Geschichte, Gestaltung und Formen des Dokumentarfilms
Vorlesung 1
Vor fünf Jahren – 1985 – sprach ich hier zum ersten Mal über Dokumentarfilm. Die Filmstelle VSETH führte jeweils nach der Vorlesung Dokumentarfilme vor: gratis. Denn wer schaut sich schon Dokumentarfilme an? Die Lehrveranstaltung selbst nannten wir "Film und Realität", denn wer kommt schon in eine Vorlesung über Dokumentarfilm. Wir hofften auf diese Weise, die Studentinnen und Studenten zu einem Thema hinzuführen, das nicht unbedingt dem Lustprinzip unterlag. Dahinter lag die Hoffnung, dass, wer am Thema nippt, merkt, wie spannend die Beschäftigung mit dem Dokumentarfilm sei. Diesmal entsagten wir einer fiktionalen Titelgebung. So heisst die Vorlesung ohne poetischen Glanz ganz einfach: "Geschichte, Formen und Gestaltung des Dokumentarfilms", nüchtern, ohne Versprechen auf Unterhaltungswert – eben Dokumentarfilm, was Langeweile, Beschwerlichkeit, Gewichtigkeit assoziiert. Und schon stellt sich der Verdacht ein, dass es weniger der Dokumentarfilm sei, der uns schreckt, als vielmehr die Wirklichkeit, der wir uns über das Medium des Dokumentarfilms auszusetzen haben. Verweigerung der Wirklichkeit deckt sich durchaus mit Unlust.
Zugleich heisst Dokumentarfilm, dass das Narrative fehlt. Dabei bedeutet die Darstellung einer Wirklichkeit von einer Wirklichkeit erzählen, auch wenn, was wir die Story nennen, dem Dokumentarfilm vielfach abgeht – die, die uns so sehr im fiktionalen Bereich Spannung verspricht.
Die Frage taucht auf, was wohl spannender ist: die Konzentration auf ein Stück Wirklichkeit, die in der Wirklichkeit des Films aufgeht, oder die Storys, die uns an der Hand nehmen und uns zu einem Ende im Gutem oder im Bösen führen. Das nährt wiederum den Verdacht, dass uns das Objekt irritiert und nicht das zum Dokumentarfilm gattungsmässig eingeschränkte Medium Film.
Dokumentarfilme gelten als langweilig, denn ihnen geht die Fiktion ab, sie sind nicht Teil bildlicher und akustischer Imagination, die uns erlaubt, in dunklen Sälen auf Kinoreisen ins Land eskapistischer Träume zu gehen. Der Dokumentarfilm erhebt den Anspruch auf Darstellung der Wirklichkeit. Er erklärt den Film zum Dokument und grenzt sich ab vom realistischen Illusionismus wirklichkeitsnaher Spielfilme. Doch wie fiktiv sind Dokumentarfilme in ihrem Anspruch auf Darstellung der Wirklichkeit? Diese Frage wird uns durch die ganze Lehrveranstaltung beschäftigen.
Dokumentarfilme gelten als langweilig. Wer schaut sie schon an? Dabei sehen wir uns täglich am Fernsehbildschirm Kurzfilme des Dokumentarismus an: Nachrichtencollagen aus Bild und Ton, Reportagen des Augenblicks, dokumentarische Aufnahmen weltweiter Wirklichkeit, direkt in die gute Stube gesendet, millionenfach rezipiert.
Bei CNN steigen dank der Golfkrise die Einschaltquoten, und die Hiltonkette zahlt dank der Golfkrise das Mehrfache für die Werbezeit, denn, die Rezeption wird dank der Golfkrise flächendeckend. Und nicht nur Armeen sind aufmarschiert, sondern zugleich ist ein Stützpunktnetz von direktem Sendestationen inzwischen aufgebaut worden, sodass zum ersten Mal in der Weltgeschichte der Ausbruch eines Krieges live miterlebt werden konnte – seit der Mondlandung und anderen kleineren Medienereignissen – wie z. B. die Ermordung Sadats – das wohl gigantischste Medienereignis in spe. Direct Cinema, Aufnahmezeit und Rezeptionszeit zur stundenlangen Identität gebracht. Was Andy Warhol als Akt unverschämter Beobachtung versuchte, wovon Richard Leacock träumte, das Fernsehen hat die produktionsmässige Voraussetzung geschaffen: die nur durch den Wechsel der Sendepositionen geschnittene Dokumentation unmittelbar stattfindender Wirklichkeit. Die Ereignisse bestimmen die Montage der Bilder. Der Autor kann nur noch hoffen, richtig auf Draht zu sein, sodass die Dramaturgie der Aktionen den Wechsel der Bilder ausmacht: die andauernde Beobachtung der Kontinuität von Momenten, die unerträgliche Spannung eines Geschehens, von dem niemand weiss, wie es weiter geht. Die ungeplante Katastrophe, das nicht einsehbare Happy End.
Die produktionsmässigen Voraussetzungen sind geschaffen. Doch ist dies ein Dokumentarfilm – ein durch die aktuellen Ereignissen montierter Ablauf des Bildchirmgeschehens. Direct Cinema, das zum cinéma vérité wird. Leacock arbeitete zu Beginn der Sechzigerjahre an solchen Dokumentarfilmen, er wollte mit einer unmittelbar verfolgenden, anwesenden Kamera Themen einfangen – Kennedys Primärwahlen, die kommerzielle Auswertung einer Fünflingsgeburt, Autorennen, Fussballspiele – und wollte mit solchen grosses Material verschlingenden Filmen, die von einer journalistisch ergiebigeren Begebenheit ausgingen, den direkten Film schaffen, der sich roh und kantig, aktuell und stoffbezogen gegen jenen Dokumentarfilm zu stellen hätte, der gepflegt, schön fotografiert, perfekt geschnitten, sozial engagiert, realistisch-poetisch, vielfach mit fiktionalen Inszenierungseinschüben versehen den bis anhin gültigen Dokumentarfilm ausmachte.
