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Seminar für Filmwissenschaft

Cineastischer Eros – Sexualität im Film

Vorlesung 8: Der erotische Film nach 1975

Ende der Siebzigerjahre war der Traum von 1968, von einer allumfassenden Sexualbefreiung, wozu auch die Öffentlichkeit des pornografischen Films gehörte hätte, endgültig in das Sexbusiness pervertiert. Was als eine Kulturrevolution repressionsfreier Sexualität gedacht war und in offenen Beziehungen, und auf der Bühne, auf der Leinwand, in Happenings und Environements, in Sprache und Verhalten ihren Ausdruck hätte finden sollen, erwies sich als Illusion, gleich den gesellschaftlichen und politischen Utopien einer sich von Aggressionen, Ängsten und Unterdrückung befreienden Welt. Wilhelm Reichs Faschismus-Theorie liess sich nicht mehr mit "Make Love, Not War" in den Bildern von Antonionis Liebeslandschaft in ZABRISKIE POINT in die Wirklichkeit umsetzen. Dem entspricht der Rückzug ins Private, ins angeblich Intime, vor den eigenen Fernseh- oder Computer-Schirm. Was einst dem Clandestinen entstiegen war, erhält eine neue Heimlichkeit und damit die Möglichkeit, sich einen neuen Konsummarkt sexueller Verfügbarkeit zu erschliessen.  Denn es zeigte sich, dass die Schaffung von Pornofilmspielstätten, die Ende der Achtzigerjahre vielfach zu Individual-Onanie-Video-Kabinen wurden, und die Schaffung eines pornografischen Videomarktes nicht alle Bereiche sexueller Befriedigungsbedürfnisse zu genügen vermögen. Die homo-, hetero- und bisexuellen Darbietungen durch Theater, Film und Literatur, deren Kennzeichen die Öffentlichkeit war und die somit auch einer ästhetischen, gesellschaftspolitischen Kritik und Auseinandersetzung ausgesetzt war, werden durch einen der Öffentlichkeit entzogenen, erneut clandestinen Videomarkt verdrängt, der neue Sensationen und strafrechtliche Grenzüberschreitungen verspricht.

Ein weiterer Aspekt ist, dass selbst bei der Pornoproduktion, wie sie noch in die vereinzelten Pornokinos und auf den Videomarkt kommt, jegliche Filmkritik fehlt. Soweit ich es erfassen kann, schreibt nur das französische Penthouse regelmässig Filmkritiken über Pornofilme, übrigens auch über die CD-Rom- und Internet-Angebote. Es liesse sich also auf dem Platz Zürich für junge Journalisten eine Marktlücke finden. Im traditionellen Unterhaltungskino wird die zu Beginn der Siebzigerjahre einsetzende Entwicklung des Soft-Pornos à la EMMANUELLE und L’HISTOIRE D’O in Form von Erotik-und Sex-Filmen, insbesondere von Erotik-Thrillern, weitergeführt. Dabei kommt es zu einer Ausmarchung zwischen erotisch-sexuell aufgeladenen Thriller-Melodramen und einer Grenzziehung, die verhindern sollte, dass die pornografischen Ausdrucksformen, d. h. der real vollzogene Geschlechtsakt, im Spielfilm toleriert werden. Deshalb taucht denn auch immer wieder die für die Promotion des Films so wichtige Frage auf, ob sie es auch wirklich taten, auch wenn sie es nur spielten. Diese Fragestellung macht deutlich, dass die präzis inszenierte Fiktion, die um die konzise Darstellung der Details weiss, mehr sexuelle Wahrheit zu beinhalten vermag als der offensichtlich sichtbare Hardcore.

Die fiktionale Inszenierung schafft über die Handhabung der filmischen Gestaltungsmittel und über die Darstellungsweise der Schauspielerinnen und Schauspieler die für die Rezeption entscheidende erregende Imagination. "L'imagination au pouvoir" hiess es 1968 an den Wänden der Sorbonne. Doch nicht nur die erotischen Unterhaltungsfilme, insbesondere amerikanischer Provenienz, sondern auch filmgestalterisch und inhaltlich ambitionierte Filme reizen weiterhin, also ob es noch eine Zensur gäbe, den durch die Abgrenzung zum Pornofilm oder durch Strafartikel gesetzten Spielraum aus. So die Filme von Pasolini, Ferreri, Bigas Luna, Bertrand Blier usw. Bis jetzt gelang es nur Oshima, einen Film, der juristisch betrachtet pornografische Szenen enthielt, in die Kinos zu bringen, die nicht der X-Klassifizierung angehörten.

