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Mit «Cineastischer Eros – Sexualität im Film» wählte Viktor Sidler für seine Abschlussvorlesung an der ETH Zürich ein Thema, das seine grosse Leidenschaft für das Kino bestens widerspiegelte. Man könnte dabei von dreifacher Verführung sprechen: Der begnadete Filmvermittler und -verführer widmet sich einem Gegenstand, der ebenso verführerisch ist wie das Medium Film selbst. Gleichzeitig war es durchaus eine gewagte Vorlesungsreihe, der zweite Teil des Titels deutet es an. Zensur war nämlich für Viktor Sidler ein Fremdwort. Explizite sexuelle Darstellungen von den Anfängen des Kinos bis in die Gegenwart waren im nüchternen Vorlesungssaal der ETH Thema seiner Ausführungen und in Filmausschnitten zu sehen. Gleichwohl wurde Zensur zum Thema. Etwa die selbst gewählte Zensur der amerikanischen Filmindustrie, die sich ab den 1930er Jahren mit dem «Production Code» einen Moralkodex auferlegte. So kam es, dass in Hollywood das Objekt der Begierde gekonnt verhüllt werden musste und Intimitäten unausgesprochen blieben. Viktor Sidler zeigte anschaulich auf, wie der Film als Kunstform davon profitieren konnte.
Die technische Assistenz bei der Filmvorlesung der Abteilung XII der ETH wurde jeweils von einem Mitglied der Filmstelle VSETH/VSU übernommen. Ich erachte es als seltenes Privileg, dass ich Viktor Sidler bei seiner letzten Vorlesungsreihe assistieren durfte. Vor allem seine Herzlichkeit und seine Begeisterung für den Film, die er mit seinem wunderbaren Leuchten in den Augen weitergeben konnte, sind mir bis heute in bester Erinnerung geblieben.
Die Vorlesung «Cineastischer Eros – Sexualität im Film» war Viktor Sidlers Abschiedsvorlesung an der ETH Zürich und seine letzte Vorlesungsreihe an einer Hochschule überhaupt. Dass Sidler dieses Thema als Abschluss wählte, war kein Zufall. Mit seinem Kampf gegen die Zensur, wie sie sich etwa im Themenheft von CINEMA «Wider die Zensur» (Heft 57/58, 1969) finden lässt, hatte er sich bereits früh theoretische mit allen möglichen Aspekten der staatlichen Zensur auseinandergesetzt und dabei für deren Abschaffung plädiert, weil Normen und Werte einem steten gesellschaftlichen Wandel unterworfen sind und es keine objektiven Kriterien für eine Zensur gebe, sondern in ihr sich eigentlich nur stets staatliche Willkür manifestiere. Sidler ging dabei in seinen Überlegungen von einem mündigen Zuschauer aus, der selbst entscheiden kann, ob und was er sich auf dem Gebiet des Films (wie auch in der Kunst allgemein) zumuten möchte. Er respektierte den Schonraum der anderen, widersetzte sich aber vehement dem (staatlichen) Anspruch, diese Grenzen für andere zu ziehen. Denn in der Verletzung von Tabus, und damit manifestiert sich der Blick des Historikers, ist immer auch ein Akt der Revolte gegen bestehende, einengende Denksysteme zu sehen.
Die Auseinandersetzung mit dem Thema «Sexualität im Film» taucht in vielen von Sidlers Vorlesung zumeist am Rande auf, dass es ein zentraler Aspekt seines wissenschaftlichen Herangehens wie seiner allgemeinen Lust auf den Film oder seiner Lust am Film per se war, eine Herzensangelegenheit, lässt sich sicher erahnen aus dem Umstand, dass er sich damit verabschiedete. Am ehestens gibt es bei dieser Thematik Verbindungen mit seiner allerersten Vorlesung «Film und Gesellschaft» (1976), «Filmrezeption» (1977/78), in der am Schluss eine Übung über die Rezeption von Nagisa Oshimas AI NO CORRIDA (Im Reich der Sinne) stand, dessen Vorführung Sidler seinen Studierenden in der Aula Rämibüel ermöglichte, nachdem der Film in Berlin von der Staatsanwaltschaft am Festival beschlagnahmt worden ist und der Film in der Schweiz noch nicht angelaufen war. Am deutlichsten wird die Thematik manifest in der Vorlesung «Mythen, Rituale und Fantasien» (1983/84), mit der seine Vorlesungstätigkeit an der ETH seinen Anfang nahm. Somit schliesst sich mit «Cinematografischer Eros» gleichsam ein Kreis.
