearst-Imperiums ebenso systematisch liquidiert, wie im Film selbst die kleine Susan zur grossen Sängerin stilisiert wird.
In diesem Zusammenhang wird Welles' Film auch zu einem Film über die Macht der Medien – oder auch deren Ohnmacht. Denn hinter der Macht des Mediums steht die Macht der Mächtigeren. Denn im Falle von Welles CITIZEN KANE war das Medium Zeitung in der Hand des Magnaten Hearst stärker als das Medium Film, dessen Gestaltungskraft Orson Welles vertraute.

Zar Nikolaus II besass ein Privatarchiv von 35-mm-Filmen – über sich, seine Familie und seinen Hof, über Paraden und sonstige Feierlichkeiten, über Männer seiner Zeit, über andere Länder, über Kriegsschauplätze. Und dieses Material gebraucht Esther Schub, um 1927 in ihrem Kompilations- und Montagefilm DAS ENDE DER DYNASTIE ROMANOW (PADENIJE DINASTII ROMANOWYCH) den historischen Hintergrund für die russische Revolution von 1917 aufzuarbeiten. Sie stellt mit zeitgenössischem Filmmaterial die Zeit vor 1914, den Ausbruch des Ersten Weltkriegs und den Krieg dar, bevor sie in einem letzten Teil auf durchaus gewohnte Weise die revolutionären Ereignisse bis hin zu jenem Schlussbild montiert, das mit Vorliebe die russischen Revolutionsdokumentationen enden lässt: Lenin spricht zum Volk. Aus dem zaristischen Material heraus entwickelt Esther Schub die Geschichte der revolutionären Ereignisse.
Das Ungewöhnliche ist, dass die vorrevolutionäre Zeit nicht wie bei Eisenstein, Pudowkin, Trauberg und Kosintzew als eine Kinofiktion entsteht, die sich der Überprüfbarkeit aus der zeitlichen Distanz heraus immer mehr entzieht, sondern dass das Material tatsächlich einst der vorrevolutionären Zeit angehört hat.
So entsteht ein Altrusslandbild, das wie aus einem Bilderbogen von Turgenjew in der Stimmung von Gorkis "Sommergästen" erscheint.
In diese Aufnahmen hinein werden von Esther Schub die Auftritte des offiziellen und zaristischen Russlands montiert: internationale Delegationen, die Anwesenheit der Kirche, und natürlich immer wieder die Paraden, die sich wie eine Modeschau der Uniformen und fantasievoller Kopfbedeckungen ausmacht.

2 DER UNTERGANG DES HAUSES ROMANOW I (8 Minuten)

Diesen Bildern setzt Esther Schub dialektisch andere Bilder entgegen, aber nicht in einer harten Kontrastmontage – wie zum Beispiel im Stil einer "Treppe von Odessa" in Eisensteins PANZERKREUZER POTEMKIN, sondern in einer in sich geschlossenen Materialsammlung zeigt sie die Arbeit der Bauern, die Träger, der Kohlenbergarbeiter, die wie menschliche Tiere in geduckter Haltung die schweren Holzkarren durch die engen tiefen Stollen ziehen. Es ist gleichsam die andere Welt, die den Bildern entgegensteht, welche die Idylle der Herrschenden zeigen: der Zar auf seinem Landsitz, der Aufmarsch der Offiziere oder der Tanz auf dem Schiffsdeck. Diese Aufnahmen übrigens muten wie aus einem der heutigen russischen Spielfilmen an, die – aus historischer Distanz – oft recht nostalgisch mit viel Sinn für untergegangene Schönheit und mit einem Hang zum Kitsch Tschechow und "Fin-de-siècle"-Klima beschwören.
Die Dialektik spielt sich jedoch nicht in erster Linie auf der Leinwand ab. Welche Bedeutung den Zwischentiteln zukommt, vermag ich nicht abzuschätzen. Vielleicht hat jemand die Zwischentitel mitbekommen? Die Dialektik entwickelt sich vielmehr aus der Fragestellung: Wie hat das russische Publikum in den Jahren nach 1925 die Bilder von Glanz und Reichtum der Zarenfamilie erlebt, die vor 1917 aufgenommen wurden?