Leacocks Einbruch war eine Wende im Dokumentarfilm, so wie die französisch Nouvelle Vague dem Spielfilm eine neue Richtung gab. Es galt, die Väter zu liquidieren. Leacock war die Wende. Um 1960 setzt eine neue Geschichte des Dokumentarfilms ein. Doch Leacock findet heute im Fernsehen statt.
Was einst eine Wende einleitete, ist heute Sendegefäss aktueller Gegenwärtigkeit – als Nachrichtencollage oder Themenmontage irgendwelcher Magazine, Panoramen, Rundschauen. Vielfach journalistische Wegwerfware, falls die Aktualität sich dank anders gearteter Ereignisse schnell wieder abbaut und sich thematisch entschärft.
Leacock findet im Fernsehen statt. Höhepunkt dessen, was als der beobachtende Dokumentarfilm postuliert wurde, der aufgrund der vorgelegten Materialien dem Zuschauer die Freiheit belässt, sich selbst eine Meinung zu bilden, sollte die Live-Sendung werden, die unter dem Druck der Ereignisse sich nicht mehr in ein Sendegefäss einbinden lässt. Die Aktualität als direkte Reportage eingebracht, sprengt selbst die Sendeordnung. Denn die Rezeptionszeit hat sich über die teilnehmende Beobachtung mit der Aktion zu decken. Was einst nur dem Sport vorbehalten war, dabeisein zu dürfen, auch wenn man nicht konnte, hat sich auf alles erweitert, was sensationell zu werden verspricht, auch wenn es ohne straffende Montage gesendet Wort – quasi als Langzeitbeobachtung stattfindender Aktualität – vielfach, was ganz im Widerspruch steht zum clipartigen, kurzatmigen Nachrichtenschnitt, in langen Einstellungen ausgerichtet auf das Ereignis. Auch dies Direkt Cinema. Der von 1960 an in immer wieder in andersartigen Formulierungen geforderte Dokumentarfilm eines filmischen Selbstverständnisses, das sich an die unmittelbare Transmission der Wirklichkeit verkuppelt, ist zum Fernsehalltag geworden.
Was als Dokumentarfilm bezeichnet wird, lebt jedoch weiter, vielfach, aber nicht immer und nicht von allen Sendestationen in Randzonen verlegt, ins Spätprogramm unter Titeln wie Kultur, Religion, Erziehung, Gesellschaft, Abenteuer untergebracht, oder mit einem Kürzel versehen, so dass man sich nicht mehr an die Genrebezeichnung Dokumentarfilm erinnert fühlt; einfach DOK genannt, in Grossbuchstaben DOK, als wäre es in englischer Schreibweise der Doc aus Kramers Amerika-Film ROAD ONE, den es im Xenix zu sehen gab und wahrscheinlich kaum je vom Fernsehen ausgestrahlt wird. Es gibt ihn noch – den Dokumentarfilm: im Kino und im Fernsehen, jenen Film, der als langweilig gilt und so sehr Film ist – Wirklichkeit Film –, dass man sich selbst in der filmwissenschaftlichen Publizistik immer wieder um ihn drückt.
Und zugleich gibt es das Medium Fernsehen, das schon durch seine Distributionsart sich selbst dokumentiert. Auf Video aufgenommen, wird ein Fernsehabend sich selbst zum Dokument: Selbstdarstellung des Dokumentarischen, so wie Lumière zu Beginn der Filmgeschichte den Film verstand. Ich setze einmal diesen Aspekt ein: weite Bereiche der Fernsehsendungen – Ansage, Nachrichten, Magazine, Live-Sendungen von Sport, Unterhaltung, Politik (z. B. direkt ausgestrahlte Pressekonferenzen) – sind nichts anderes als eine dokumentarfilmartige Collage, die der Zuschauer als eine permanente Aktualitätsteilnahme erlebt. Er ist dabei, sogar in die Sendung selbst einbezogen, wenn ihn die Ansage anspricht, als sässe er vis-à-vis – oder in der Kamera selbst.
Der Dokumentarfilm "Fernsehen" wird nicht als langweilig erlebt, wenn wir von den Einschaltquoten ausgehen. Sie brechen – nicht immer – zusammen, wenn im Dokumentarfilm "Fernsehen" der "Dokumentarfilm" selbst erscheint.
Ich setze in den Raum: Die Beliebigkeit der Bilder, welche den Dokumentarfilm "Fernsehen" ausmacht, erweist sich als goutierbarer als gestaltete Bilder. Die aus der aktuellen Zufälligkeit sich ergebende Wirklichkeitscollage erweist sich als ansprechbarer als die themenbezogene Stofflichkeit des zum Dokumentarfilm erklärten Films. Aktuelle Wirklichkeit, auch wenn sie schnell vergessen wird, oder vielleicht gerade deswegen, ist unterhaltsamer als gestalterisch abgeforderte Wirklichkeit.
Was den Dokumentarfilm "Fernsehen" – seine dokumentarische Selbstdarstellung – vom Dokumentarfilm unterscheidet, ist die Handhabung der Form, das Verständnis um die Bedeutsamkeit der Bilder und das eingegangene Engagement an die Wirklichkeit, d. h. an die Stofflichkeit des Themas. Dabei meine ich in diesem Zusammenhang einen Dokumentarfilm, der diese Qualitäten aufweist und nicht selbst zur radiophonischen Beliebigkeit, zur geschwätzigen Textbebilderung geworden ist.