Und Sidler hätte sich etwas Leichteres suchen
können. Denn nicht nur die Darstellung der Sexualität im Film war
gesellschaftlichen Entwicklungen unterworfen, sondern auch die
wissenschaftliche Auseinandersetzung. Im Gefolge des Jahres 1968 kam das Thema
auf die wissenschaftliche Agenda und damit aus der etwas suspekt gewordenen
(und zumeist männlichen) Erotika-Ecke (in diesem Zusammenhang sind etwa Raymond
Durgants Erotism in the Cinema und Adou Kyrous Amour, erotism & cinéma
sowie Amos Vogels ungemein anregendenes Werk Cinema as a Subversive Art zu
nennen), in der es seit Beginn des Films zu finden war. Ein Meilenstein der
wissenschaftlichen Auseinandersetzung war Linda Williams Buch Hard Core:
Power, Pleasure and the «Frenzy» of Visible, das 1989 in Englisch erschien und
1995 auch auf Deutsch vorlag, ein Buch, das Sidler intensiv für seine Vorlesung
rezipierte, in weniger grossen Bedeutung auch Gérard Lennes Le sexe à l’ecran
(1981) sowie Der pornographische Film von Georg Seeßlen (1990). Nach der
befreienden Entdeckung sowie dem «Golden Age of the Porno» in den USA der
Siebzigerjahre kehrte vor allem unter dem Einfluss des Feminismus eine
kritische Haltung ein, die unter dem Solgan «Por-no» dem Genre grundsätzlich männerdominierte
und frauenverachtende Qualifikationen attestierte und zu einem «Pfui»-Thema
machte.
In den Neunzigerjahre war dieser eher eisige Wind, der dem
pornografischen Film keinen wissenschaftlichen Wert einräumte, noch spürbar.
Das ist vielleicht auch der Grund, dass der Begriff Porno im
Vorlesungstitel nicht auftaucht und dass der pornografische Film als solcher eher zum
Nebenthema der Vorlesung wird. Diese fokussiert eher auf eine allgemeinere
Sichtweise: die Darstellung von Sexualität im Laufe der Filmgeschichte, die
Beleuchtung des jeweiligen gesellschaftlichen Hintergrunds und vor allem auf
die Sensibilisierung, in welcher Form Sexualität im Film dargestellt werden
kann. Weniger das Was als das Wie steht im Vordergrund von Silders Interesse,
insbesondere die Schnittstelle zwischen Tabubruch und Innovation der
filmischen Gestaltungsmittel: «die Sexualität im Film verdichtet sich zum
cineastischen Eros», heisst ein gestrichener Satz im Manuskript der ersten
Vorlesung. An einer anderen Stelle ist von der «Sichtbarkeit des Unsichtbaren» oder von der visuellen Umsetzung des
Nichtdarstellbaren(?) die Rede. Ich glaube, dass sich damit ein methodischer
Leitsatz der Vorlesung zu erkennen gibt. Im ersten Teil der Vorlesung wird dies
mit einer filmgeschichtlichen Perspektive verbunden (Vorlesung 1–7), im zweiten
Teil (Vorlesung 8–14) ändert sich die Vorgehensweise zu einer vergleichenden
und phänomenologischen Perspektive, die sich Fragen des geschlechtspezifischen
Blicks, der erotischen Wirkung von Filmen, der Darstellung von Körper
und des Zusammenhangs von filmischer Form und sexueller Thematik stellt.
Ich denke rückblickend, dass Sidlers letztes Unternehmen eine mutiges, frei von allen Rettungsringen und Sicherheitsvorkehrungen, wie für seine Person essenzielles Unternehmen war, das von der grossen Lehrfreiheit profitierte, die damals von der ETH Zürich innerhalb der Abteilung XII herrschte, aber auch von der grosszügigen materiellen Ausstattung, die eine reichhaltige Visualisierung des Gesagten und Entwickelten ermöglichte. Kaum eine Vorlesung vorher weist einen derartigen Reichtum an Filmbeispielen auf, vielleicht auch geprägt dem Willen, nicht nur das Unsichtbare doch etwas sichtbarer zu machen, sondern auch davon, diesen Prozess zugleich mit der von Williams angedeuteten «Frenzy of the Visible» zu verbinden.