Denn – und damit sind wir bei einer weiteren Möglichkeit der Interpretation des Begriffs angelangt –, denn die Sichtweise des Publikums verändert ebenfalls das Material. Bei Esther Schubs "Kompilationsfilm" können wir von drei Zeitebenen ausgehen. Die persönliche Cinémathèque des Zaren dokumentiert das Material, das der Zar im Sinne einer Selbstdarstellung gesammelt hat. Er dokumentiert sich selbst.
Esther Schub, die übrigens auch für Eisenstein gearbeitet und die russische Fassung von Fritz Langs DR. MABUSE hergestellt hat, gebraucht dieses Material, um einen Film gegen die zaristische Zeit zu montieren. Was der Zar als Selbstdarstellung gesammelt hat, setzt Esther Schub gegen den Zaren ein. Und in diesem Sinne soll das Material auch von einem nachrevolutionären russischen Publikum verstanden werden. Doch wie ist heute unsere Sichtweise über einen Film, der 1927 mit Material hergestellt wurde, das für die vorrevolutionäre Zeit gedacht war und auch für diese Zeit einsteht? Wir begegnen einer Exotik vergangener Zeiten – vergleichbar der eigenartigen ästhetischen Fremde, die heute wie angedeutet in den russischen Spielfilmen feststellbar ist, wenn sie die vorrevolutionäre Zeit beschrieben, vielfach geradezu im Bilderbuch malen.

Schauen wir uns noch eine weitere altrussische Partie des Films an. 1913 scheint in Moskau ein Grossereigniss stattgefunden zu haben. Der Hof erscheint im vollen Aufzug. Ein grandioses Schauspiel der Selbstinszenierung. Niklaus II. sammelte jedoch nicht nur Aufnahmen über sich und seine Familie, über seinen Hof und die Paraden, sondern er vergnügte sich auch an Bildern fremder Höfe. Aus diesen Bildern ersehen Sie jene Formen und Verhaltensstrukturen, jene Gesten und Verkleidungen, welche die einzelnen Staaten und ihre Regierungen kennzeichnen. Wir haben ein bestimmtes Bild von der Welt, das uns erlaubt, in der Bilderwelt die Zeichen und Signale zu entdecken, die der Identifikation des Sichtbaren dienen. Diesmal ist es an Ihnen, zu eruieren, mit wem Sie es zu tun haben. Die Zwischentitel helfen uns, mit einer kleinen Ausnahme, nicht weiter.

3 DER UNTERGANG DES HAUSES ROMANOW II (6 Minuten)

Am 14. Juni 1930 wollte Jean Vigo, einer der ganz grossen französischen Cineasten zwischen 1928 und 1933, im Rahmen einer Einladung des Filmklubs "Groupement des spectateurs d’avant-garde" Buñuels surrealistischen Kurzfilm UN CHIEN ANDALOU zeigen. Da Buñuel Vigo den Film verweigerte, sah Vigo sich gezwungen, seinen eigenen Dokumentarfilm über Nizza À PROPOS DE NICE vorzuführen, den er zusammen mit Boris Kaufman, dem Bruder von Dsiga Wertow, 1929 gedreht hatte.
Vigo nennt seinen Dokumentarfilm im Untertitel programmatisch "Point de vue documenté". Dies liesse sich übersetzten mit "dokumentierte Sichtweise". Als Einleitung zu seinem Film, die aber als Einleitung zu Buñuels UN CHIEN ANDALOU gedacht war, hält er eine kleine Causerie unter dem Titel "Vers un cinéma social", was sich übersetzen liesse mit: "Auf dem Wege zu einem sozialen Film".
Und in dieser Causerie, die dem Film Buñuels gilt, stellt Vigo die Forderung nach einem sozialen Dokumentarfilm auf, und diesen sozialen Dokumentarfilm nennt er: dokumentierte Sichtweise. Ich zitiere Vigo:

Der soziale Dokumentarfilm unterschiedet sich vom Kurzdokumentarfilm und von den Wochenaktualitäten durch den Blickwinkel, den der Autor eindeutig einnimmt. Dieser Dokumentarfilm verlangt, dass man Stellung bezieht. Wenn er nicht schon einen Künstler verpflichtet, verpflichtet er wenigstens einen Menschen. Das eine ist wie das andere. Die Filmkamera wird auf das ausgerichtet, was als Dokument erachtet wird und durch die Montage als Dokument erscheint. Selbstverständlich kann Inszenierung nicht gestattet sein. Die Personen sollten von der Kamera überrascht werden. Und wenn dies nicht möglich ist, hat man auf das Gütezeichen "dokumentarisch" zu verzichten.