Zynisch lässt sich formulieren: Der Zuschauer hat sich daran gewöhnt, dass in den Nachrichten- und Magazinsendungen, in den Sportsendungen, den Pressekonferenzen usw. die Bilder nicht nur laufend sich selbst kopieren, sondern auch austauschbar sind und somit als erträgliche Leichtigkeit des Seins, was auch mit Abnützung zu tun hat, Unterhaltungswert erhalten haben. Der Spielfilm – als Fiktion sowieso in die erholende Imagination verwiesen – lässt die aktuelle Wirklichkeit vergessen. Dem gegenüber steht der Dokumentarfilm, der formal und inhaltlich dem Zuschauer die Konfrontation mit seiner eigenen Wirklichkeitsbegegnung abfordert.
Dabei möchte ich einen weiteren Aspekt einbringen: Auseinandersetzung mit Dokumentarfilm heisst, sich der Wirklichkeit Film aussetzen. Denn im Dokumentarfilm – wie ich herauszuarbeiten hoffe – tritt der Film als Film nackt daher, existentiell erkennbar, was Film ausmacht, was Film zum Film macht.
Leacock findet im Fernsehen statt. Ich nehme diesen Gedanken noch einmal auf, denn er zwingt uns zur Sichtung des heutigen dokumentarischen Filmschaffens und zugleich zur historischen Abgrenzung.
Am 23. August 1990 strahlt CNN in Übernahme eine Live-Sendung des irakischen Fernsehens, weltweit zwischen 18:00 und 18:50 Uhr mitteleuropäischer Zeit ein Gespräch Saddam Husseins mit seinen Gästen aus, die in unserer Mediensprache Geiseln genannt werden. Die Kamera beobachtet in einer 50-minütigen Einstellung, weich und leicht schwenkend, im Raum von Totale auf nah und manchmal gross gehend, eine Gruppe von Menschen – Frauen, Männer, Kinder –, denen Hussein in väterlicher Gefälligkeit immer wieder seine Thesen wiederholt, sie seien Helden des Friedens, sie verhinderten den Krieg, den der amerikanische Präsident auslösen will, weil sie sich an schützenswerten Punkten befänden, sie seien die wahren Helden, da sie als Freunde Saddams den Krieg verhinderten. Die Kamera schwenkt über die Gäste, plattgedrückte Lippen, die verschränkten Arme eines Knaben, Blicke ohne Blick, erstarrte Haltung, die keine Gesten mehr zulassen, da sie verräterisch sein könnten.
Zuletzt ein Gruppenbild mit Saddam Hussein, und schliesslich der persönliche Handschlag, fotografisch klick-klick festgehalten, historisches Dokument für die Zukunft. Eingelassen und zur Beobachtung freigegeben, wie Saddam Hussein immer wieder den Kopf eines Knaben streichelt, die blonden Haare eines Mädchens, väterliche Gesten, und zur Beobachtung freigegeben, wie hinter Saddam Hussein ein Offizier steht, fast gleich wie Hussein aussehend – man fühlt sich an Kästners "Schule der Diktatoren" erinnert, sodass die fiktionale assoziative Frage entsteht, wer wohl wen zuerst erschiesst, der Oberst den General oder der General den Obersten, Putsch oder Hinrichtung – ein Bild von der Auswechselbarkeit der Diktatoren, falls es zum Gunfight kommt – scharf beobachtete Geschichte voller Geschichten, doch als Propagandafilm mit den Mitteln des Direkt Cinema realisiert, sodass in Sekundenschnelle ein Bild reinkommt, das nicht in die Propagandaregie passt: nämlich während Saddam Hussein sich nach dem herzhaften Händedruck vom Knaben abwendet, spukt der Knabe hinter dem Rücken Husseins auf den Boden.
Direct Cinema nimmt die Propaganda-Inszenierung auf, entlarvt zugleich das nicht inszenierbare Klima bis hin zur sekundenschnellen Geste, die vom Kameraauge erfasst wird. Nur ein kleiner Schwenk und die Tat hätte – dokumentarisch gesehen – nicht stattgefunden, denn sie wäre aus dem Bildrahmen gefallen.
Dies ist nichts anderes als Leacocks Direct Cinema, ungeschnittene Live-Beobachtung, einmal direkt gesendet, anschliessend, wenige Minuten später in den verschiedenen Tagesschauen wiedererkennbar, jetzt geschnitten, gerafft, montiert, selektioniert – als "News" redigiert, zum Nachrichten-Clip geworden und um die Ungeheuerlichkeit eines echten Direkt Cinema gebracht. Der Schnitt zensuriert die Grausamkeit der Wirklichkeitsbeobachtung, flacht sie ein zum thrillerhaften Unterhaltungswert abendlicher Nachrichten-Dokumente ab. Die lange Einstellung geht auf im Hick-Hack visueller und akustischer Sekunden-Informationen, in Bildfetzen, die Spannung erzeugen sollten, denn die Vorstellung einer bild- und filmfeindlichen Fernsehdramaturgie lautet: lasse nie ein Bild sich selbst sein, sonst schaltet der Zuschauer um. Doch dank der Live-Direkt-Sendung war möglich geworden, das Grundmaterial ungeschnitten zu sichten. Am Zuschauer lag es, für sich die subjektive Wahrheit zu finden. Was ist Propaganda-Sendung gedacht war, wurde dank der dokumentarischen Form des Direct Cinema im Fernseh-Live zur Materialaufbereitung, die dem Zuschauer die eigene Sehweise ermöglichte.
Das Direkt Cinema gibt die Beobachtung des Filmautors an die Beobachtung des Zuschauers weiter. Er soll mit seiner Sichtweise die Bedeutung des Gesehenen in selbstkreativer Anschauung erfassen.
Leacock findet im Fernsehen statt. Doch wo bleibt der Dokumentarfilm? Wiederum bezeichnenderweise wird im Fernsehen selbst definiert, was ein Dokumentarfilm sei.