Wenn wir von den Sex- und Erotikfilmen ausgehen, lassen sich zwei Kategorien ausmachen: Die erotischen Melodramen, die vielfach dem Soft-Porno entsprechen, und die Erotik-Thriller. In den erotischen Melodramen (wie in Adrian Lynes 9 1/2 WEEKS, Polanskis BITTER MOON) unterbrechen in regelmässigen Abständen Sexszenen den Handlungsstrang. Nummern durchziehen den Film. In den Erotik-Thrillern sind die Sexszenen in die erste halbe Stunde einmontiert. Dann verdrängt Kino-Action den Sex. Die erotische Spannung wird von der Handlungsspannung abgelöst. Der Geschlechtsakt erscheint als ein retardierender Moment in der auf Thrill und Action ausgerichteten Handlungsdramaturgie. Sex wirkt im Thriller repetitiv, während die Action linear dem Handlungsstrang folgt, auch wenn die Action-Einlagen ebenfalls repetitiv sind.

Die Sexszenen bilden oft nur kurze Einschübe. Sie sind Unterhaltungsnummern wie die Verfolgungsjagden, die Schlägereien, die Feuerexplosionen mit Brand und Bomben. In den Piratenfilmen waren es einst die Tanzeinlagen, in den Exotikfilmen die Tempeltänzerinnen, in den Films noir die Striptease-Nummern. Seit Beginn der Achtzigerjahre werden Erotik-Clips in die Filme einmontiert. Dies wirkt besonders frappant in Tanzpräsentationen, die nicht durch Dramaturgie zu rechtfertigen sind, sondern nur dadurch, dass sie als Bild-Musik-Montage in Collagen des MTV-Programm übernommen werden können. Zudem erhält der Clip die Funktion der Filmpromotion. Als typisches Beispiel ziehe ich den MTV-geschnittenen und montierten Striptease von Kim Basinger vor Mikey Rourke in Adrian Lynes 9 1/2 WEEKS bei. Im Schuss-Gegenschuss-Muster wird vier Minuten lang Erotik zelebriert. Eine Inszenierung von farbigen Lichtpartikeln, gestyltem Dekor, Körper und Körperformen, Haut und Kleidungsmaterialien von leuchtender Seide: eine fotografische Reflexion über verführerisches Gegenlicht. Aus den sensuellen Körperbewegungen schält sich die streifenlose Nacktheit. Mit einem schwarzen Überwurf deckt der Mann den Body zu. Das modische Arrangement ist perfekt und bakterienfrei. Am Ende der Sexszene schwenkt die Kamera hinaus in die städtische Nacht. Die aufgebaute Erwartung wird nicht eingelöst. Die Sequenz versucht sich nur als eingeschobener erotischer Musik-Clip.

1 9 1/2 WEEKS: Musikclip zu Joe Cockers "You Can Leave Your Hat On"

Der Schau entspricht der Schauende, der Präsentation und der Exhibition der Voyeur. Im Schnitt-Muster des Films blickt der Zuschauer, die Zuschauerin dazwischen sitzend in der optischen Achse auf beide Protagonisten. Wie wir gleich auch beim nächsten Ausschnitt sehen werden – in Roman Polanskis erotischem Melodrama BITTER MOON –, erstirbt der Dialog, als käme es zu einer Rückkehr der Stummfilme – der Sprachlos-Filme, was sehr filmisch und visuell-akustisch eine Selbstdarstellung filmischer Gestaltung sein könnte: ein neues cinéma pur. Doch aus Angst vor der Langweile, der Abnützung der Bilder und Töne montiert eine MTV-Ästhetik eine Folge von Reizen, die in der Wiederholung zu Leerstellen werden.