À PROPOS DE NICE sollte für Vigo der behutsame Einstieg in einen Dokumentarfilm sein, der nicht die Stadt Nizza, sondern die Sichtweise der beiden Autoren von Nizza dokumentiert. À PROPOS DE NICE soll die subjektive Meinung über die gefilmte Wirklichkeit wiedergeben. Und in gleicher Weise verstand Jean Vigo auch Buñuels Film als die Dokumentation einer subjektiven Sicht der Welt.

Buñuel selbst sah zwar seinen Film anders und zwar – ganz im Sinne des surrealistischen Programmes – als "écriture automatique", da die Bilder aus den tiefsten Schichten des Unterbewussten ohne Erinnerungsvermögen oder Erklärungsmöglichkeiten entstehen, und die Montage verstand er ebenfalls im Sinne surrealistischer Manifeste als seinen "cadavre exquis", dessen Zusammensetzung nicht einmal assoziativer Art sein durfte. Als der Film zum Erfolg wurde – übrigens unerwartet und eigentlich zum Leidwesen von Buñuel und Dalí, die von ihrem "épatez les bourgeois" zu leben hofften – erklärte Buñuel: "Der dumme Haufen findet schön und poetisch, was im Grunde eine verzweifelte und leidenschaftliche Aufforderung zum Mord ist."
Ein kleiner Ausschnitt aus UN CHIEN ANDALOU soll die Sichtweise von Buñuel und Dalí veranschaulichen.

4 UN CHIEN ANDALOU (6 Minuten)

Selbstverständlich – und dies wurde auch gemacht – lassen sich die Bilder Buñuels und Dalís tiefenpsychologisch interpretieren, lässt sich der Film als Traum erklären, um auf diese Weise die innere Wirklichkeit zu retten und die äussere nicht zu gefährden. Für Vigo, und dies ist bezeichnend, ist jedoch Buñuels Film nicht eine Dokumentation des Unterbewussten, sondern die Dokumentation einer Sichtweise, die nun auch vom Zuschauer eine neue Sehweise abverlangt. Die dokumentierte Sichtweise fordert eine Umstellung der Sehgewohnheiten, um in die Bilderwelt eines andalusischen Hundes einsteigen zu können.

Man kann sagen: Um die Wirklichkeit nicht zu gefährden, wird Buñuels und Dalís Film surrealistisch genannt. Mit dieser Etikette können wir uns der Beunruhigung, anders sehen zu müssen, entziehen. Anders ist dies mit Buñuels drittem Film – nach UN CHIEN ANDALOU (1928) und L’ÂGE D’OR (1920) – mit seinem Dokumentarfilm LAS HURDES (LAND OHNE BROT), der 1932 in Spanien entstand.
In diesem Film findet eine gnadenlose Annäherung an eine soziale Wirklichkeit statt. Die Bilder der in den Bergen Nordspaniens vergessenen Hurdanos sind von solcher Klarheit, dass man sich in einem Alptraum wähnt. Buñuels penetrante Sichtweise, an die Dinge heranzugehen, ohne sie erklären zu wollen, lässt LAS HURDES ebenfalls zu einem andalusischen Hund werden. Nur sind es hier nicht Bilder des Unterbewussten, sondern Bilder, die mit vollem Bewusstsein erfahren werden. Bezeichnend für den Umgang mit der Materie ist die Anwendung des Tons: Der Text von Pierre Unik, distanziert und ohne Engagement gesprochen, begleitet informativ das Bild, als würde es sich um einen geografischen Lehrfilm für den Schulunterricht handeln. Der Text gibt vor, allgemein verbindliches Wissen zu vermitteln. Dazu fliesst Brahms 4. Symphonie kontinuierlich als romantisch-melodiöser Background dahin – europäisches Kulturgut, das sich emotional widerstandlos konsumieren lässt.
Buñuels Kamera lässt uns zunächst im Dorf vor den Bergen, hinter denen die verlorene Landschaft LAS HURDES liegt, verweilen. Doch inmitten von blühenden Bäumen, fliessendem Wasser, inmitten fruchtbarer Gegend von paradiesischer Idylle kündet eine Kröte Kommendes an, wird eine Schlange Zeichen der Bedrohung.