In einem Interview über das neue Sendegefäss DOK im Schweizer Fernsehen wird der Dokumentarfilm vom Report abgegrenzt, der von der Aktualität gespiesen und vielfach, vom Alltagsmaterial der Korrespondenten zu 45-minütigen Filmen zusammengekleistert wird. Dem gegenüber stelle man sich "unter einem Dokumentarfilm eine recherchierte Geschichte vor, an der man gesellschaftliche Entwicklungen usw. aufzeigt." Da DOK aus der Fusion zweier "Zeitspiegel"-Redaktionen in der Abteilung Chefredaktion sowie Kultur und Gesellschaft hervorgegangen ist, stehen verschiedene Auffassungen, was den Dokumentarfilm anbelangt, zur Diskussion. Die einen Redaktoren kämen von der Information her und dächten deshalb aktualitätsgebunden und seien weniger aufs Inland fixiert, während die Redaktoren der Abteilung Kultur und Gesellschaft mehr auf soziale und gesellschaftliche Entwicklungen innerhalb der Schweiz ausgerichtet seien.
Des Weiteren wird unterschieden zwischen Themen, welche die Leute emotional ansprechen – diese Themen bringen es um 20 Uhr zu Einschaltquoten von über 20 % – und intellektuelleren Themen, bei denen dann die Einschaltquoten schnell sinken. Und selbstverständlich geht es um die Darstellung von Hintergründen, um Hinterfragen und nicht einfach um Berichte. Alle Aussagen sind inhaltsbezogen – als gäbe es keine formalen Kriterien, keinen Gestaltungsanspruch, keine formalengagierte Bezogenheit.
Keiner formuliert: Wir wollen Dokumentarfilme, visuell-intensive, bildstarke Gestaltung von Themen von uns umgehenden und andere Menschen umgebende gelebter Gegenwart oder gelebter Geschichte, wobei die verschiedensten Formen einem Thema gerecht werden können. Direct-Cinema-Berichte, die in ihrer visuellen akustischen Fokussierung in ihrer stringenten Beobachtung des Gegenstandes mehr über Hintergründe in der unmittelbaren Provokation eine kreativen Zuschauerrezeption voraussagen können als die mühsame Hinterfragung und Erforschung der Hintergründe – behutsame Beobachtung, die auch den Betroffenen Stimme verleiht, dokumentarische Pamphlete, ironisch-satirische Essays zwecks intellektueller, moralischer, politischer, religiöser Verletzung des Zuschauers. Doch es sollten Dokumentarfilme sein, die das angegangene Thema in die Wirklichkeit Film umsetzen. Was sich historisch als breite vielschichtige Palette des Umgangs mit dem dokumentarischen Material ausweist - Flaherty, Ivens, Wertow, Grierson, Leacock, Chris Marker, Wildenhahn, Wiseman – ist auch heute noch kreative Gegenwart.
Oder in die schweizerische Dokumentarfilmlandschaft übertragen, die in den Sechziger- und Siebzigerjahren und teilweise noch in den Achtzigerjahren marginal und innovativ war, heisst dies: Dindos dokumentarische, thrillerhafte Inszenierungsformen, Grafs behutsame Beobachtung, Lindenmaiers Sprache der Betroffenen, Beni Müllers Sensualität, Schlumpfs intellektuelle Materialnähe, Seilers Montagewille sind ebenso Sprache des Dokumentarfilms wie Hassers politische Poesie und ZÜRI BRÄNNT und BETONFAHRTEN und all die anderen Dokumentarfilme, die nicht oder nicht mehr gedreht werden, weil sie schlecht in Vorstellungsbilder passen, die den Dokumentarfilm in die Beliebigkeit der Aktualitätenshow konzessionspflichtig integrieren wollen.
Hintergrund dieser Situation ist eine einfache Tatsache. Der wichtigsten Geldgeber für Dokumentarfilme ist in der Schweiz neben dem Bund das Fernsehen, das konzessionspflichtig einen ausgewogenen Informationsauftrag zu erfüllen hat. Dabei hat die filmische Auseinandersetzung mit Wirklichkeit letztlich stets mit Agitation zu tun. Es geht um individuelle und öffentliche Aufregung und Bewusstseinskonfrontation, auch hier reicht die historische Palette von Flahertys romantischer Naturhelden-Ideologie über Wertows Agitkis und Joris Ivens Propagandafilmen zu Chris Markers poetisch-intellektuellen Provokationen und Wisemans Analyse der Institutionen als Schulung zur Demokratie.
Mein Einstieg in das Thema des Dokumentarfilms wirkt wie ein Einstieg in das Medium Fernsehen. Dies hängt mit der aktuellen Situation zusammen. Denn das Fernsehen ist nicht nur vielfach Geldgeber, Produzent und Produktionsstätte des Dokumentarfilms, sondern auch einziger Rezeptionsraum des Dokumentarfilms.
So ist bezeichnend, dass im Oktober 1988 die ARD zu einem Symposium an die Hochschule für Fernsehen und Film (HFF) in München einlud, unter dem Titel "Vom Ansehen der Wirklichkeit im Fernsehen". Dabei geriet das Symposium auf dem Hintergrund einer Retrospektive der zwischen 1957 und 1973 ausgestrahlten Sendereihe "Zeichen der Zeit" des Süddeutschen Rundfunks zu einer Standortbestimmung, die uns ermöglichen könnte, in das Thema der Lehrveranstaltung einzusteigen. "Vom Ansehen der Wirklichkeit": heisst dies, wie Peter Heller formulierte, dass die Bildschirmwirklichkeit der Neunzigerjahre nur noch aus Geiseldramenfernsehen, umweltpolitisch verbrämten Kulturfilmen über exotische Tiere, Länder und Abenteuer, evangelischen Bildungsprogrammen und von der Industrie gesponserten Dokumentationen bestehen wird? Oder heisst dies vielmehr, sich nicht um schöne, sondern "richtige Bilder" zu bemühen, und sich der "falschen Bilder zu entsagen, was soviel heisst, dass der Autor eine Haltung einnimmt? Diese weist sich auch in der Handhabung der Erzählstrukturen aus, so wenn von "totaler Verwahrlosung der Montage" (Heller) gesprochen wird, die sich aus der Umstellung auf die elektronischen Medien ergab, sodass die "Vidioten" ihre "skrupellose Videoclipmentalität" und ihre "Trickmätzchen" einbringen konnten.