Roman Polanski montiert die erotischen Musikclips in BITTER MOON gleich in Serie. Zunächst ein voyeuristischer Blick auf eine dunkle schleierverhängte Stelle, assoziativ sekundenschnell von Haarpracht zugedeckt – wieder lässt Rita Hayworth aus GILDA grüssen. Nur dauert die Tanzpräsentation kaum eine Minute. Eine Automobil-Haifischflosse markiert den Schnitt, um gleich einen weiteren Musikclip als sexualisierte Assoziation zu präsentieren: Milch als antizipierte Allusion auf eine ergiebige Fellatio, die gleich noch den Toaster spicken lässt. Es ist wirklich öde geworden in Pornotopia. Oder will Polanski die Werbebranche persiflieren, das Kino – Sex als Geste, und sonst gar nichts entlarven. Ich glaube vielmehr, Polanski müsste wagen, einen pornografischen Film zu drehen ohne Haremschleier und Milch, ohne „künstlerisch“ den pornografischen Film zu zitieren. Vielleicht würde sogar ein wirklich schräger, verrückter Film zwischen Männern, Schränken und weiblichen Vampiren entstehen.

2 BITTER MOON

Es stellt sich die Frage: wie präsentieren sich inhaltlich und filmgestalterisch auf dem Hintergrund der langsam verschwindenden Porno-Kinos und dem üppig gedeihenden pornografischen Videomarkt die erotischen Themen und die entsprechenden sexuellen Einlagen. Über die Filme legt sich wie eine Firnis das pornografische Bildgut, das im Kino nebenan oder auf dem Videoschirm zu Hause zu sehen wäre, aber da der Film nicht ein X-rated Film ist, nicht zu sehen ist, aber als unsichtbares Zitat in die Rezeption eindringt.

In BODY HEAT (1981) nimmt Lawrence Kasdan – es ist sein erster Film – den bereits mehrmals verfilmten Romanstoff von James M. Cains „The Postman Always Rings Twice“ auf: Ein Mann gerät in die Fänge einer Frau, verliebt sich in die und bringt aus Liebe zur Frau ihren reichen Ehemann um. Kasdan gestaltet den Stoff zu einem Sex-Thriller um. Grundschema ist das vom Pornofilm her bekannte Bild: Die wilde, geile Frau, die immer will, und der aggressive Mann, der immer kann. Mit Kathleen Turner und William Hurt und mit einer Musik, als sässen wir in einem Western.

3 BODY HEAT

Bitter – tu es. Und das Höschen so gelegt, dass es auch jeder und jede sieht. In der Folge wird Kasdan – mit Ausnahme von zwei Szenen – dramaturgisch immer vom Nachher wieder in die Geschichte einsteigen.

Noch deutlicher wird der Hintergrund der öffentlich gewordenen Pornofilme in den B-Filmen spürbar. So in DOUBLE CROSS, einem Erotik Thriller aus dem Jahre 1994 von Michael Keusch mit harten Männern und mit Kelly Preston, die wiederum in Anlehnung an den pornographischen Film die immer geile Frau zu spielen und zugleich Sharon Stone zu kopieren hat. Statt eines Dildos hat ein aus dem Leben gegriffener Polizeiknüppel für den Zitatcharakter zu sorgen. Was geschieht, wenn Frau und Polizist aufeinander stossen. Wieder dreht der Deckenpropeller und kündet uns heisse Lüfte an.

4 DOUBLE CROSS I

Der Clip dauerte etwa zwei Minuten. Im gleichen Film verarbeitet Michael Keusch in einer dreiminütigen Szene sämtliche von Paul Verhoeven in BASIC INSTINCT eingebrachten Situationen und Positionen zu einem gerafften Repetitorium. Ich gehe davon aus, dass Sie Verhoevens BASIC INSTINCT mit Michael Douglas und Sharon Stone einmal gesehen haben und somit die Zitate erkennen. Ich möchte jedoch den Ausschnitt in einen grösseren Zusammenhang einordnen. Einst schuf Hollywood seine Mondlicht-Küsse. Die Männer beugten sich, Rodin nachempfunden, über die Frauen in der Abendrobe. Hitchcock variierte die Küsse durch alle Gefährdungen hindurch und die Deutungen waren vieldeutig klar.
Seit den Achtzigerjahren haben sich ebenfalls Szenenmuster eingespielt, jedoch anderer Art. Ohne Analsex ist keine Leidenschaftsszene mehr zu verkaufen. Der Geschlechtsakt findet im Sinne der Gleichberechtigung (Corectness) stehend statt. Der Mann balanciert mit muskelstarken Armen die Frau auf seinem Penis und die Frau umklammert den Körper des Mannes, weil die ihn will. Oder er stellt sie an die Wand wie einen Dealer und nimmt sie von hinten. In schlechten Filmen werden Muster überdeutlich.