Über schöne Bilder dringt die Kamera in eine steinige, unwegsame Landschaft ein, in der noch nie ein Lied gehört wurde – eine Landschaft ohne Musik, Tanz und Gesang und dies in Spanien, einem Land, das Musik, Tanz und Gesang assoziiert. In Buñuels Realitätsannäherung wird alles Sichtbare gleichwertig: Steine, Tiere, Menschen. Schwein und Kind trinken aus dem gleichen Wasser.
Die Bilder erhalten die Ausstrahlung des bösen Blicks. So wie die Kinder böse in die Kamera schauen, wird die Umwelt unnahbar und undurchdringlich, obwohl die Kamera immer mehr eindringt und penetrant hinschaut, mitleidlos registriert: So in der Schule, kahlgeschorene Kinder sitzen da. Im Hintergrund hängt das Bild einer schönen Frau in Krinoline und an der Wandtafel steht als Lehrstoff der Merksatz: "Respectez les biens des autruis".

Der Text informiert, untermalt vom bürgerlich musikalischen Bildungsgut: Die Hälfte der Bewohner ist krank. Ein Mädchen lag bereits drei Tage in der Gasse. Jetzt ist es tot.
Bienen greifen einen Esel an, der die Waben zu den Herren in Salamanca bringen soll. Eine Stunde später ist der Esel tot. Hunde zerfetzen das übriggebliebene Fleisch. Mücken bringen das Fieber. Das Schwein, das geschlachtet wird, wird in drei Tagen aufgegessen. Dann ist wieder Hunger. Wie Wilde leben die Kretins, die Dorftrottel, die Mongoloiden, die Schwachsinnigen und Krüppel in der Umgebung des Dorfes. Ein Kind liegt im Sarg, daneben sitzt die Mutter in schöner Erstarrung. Am prachtvollsten sind die Kirchen: barocke Feste von Glanz und Gold inmitten der Armut. Ohne Geld und ohne Brot ziehen die Männer weg, neuer Arbeitslosigkeit entgegen. Weit entfernt liegt der Friedhof, als hätte der Tod in dieser trostlosen Steinöde nichts zu suchen.

Eine Reportage, die der Kommentator mit den Worten abbricht: "Nach einem Aufenthalt von zwei Monaten in Hurdes verlassen wir das Land." Der Alptraum ist vorbei. Der Zuschauer sieht sich entlassen. Offen bleibt die Frage nach der Veränderung in einem Land, das acht Millionen Bauern aufweist, in dem aber 20 000 Landbesitzer die Hälfte des Landes innehaben. Dazu weitere Zahlen: 31 000 Priester, 60 000 Nonnen, 5 000 Klöster – von 15 000 Offizieren sind 800 Generäle. Einer heisst Franco und weilt in dieser Zeit noch in Marokko.

Da Buñuels Film LAS HURDES zu den bedeutendsten Dokumentarfilmen gehört, schauen wir uns den Film ganz im Rahmen der Vorlesung an. Im Abendprogramm zeigen wir Ihnen noch Ausschnitte aus Esther Schubs UNTERGANG DES HAUSES ROMANOW und anschliessend einen russischen ethnologischen Dokumentarfilm aus dem Jahre 1930 über eine im Bergmassiv des Kaukasus verlorene Landschaft namens Swanetien: SALZ FÜR SWANETIEN von Michail Kalatosow. Der Film ist gleichsam das russische Gegenstück zu Buñuels LAS HURDES, jedoch vollkommen anders gefilmt. Der Film ist sehr sehenswert. Er ist das Erstlingswerk jenes Regisseurs, der dann 1956 mit dem Tauwetter WENN DIE KRANICHE ZIEHEN international berühmt wurde.

5 LAS HURDES

Filmografie

CITIZEN KANE (USA 1941) R: Orson Welles.

F FOR FAKE (F/IR/D 1973) R: Orson Welles.

FOOLISH WIVES (USA 1922) R: Erich von Stroheim.

LAS HURDES (SP 1933) R: Luis Buñuel.

PADENIJE DINASTII ROMANOWYCH (DER UNTERGANG DES HAUSES ROMANOW) (SU 1927) R: Esther Schub.

UN CHIEN ANDALOU (F 1929) R: Luis Buñuel, Salvador Dalí.

Weiterführende Informationen

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