Klaus Schreyer, der Leiter der Dokumentarfilm-Abteilung an der HFF, wollte sich nicht in die Selbstkritik einnisten und stellte auf eine Zukunftsperspektive hinweisend fest, der Dokumentarfilm, besonders der vom Fernsehen produzierte, habe die Verbindung zu einer grossen Tradition verloren. So habe sich der Dokumentarfilm vom Journalismus freizumachen, "von den Alten zu lernen" und sich wieder auf das Dokumentarisch-Erzählerische zu besinnen und wieder vom Cineastischen herzukommen: "seine Kraft aus dem Engagement zu gewinnen und zu einer attraktiven Filmsprache, das heisst auch Bildsprache, zurückzufinden".
Was wir in den "Magazinitis", den Sammelgefässen zerstückelter Inhalte und Themen und vielfach an Dokumentarfilmen sehen, sind informative Filme mit Interviews, abgesicherten Tatsachen, einverwoben mit begleitender Beobachtung – Radio-Filme, textlastig aufklärerisch, autoritär didaktisch, und was wir nicht sehen, sind Bilder, die nicht wegen eines sensationellen Inhaltes uns treffen, sondern uns haften bleiben – Bilder wie aus Buñuels LAS HURDES, Kramers ROAD ONE, Franjus LE SANG DES BÊTES. Was wir nicht sehen, sind Montagen wie aus Solanas LA HORA DE LOS HORNOS, Wertows TSCHELOWEK S KINOAPPARATOM (Der Mann mit der Kamera), Markers SANS SOLEIL, intellektuelle Konfrontationen wie Godards ICI ET AILLEURS, Markers LE FONDE DE L'AIR EST ROUGE, Kluges Gedankenfilme, Wisemans LAW AND ORDER, PRIMATE und filmisch-sinnliche Begegnungen wie Haile Erimas MIRT SOST SHI AMIT (Ernte 3000 Jahre).
Damit ist aufgezeigt, was ich mit meiner Lehrveranstaltung will. Aus der Konfrontation mit dem heutigen Dokumentarfilmschaffen in die Geschichte eindringen und dem Selbstverständnis des Dokumentarfilms nachgehen, wie es sich in der Machart und in den Formen ausweist. Der erste Teil ist eher historisch ausgerichtet. Wir beschäftigen uns mit den Anfängen des Dokumentarfilms, den "Naiven", den frühen Nachrichten- und Reisefilmen und wenden uns dann den historisch wichtigsten Exponenten des Dokumentarfilms zu: Flaherty, Wertow, Grierson, der englischen Dokumentarfilmschule, Joris Ivens, Ruttmann und den Kompilationsfilmen, Riefenstahl und dem nationalsozialistischen Propagandafilm und auch Capras WHY WE FIGHT. Im zweiten Teil gehen wir von Leacocks Direct Cinema und Jean Rouchs cinéma vérité aus und beschäftigen wir uns mit den verschiedenen Erscheinungsformen des gegenwärtigen Dokumentarfilms, wie er sich an Filmen von Ophüls, Marker, Wildenhahn, Junge (Langzeitbeobachtung), Wiseman, Dépardon und den dokumentarischen Werkstätten dingfest machen lässt.
Schauen wir uns den Anfang eines Dokumentarfilms an:
1 SAN CLEMENTE
Es handelt sich um den Anfang, den Einstieg in Raymond Dépardons und Sophie Ristelhuebers Dokumentarfilm SAN CLEMENTE: VOYAGE AU BOUT DE LA FOLIE. Ästhetisch und psychologisch sind Grundformen des Dokumentarfilms gegeben. Die Kamera dringt ein, die Beobachtung ist unmittelbar. Um bei der Wirklichkeit anzupochen, braucht es die Kamera-Flinte, die Bilder schiesst. Die Unverschämtheit des Reporters stellt sich selbst dar. Die Abweisung erfolgt zu Recht. Doch die Kamera wird wiederkommen und uns zur Begegnung mit einer eigenartig schwebenden, poetischen Landschaft von Menschen in einem Irrenhaus auf der Insel San Clemente bei Venedig mitnehmen: un voyage au bout de la folie.
Die ersten dokumentarischen Filme waren Reisefilme. Mit dem Kamera-Auge – dem bewaffneten Auge – brach man auf, um sich die Welt anzusehen und nach Hause zu bringen, was man mit dem Kamera-Auge gesehen hatte, sodass auch die zu Hause Gebliebenen Anteil haben konnten an der Exotik der Welt: die Exotik als das andere, ausserhalb von mir Liegende. Was das Kamera-Auge sieht, ohne dass ich selbst involviert bin. Denn ich schaue nur, was das flackernde Projektionslicht auf die Leinwand wirft. Bei Dépardon ist es die Landschaft des Wahnsinns. Ich werde später auf diesen Film zurückkommen.
Die Wirklichkeit erfassen, gleichsam ertappen, wie sie ist, wollten schon die Gebrüder Lumière mit ihren ersten Filmen. "La nature sur le vif" nannten die Lumieres ihren Arbeitsprozess: die Natur überraschen. Sie suchten geeignete Aufnahmeobjekte und entdeckten dabei die Mittel filmischer Gestaltung. Welche Objekte sie angingen, was uns Auskunft über die Sichtweise und das Selbstverständnis des Autors gibt, und wie aus der Naivität fotografischen Schauens die kinematografische Entdeckung wurde, wird uns das nächste Mal beschäftigen.