5 DOUBLE CROSS II

Steve Kloves Spielfilm THE FABULOUS BAKER BOYS erzählt die Geschichte der Gebrüder Baker, die mit Gesang und Flügeljazz durch Amerika tingeln und recht mühsam überleben: zwei Brüder, die in ihrem Charakter ebenso verschieden sind wie die beiden Schauspieler Jeff und Beau Bridges, die als Brüder im echten Leben die Gebrüder Baker spielen. In ihre schwierige Zusammenarbeit dringt eine junge Frau ein, gespielt von Michelle Pfeiffer, und gefährdet mit ihrer Anwesenheit das brüderliche Duo. Innerhalb des Films findet sich eine zehnminütige Sequenz, die im Gegensatz zur üblichen Machart der Erotik- und Sex-Clips sich Zeit lässt, eine erotische und erotisierende Geschichte aufzubauen.
Im roten Kleid auf dem schwarzen Klavier, licht- und farbumhüllt, von Michael Ballhaus, einem der besten Kameramänner schüffig gestaltet, singt Michelle Pfeiffer ihr Lied. Der Neujahrssong gleitet hinüber in einen längeren Dialog. Aus ihm entwickelt sich eine subtile Erotik-Szene. Grossartig der Morgen danach – die Verliebten der Nacht in ihrem Erwachen danach. Die Freundschaft zu den beiden Männern ist verspielt. Was bleibt, ist die Scheisse nach der gegenseitigen Verführung.
Auch hier wirken Zitate ein, jedoch nicht des pornografischen Films, sondern der Geschichte des amerikanischen Hollywood-Films. Mit anderen Mitteln entsteht wieder der Glamour von Einst: Der Film selbst als Erotikon.

Wenn wir jetzt all die erotischen Clips des amerikanischen Melodramas, Sexfilms und Erotik-Thrillers beibringen würden: von BASIC INSTINCT und DEAD INSTINCT, über BOXING HELENA, SOMETHING WILD und WILD ORCHID bis zu ZANDALEE und anderen Filmen, würden wir – mit Ausnahmen wie THE FABULOUS BAKER BOYS und anderen kurzen erotischen Momenten – immer wieder feststellen können, dass die erotischen und sexuellen Verhaltensmuster und -bilder auf dem Hintergrund eines historisch gewordenen Pornofilms ihre Repräsentation finden.

Paul Verhoeven durchbrach in BASIC INSTINCT mit ein paar Metern Film die Zwischenzone zwischen Soft- und Hardcore, indem er für Teilsekunden nur, Einblick in die Wunder der ungesehenen Welt gewährte. Und prompt löste er eine Medien-Reaktion aus, die ihm die beste Promotion des Films abgab und den finanziellen Erfolg sicherte. Männer verhören eine Frau, die eine mögliche Mörderin sein könnte. Das Verhör wird zu einer filmischen Reflexion über Blicke und Einblicke.

7 BASIC INSTINCT

Zu Beginn des Verhörs hat die mutmassliche Mörderin den Männern gesagt, dass sie nichts zu verbergen habe. Sie zeigt als Ahnung nur die Nacktheit ihres Geschlechts, eine provokative Irritation des Männerblicks, was jedoch nichts zur Wahrheitsfindung beiträgt. Die paar Meter Film verletzten die Norm des Versteckten, Verborgenen und streiften was dem Pornofilm zugehörig ist. Ich zeige Ihnen den Anfang der Sequenz. Dabei lässt sich feststellen, dass die erotische Wirkung der Szene nur bedingt von einzelnen visuellen Reizmomenten ausgeht. Die Erotisierung erwächst aus der Stimme Sharon Stones, die in einem grossen Bogen eine akustische Verführung hinmoduliert und sie entwickelt sich aus der Sprache, die in ihrer Offenheit und Direktheit die Sprache verschlägt.