Was bei den Lumières als einzige Möglichkeit erschien, um mit dem neuen Apparat umzugehen, nämlich in aller Selbstverständlichkeit aufzunehmen, was den Augen wissenswert erscheint, wird über 60 Jahre später durch den Einbruch des Direct Cinema der Drew Associates zur ideologischen Abgrenzung einer Dokumentarfilmentwicklung, die immer ausgeprägter den Dokumentarfilm zu einer antifiktionalen Inszenierung werden liess, die letztlich selbst der Fiktion verfiel.
Die Filme der Lumières waren Beobachtungstableaus – ihre Arbeiter und Arbeiterinnen strömen aus dem Fabriktor, ein Zug fährt in den Bahnhof von La Ciotat ein ... Die Kamera steht da und schaut oder die Kamera bewegt sich auf einer Gondel, auf einem Zug und schaut.
Bei Leacock sieht dies folgendermassen aus. Ich zeigen Ihnen einen Ausschnitt aus dem Dokumentarfilm PRIMARY aus dem Jahr 1960. Robert Drew und Richard Leacock und ihre Kamerafreunde D. A. Pennebaker und Albert Maysles verfolgten mit ihren mobilen Reporterkameras die Vorwahlen von Kennedy und Humphrey. Ich zeigen Ihnen zur Illustration einen Ausschnitt aus der Kleinarbeit eines Kandidaten. Es geht um Werbung, es geht darum, sich selbst für die Primärwahlen anzubieten. Die Kamera ist hautnah dabei, distanzlos.
2 PRIMARY
Die Kamera ist der Reporter, der mitrennt, der dabei ist und den Zuschauer zur direkten Anschauung der Ereignisse mitzieht. Der Zuschauer ist in der direkten Konfrontation mit dem filmischen Gegenstand in die Dramaturgie der Ereignisse eingezogen. Der Film gibt vor, als würde er von den Ereignissen bestimmt, stets gegenwärtig, dass etwas Unerwartetes geschieht. Leacock versteht seine Arbeit durchaus journalistisch, bezieht die Spannung des Films vom Gegenstand her. Es geht um einen Kampf, einen Wettbewerb. Das Motiv des Gunfights erscheint auf die dokumentarische Ebene eines Wahlkampfes transformiert. Die Gestaltung lässt wenig Distanz. Der Zuschauer, zum Mitbeobachter geworden, fiebert wie bei einem Pferderennen dem Endergebnis entgegen. Die Finalität des Geschehens lässt die dokumentarische Erfassung des Wahlkampfes mit Spannung anreichern. So entsteht eine durchaus fiktionale Erzählstruktur: das filmogene Modell des Kampfes bestimmt die Dramaturgie des Films. Der Ausschnitt zeigte die Selbstwerbung des Kandidaten. Bleiben wir bei der Werbung. Reklamefilme wollen ein Produkt verkaufen. Deshalb beschreiben sie das Produkt. Sie dokumentieren das Produkt. Über Interviews, sinnlich-filmogene Darstellung erschliessen sie die Qualitäten des Produkts. Vielfach helfen Inszenierungen nach, um das Dokumentarische des Inhalts zu belegen.
Touristische Werbefilme kommen, falls nicht eine Liebesgeschichte zum szenischen Anlass genommen wird, meistens mit dem zu dokumentierenden Gegenstand aus. 1960 drehten Agnes Varda einen Dokument-Reklamefilm über die Côte d'Azur mit dem Titel Touristische Werbefilme kommen, falls nicht eine Liebesgeschichte zum szenischen Anlass genommen wird, meistens mit dem zu dokumentierenden Gegenstand aus. 1960 drehten Agnes Varda einen Dokument-Reklamefilm über die Côte d'Azur mit dem Titel DU CÔTÉ DE LA CÔTE. Im gleichen Jahr gewann sie mit diesem Film den grossen Preis von Venedig. Varda dreht mit den Mitteln des Dokumentarfilms einen touristischen Werbefilm, der zum Film über einen Werbefilm wird und somit wiederum als Dokumentarfilm den Werbefilm thematisiert. Sie spielt über Montage und Text mit der Machart eines Films, der vorgibt, etwas verkaufen zu müssen und dabei ein paar Regale daneben greift, um zu verkaufen, was nicht verkauft werden sollte, damit nicht verkauft wird, was sowieso einen Käufer findet. . Im gleichen Jahr gewann sie mit diesem Film den grossen Preis von Venedig. Varda dreht mit den Mitteln des Dokumentarfilms einen touristischen Werbefilm, der zum Film über einen Werbefilm wird und somit wiederum als Dokumentarfilm den Werbefilm thematisiert. Sie spielt über Montage und Text mit der Machart eines Films, der vorgibt, etwas verkaufen zu müssen und dabei ein paar Regale daneben greift, um zu verkaufen, was nicht verkauft werden sollte, damit nicht verkauft wird, was sowieso einen Käufer findet.
Denn es hat schon zu viele Touristen an der Côte d'Azur, die nicht wissen und nicht sehen, was die Côte d'Azur in Wirklichkeit ist und was sich auch noch findet, an der Seite der Côte. Unzählige Hotels heissen an der Côte "Eden", sie verspreche das Paradies "Eden" ist jedoch für Varda eine kleine Insel eben der Côte vorgelagert, am Strand finden sich zwei farbige Tücher und Adam und Eva liegen nackt im Sand. Es ist nur zu hoffen, dass keine Touristen kommen.