Mit diesem Filmausschnitt schliesse ich den filmgeschichtlichen Überblick ab und wende mich einer filmkomparatistischen Betrachtungsweise zu, was nicht heisst, dass die Filmgeschichte ausgeklammert, sondern vielmehr thematisch fokussiert wird. Die Darstellung von Erotik und Sexualität im Film bleibt weiterhin Thema, auch Thema der Grenzüberschreitung, zugleich soll, wie die Gegenüberstellung der beiden Ausschnitte andeutete, der filmgestalterische Umgang mehr ins Zentrum rücken. Ich wende mich der Lust zu sehen zu.

Grundlage ist das Sehen an sich. Im Boulevard-Café sich hinsetzen und sehen: die vorbeiziehende Bewegung sehen und gelegentlich genauer hinsehen. Promenieren, aus der eigenen Bewegung heraus sehen, sodass sich bewegen ein Sehen in Bewegung wird. Daraus ersehen Sie bereits zwei filmische Ausdrucksformen: die Bewegung vor der Kamera und die Bewegung der Kamera. Sehen heisst aber auch, genauer hinsehen, mit den Augen insistieren, hinstieren und wegschneiden, was nicht dazugehört. Das Sehen wird zum Kadrieren. Der Blick von einem Berggipfel – Ausblick, Umblick, Panorama-Blick bis hin zum Blick in die Augen eines anderen Menschen, auf die Haut, auf die Lippen, auf die im Licht flimmernden Härchen. Sehen evoziert einen Sinnesgenuss. Die Reaktionen können jedoch verschiedenster Art sein, von Ekel bis Entzückung reichen oder auch in der Schwärze der Beteiligungslosigkeit versinken.

Sehen ist objektbezogen. Was sehen und was ersehen, und subjektbezogen heisst dies, wer sieht was. Die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt bestimmt die Sichtweise, und sie ist eine Frage des Blicks. Übertragen auf den Film heisst dies: die filmische Gestaltung determiniert den Kamera-Blick, hinter dem der Blick des Auges die Sichtweise bestimmt. Sehen heisst den Blick schweifen lassen – ins Unbestimmte, Zufällige, Anwesende.
Das Sehen hält inne, wenn der Blick auf eine Darbietung trifft. In der Darbietung erfolgt die Lust des Zeigens, die Lust an der Präsentation. Ihr gegenüber entfaltet sich die Schaulust, die für ihr visuelles Begehren sowohl die Zufälligkeit eines spontan Erkannten als auch die bewusste Darbietung braucht. In der Schaulust wird die visuelle Sinneslust auf die Präsentation gelenkt: auf die Promenade als Bühne, auf die Theaterbühne, auf die Leinwand, auf die Präsentation von Modespektakel, auf die Arenen von Sport und politischer Macht. Hier bricht nun ein, was als Grenzüberschreitung definiert wird, das Verbotene sehen und als Tätigkeit verboten sehen.

Sehen schliesst auch die Neugierde ein, die entdecken, enthüllen und erkennen will. Gierig auf Neues sein, auf das Unbekannte, auf das Ungesehene, auf das Geheimnis gierig sein – auch auf das dem Blick Verwehrte – auf das Verbotene. Teiresias erblindete, als er Athene, die Gepanzerte, nackt sah, doch dafür wurde er in seiner um die visuelle Sehenslust gebrachte Nacht sehend – der Seher, der nicht des sichtbaren Objektes bedarf.

Ich gehe zunächst von einem Text von Jean Paul Sartre aus, den Gertrud Koch in ihren beiden Aufsätzen "Schattenreich der Körper. Zum pornographischen Kino" (1981) und "Netzhautsex – Sehen als Akt" in Barbara Vinkems Aufsatzsammlung "Die nackte Wahrheit" (1997) beizieht. In "Das Sein und das Nichts" schreibt Sartre recht handgreiflich plastisch; geradezu buccolisch:

«Zudem ist in der Idee der Entdeckung, der Enthüllung, auch die Idee des aneignenden Genusses enthalten. Das Sehen ist Genuss, sehen heisst deflorieren. (Sartre) [...]
Übrigens ist die Erkenntnis eine Jagd. Bacon nennt sie die Jagd Pans. Der Forscher ist der Jäger, der eine weisse Nacktheit überrascht und mit seinem Blick vergewaltigt. Das Insgesamt solcher Bilder enthüllt uns somit etwas, das wir den Aktäon-Komplex nennen wollen. [...]: denn man jagt, um zu essen. Beim Tier entspringt die Neugier stets der Sexualität oder der Nahrungssuche. Erkennen heisst, mit den Augen essen.»