Wie in einem guten touristischen Reklamefilm sind alle brauchbaren Versatzstücke vorhanden: Sonne, Meer, Hotels, Plage, Gärten, Villen und schöne Menschen, hingemalt mit den hellsten sonnigen Farben eines ewigen Sommers und untermalt mit jener Musik, welche Ferien evoziert. Ein Film, wie er von jeder Tourismuszentrale erhofft werden könnte. Doch laufend wird gebrochen, was die Reklame ausmachen dürfte. Es beginnt schon damit, dass der Film, der die Côte verkaufen sollte, dem Cahiers du Cinéma Chefredaktor und Animator der Nouvelle Vague gewidmet ist: André Bazin, dem französischen Entdecker Orson Welles’ und dem Vater aller Truffauts, Godards und Chabrols. Zur Brechung gehört, dass die Klischees des Reklamefilms in ihrem Kitsch zum Nennwert genommen werden, denn nichts kann so schön sein wie Kitsch. Und die Côte ist ein grandioser, monumentaler Kitsch. Kitsch ist Kino. Kitsch, Kino und Klischees, als richtiger Cocktail gemischt, wird zum filmischen Spass.
Der Anfang des Films ist das Paradebeispiel einer Montage, die im Wechselspiel von Bild und Text in ironischer Brechung die permanente Verfremdung des im strahlenden Sonnenschein Dargebotenen vollzieht. Bezeichnend für den spielerischen Umgang mit der filmischen und der touristischen Materie ist der historische Überblick – über die Einheimischen und die ersten Touristen: ein echt historischer Dokumentarfilm. Auf lose Art, aus der dialektischen Spannung von Bild zu Bild, von Bild zu Text, von Schnitt zu Schnitt wird mit historischem Wissen und Bildungsgut umgegangen. Kulturmüll und Geschichtsschutt, zur Collage montiert, werden als Bildspritzer und Wortpointen hingeworfen, Bildteile und Satzeinfälle aneinander gereiht, durcheinander verwoben, doch schon ist es wieder vorbei und vergessen: Apérçus der Unterhaltung, modisch serviert à la St. Tropez.
Die Ironie des Moments vollzieht sich im banalen Bildwitz: das Kind schaut traurig auf die Schöne nieder. Der Kopf der Frau ist ein Hund, ist ein Kind, wie es sich aus der verfänglichen Beziehung schaffenden Perspektiven des Kamerastandortes ergibt. Bezeichnend sind auch die Schnittmuster, die Varda handhabt. Sie spricht von Picassos Sonne, und der Schnitt geht auf ein Restaurant, das Sonne heisst. Geist ist Materie, Kunst ist trivial. Wer schon keinen Matisse hat, besucht sein Grab. BB, in der Kaktee eingeritzt, und schon ist Brigitte Bardot Brigitte nationale, in Konkurrenz erscheint Sophia Loren. Und hinter allem steht die Sehnsucht nach Exotik – nach jenem Traum, der in den Reisefilmen aufgehen wird. Diesen Traum materialisieren, heisst auch, sich in die Exotik der Côte verlieren. Das verhindert aber nicht, dass ein Hund den Cro-Magnon-Schädel, den Schädel des ältesten Franzosen oder auch Touristen, abschleckt.
3 DU CÔTÉ DE LA CÔTE
Ein Dokumentarfilm über die Côte d'Azur, der zugleich ein Reklamefilm sein sollte und auf der Klaviatur filmischer Gestaltung spielend zum Metafilm über filmische Gestaltung wird. Hier ist vorgezeichnet, wozu immer wieder der Dokumentarfilm werden konnte, nämlich die sichtbaren Materialien der Wirklichkeit als Gestaltungsobjekt zu gebrauchen, sodass "cinema pur" entsteht. Licht und Schatten, Bewegungen, Aura der Wirklichkeit, sinnlicher Glanz der Gegenstände, Farbe, Geräusche, Tone, Musik werden Voraussetzung, um Film als Film darzustellen. Gerade weil der Dokumentarfilm so sehr auf das visuelle und akustische Material angewiesen und bezogen ist, wird an ihm die vom Zuschauer erfahrbare Wirklichkeit Film so gegenwärtig.
Zum Abschluss der heutigen Vorlesung schauen wir uns einen Industriefilm an. Auch Industriefilme sind Dokumentarfilme. Sie dokumentieren ein Produkt, einen Produktionsprozess, sie wollen aufklären, belehren, und sie propagieren vielfach auf sehr subtile Weise eine bestimmte Sehperspektive. Sie werben für Verständnis für eine industrielle Situation, stellen wissenschaftliche und technische Zusammenhänge dar und haben letztlich den Auftrag, ein Produkt zu verkaufen. Auch wenn die Industriefilme sich noch so sachlich geben, sich als informativ verstehen, sind sie nicht ideologiefrei. Gerade Industriefilme sind für eine Bewusstseinsanalyse geeignet. Den nun folgenden Industriefilm gebrauche ich nicht zu einer Analyse der Ideologievermittlung, sofern wir nicht die filmische Gestaltungsform als Ideologiekritik verstehen wollen. Denn in unserem Fall handelt es sich um einen Film, der die Schönheit des Produktes in einer artifiziellen Filmästhetik aufgehen lässt, sodass der Verdacht entsteht, dass die Brillanz der filmischen Gestaltung als eine irritierende Ironie der Werbung verstanden werden könnte.
Es handelt sich um Alain Resnais’ industriellen Werbefilm LE CHANT DU STYRÈNE aus dem Jahre 1958 mit einem Text des skurrilen, mit Sprache und Worten spielendem Poeten Raymond Queneau, der das Drehbuch zu ZAZIE DANS LE METRO von Louis Malle geschrieben hat. Ein Hohelied auf Plastik – auf Kunststoff. Als ginge es um die ewigen Kulturgüter Frankreichs, um Kunstwerke, wird Plastik als Kunststoff besungen. Inhaltlich gesellen ist Resnais' Film ein Dokumentarfilm über Produkt, Produktionsprozess und historischem Herkommen des Materials.