Dialektisch stehen einander gegenüber: mit dem Blick vergewaltigen – der Jäger durchbohrt mit seinem Pfeil die überraschte weisse Nacktheit – und die Lust Foucaults als Wille, die Lust zu wissen, mit den Augen das Objekt kannibalisch einzuverleiben, mit den Augen aufzufressen, wie Liebende es tun – die das Geliebte zum Fressen gern haben. Mit den Augen essen weist auf den sinnlichen Genuss des Erkennens hin: In Tex Averys Animationsfilm LITTLE RURAL RIDING HOOD (1949) heisst mit den Augen essen nicht erkennen, sondern ergreifen, danach greifen, es dingfest machen, mit Küssen stempeln: Sehen heisst küssen. Der Film gehört dem Theaterbereich "Rotkäppchen und der Wolf" an, den Tex Avery in immer neuen Variationen aufnimmt, um neben den Motiven von Gewalt und Aggression erotische und sexuelle Begierden einzubringen. Ein Country-Wolf verfolgt ein Landrotkäppchen. Von seinem Vetter in die Stadt eingeladen, erliegt er der Night-Club-Show-Prinzessin. Der Stadt-Wolf wiederum gerät – in Umkehrung der Situation – angesichts des Landrotkäppchens ausser sich. Was dem Stadtwolf im Nightclub keinen müden Blick mehr wert ist, entlockt dem Landwolf eine Seh-Exstase, und Sehen heisst Greifen. Da die Augen zupacken, ergreifen, mit Küssen einverleiben wollen, deckt ihm der Stadtwolf die Augen, die sich verselbständigen, immer wieder zu.

Alle Sinne des männlichen Blicks sehen nur noch das weibliche Objekt. In einer psychoanalytischen Rezeptionsanalyse geht Laura Mulvey in ihrem Aufsatz "Visuelle Lust und narratives Kino" von der "Frau als Bild“ und dem Mann als "Träger des Blicks" aus. Sie will die männliche Sehweise aufbrechen, damit die Frau als Zuschauerin nicht den männlichen Blick als einzig gültigen, der Kinoproduktion immanenten Zuschauerblick übernimmt und in der Adaption männlicher Sehweise, welche die Filmproduktion machtvoll bestimmt, sich selbst die Sinnlichkeit des Sehens zerstört.

In Tex Averys Rotkäppchenfilm wird die Frau schematisiertes Bild männlicher Vorstellungswelt und der Mann Träger des Blicks. Sinnliches Sehen verselbständigt sich, wird Groteskbild des Aufruhrs der Sinne, die in ihrer Vereinzelung und Verselbständigung niemals getröstet werden können. In Tex Averys "Schaulustfilm" geht die Schaulust als unerlöslich im Ambossschlag unter. Sie lässt den männlichen Zuschauer zum plattgedrückten, glattgewalzten Schubkarren seiner visuellen Lüste und taktilen Gelüste werden. Der Blick peilt das Objekt an. Doch der Sehende ist zugleich der vom Objekt Getroffene und muss mit seinen Reaktionen, Emotionen, Begierden und Lüsten – mit seiner Lust auf Handgreiflichkeit fertig werden. Nicht umsonst trennen Glasscheiben in den Live-Peep-Shows den Voyeur von dem sich präsentierenden Körper, damit er sich nicht vergreift – ausser wenn gegen Aufpreis die Scheibe hochgezogen oder weggeschoben wird. Was durchsichtig ist, wird durchgängig. Landwolf und Stadtwolf.

8 LITTLE RURAL RIDING HOOD

Doch vom Begehren des Objektes gibt es keine Erlösung. In RED HOT RIDING HOOD – 1943 – leidet selbst noch die Leiche an seiner voyeuristischen Sehnsucht.