Für Resnais wird der Auftrag – denn es handelt sich um einen Auftragsfilm, Plastik in seiner Schönheit erstehen zu lassen, Anlass, filmische Ästhetik zu zelebrieren. Der Werbefilm für einen Kunststoff wird zum Dokumentarfilm der Filmkunst oder auch der Werbefilm für einen künstlichen Stoff wird zu einem Film über die Künstlichkeit filmischer Gestaltung. Wie dem auch sei, erst Assoziationen decken den Metacharakter von Resnais' Film auf. Denn fast peinlich wirken die wunderschönen weichen Travellings durch die Industrieanlagen, wenn man bedenkt, dass wenige Monate später Resnais die gleichen Travellings in HIROSHIMA MON AMOUR anwenden wird.
Ein industrieller Dokumentarfilm wird zum "cinéma pur". Hintergrund bildet die bereits angedeutete Feststellung, dass im Dokumentarfilm aufgrund seiner stofflich-materiellen Bezogenheit die Wirklichkeit "Film" im hohen Masse zum Ausdruck kommt. Und so wird LE CHANT DU STYRÈNE - dies tönt fast nach Homers "Odyssee" – zur Darstellung des Films an sich – zur Darstellung, was ein Dokumentarfilm an visueller und akustischer Gegenwart und Verzauberung zu leisten vermag. Und wenn wir zum Abschluss doch noch Ideologiekritik einbringen. Ist einerseits so viel Schönheit und filmische Brillanz nicht auch Zeichen einer Oberflächenwirkung, welche die Werbung sarkastisch werden lässt, und andererseits thematisiert Resnais nicht die Schönheit des Industriefilms, dessen Objekte sich nach Belieben auswechseln lassen, was die Käuflichkeit des Industriefilms aufzeigt. Resnais kann sagen: "Ich bin nicht käuflich, denn ich drehte einen Film über Film, über die Schönheit filmischer Gestaltung. Mein industrieller Werbefilm ist ein Metafilm, dessen Botschaft der Film ist."
Erläuterungen
Agitki: meist kurze Propagandafilme nach der Revolution 1917 in der Sowjetunion, die zum Ziel hatten, die Massen zu mobilisieren und im Geiste des Kommunismus zu erziehen.
Anwar as-Sadat: ägyptischer Präsident, der am 6. Oktober 1981 von einer islamistischen Gruppe vor laufenden Kameras während einer Militärparade in Kairo ermordet.
Brigitte Bardot: französische Filmschauspielerin und Idol der Fünfziger- und Sechzigerjahre, die St. Tropez an der Côte d’Azur weltberühmt machte.
Cinéma pur: „reines Kino“, Avantgardebewegung der Zwanzigerjahre, die sich vor allem auf das filmische Potential (Licht, Bild, Bewegung) besinnen wollte und das erzählerische Elemente ablehnte.
CNN (Cable News Network): amerikanischer Fernsehsender, der sich weltweit als erster reiner Nachrichtensender verstand, 1980 gegründet.
Direct Cinema: Strömung innerhalb des Dokumentarfilms, die danach strebt, das Geschehen in reiner Beobachtung wiederzugeben und sich gegen die Inszenierung oder Nachstellung wendet. Die Kamera sollte „wie eine Fliege an der Wand“ sein. Die Methode geht idealistisch davon aus, das aufgenommene Geschehen nicht zu beeinflussen. Die Filme besitzen keinen Kommentar.
Saddam Hussein: irakischer Diktator, der mit der Besetzung Kuwaits den zweiten Golfkrieg 1991 provozierte. Im Irak-Krieg 2003 wurde er gefangengenommen, zum Tode verurteilt und Ende 2006 hingerichtet.
Literaturhinweise
Heller, Heinz-B, Zimmermann, Peter (Hrsg.): Bilderwelten, Weltbilder: Dokumentarfilm und Fernsehen. Marburg: Hitzeroth, © 1990. (Bib. FIWI: F 1163)
Smith, Alison: Agnès Varda. Manchester [etc.]: Manchester University Press, 1998. (Bib. FIWI: P 1337)
Steinmetz, Rüdiger, Spira, Helfried (Hrsg.): Dokumentarfilm als "Zeichen der Zeit”: vom Ansehen der Wirklichkeit im Fernsehen. München: Ölschläger, 1989. (Bib. FIWI: F 1313)
Wildenhahn, Klaus: Über synthetischen und dokumentarischen Film: zwölf Lesestunden. Frankfurt: Kommunales Kino, © 1975. (Bib. FIWI: F 143)
Filmografie
PRIMARY (US 1960, s/w, 60’) P: Robert Drew, K: Richard Leacock, Albert Maysles, D. A. Pennebaker, Terry Filgate. DVD: New Video Group (US)
SAN CLEMENTE (FR 1982, s/w, 90’) R: Raymond Depardon, Sophie Ristelhueber. DVD: ARTE Editions (FR)
DU CÔTÉ DE LA CÔTE (FR 1958, Farbe, 25’) R: Agnès Varda, K: Qunto Albicocco, Raymond Castel, M: Georges Delerue, P: Anatole Dauman. DVD: Criterion Collection (US) als Bonus zu LE BONHEUR, Ciné Tamaris (FR) als Teil der Kollektion „Varda tous courts“
LE CHANT DU STYRÈNE (FR 1959, Farbe, 19’) R: Alain Resnais, P: Pierre Braunberger, K: Sacha Vierny. DVD: ARTE Video (FR) Bonus-Material zur französischen DVD zu Resnais’ MURIEL