Der Jäger überrascht die weisse Nacktheit und vergewaltigt sie mit seinem Blick, schreibt Jean Paul Sartre. Erkenntnis ist für ihn Jagd, und der Forscher ist Jäger. In Fritz Langs METROPOLIS erhält der Erfinder Rothwang, gespielt von Rudolph Klein-Rogge, vom Industriemagnaten Johann Federsen, dem Herrenmensch-Herrscher von METROPOLIS den Auftrag, Maria, die als "Heilige der Unterdrückten" mit ihrer Lehre von der Allmacht der Liebe eine Gefahr zu werden droht, in einen Roboter Maria zu verwandeln, der die Arbeiter zur Selbstzerstörung zu verführen hätte. Rothwang, der Forscher und Erfinder, jagt Maria. Die Lampe als Verlängerung des Blicks spiesst den Körper auf und vergewaltigt auf Distanz, ohne Berührung, nur mit dem Lichtstrahl, der sie jagt. Die Lampe ist das Auge, das sich vom Jäger gelöst hat und als Lichtkegel gnadenlos unbarmherzig die Frau verfolgt: als Akt sexueller Gewalt. Brigitte Helm spielt mit einer expressiven hysterischen Körpersprache die Verletzungen durch Auge und Licht. Die Reaktionen Marias gleichen den hysterischen Spasmen, wie sie Charcot in seiner „Iconographie photographique de la Salpêtrière“ fotografisch festgehalten hat: das Spannen des Körpers bis hin zum Schlagen eines Bogens.

10 METROPOLIS I

Als Roboter taucht Maria wieder auf und entsteigt der Büchse der Pandora. Der Blick der Männer auf das Ebenbild, das als Automat fleischlicher und verführerischer wirkt als die reale Maria aus Fleisch und Blut, bestätigt dem Forscher Rothwang, das das Werk geglückt ist. Wieder – wie in den Filmen Tex Averys – wollen die Männer danach greifen, was den Augen dargeboten sich der Berührung entzieht. Der Blick der Männer verschlingt das erotische Objekt. Doch die Schaulust findet keine Erlösung in taktiler Sinnlichkeit. Die expressive Art-Deco-Szene auf dem Hintergrund von erstarrten Glasaugen ist parallel zum Fieber des jungen Federsen geschnitten, der sich in die menschliche Maria verliebt hat.

11 METROPOLIS II

Erstarrte Glasaugen schauen als Hintergrund uns an. Apollinaire, der französische Dichter des Symbolismus, nennt im Zusammenhang mit dem ersten Weltkrieg die Artillerie-Geschosse tote Augen, die zielgerichtet abgeschossen, den Gegner über Distanzen hin treffen und vernichten, ohne dass der Schütze den Getroffenen sieht. Krieg als in den Raum gezeichnete Bahnen toter Augen. Blicke können töten. Das führt uns zu PEEPING TOM von Micheal Powell hin, 1960 in England entstanden. Was in Fritz Langs METROPOLIS die Lampe als bedrohliche Verlängerung des Auges ist, ist in Michael Powells PEEPING TOM der im Kamerastativ versteckte tödliche Pickel.

In der Nachkriegszeit war Michael Powell in Zusammenarbeit Emeric Pressburger durch Ballettfilme wie THE RED SHOES (1947) und THE TALES OF HOFFMANN (1951) international bekannt geworden. In schwelgerischen Dekors und in leuchtenden satten Technicolor-Farben inszenierten und choreographierten die beiden für die damalige Zeit provokativ sinnliche Tanzszenen, die Solotänzerinnen wie Moira Shearer und Ludmilla Tchérina als fantasieanregenden attraktiven Mittelpunkt hatten. 1960 eröffnet Michael Powell PEEPING TOM mit einem Travelling, das auf der Identifikation von Zuschauer und Zuschauerin mit dem Kameramann und dem Kamera-Auge beruht.

12 PEEPING TOM I

Sehen als Tötungsakt: In Deutschland lief der Film unter dem Titel AUGEN DER ANGST, in Italien DAS AUGE, DAS TÖTET. Eine Kamera-Assistenz fotografiert nebenberuflich in einem geheimen Studio attraktive Frauen, die unter dem Ladentisch in einem Zeitungskiosk verkauft als verbotene Bilder von Pin-up-Girls angeboten werden. Der Kameramann selber bezeichnet sich als „Observer“-Reporter: Doch was will er beobachten, mit seinem Kamera-Auge erblicken und auf Film bannen. Mit einer unter dem Mantel versteckten Kamera – also wie ein Exhibitionist – verfolgt er Frauen mit dem Kamera-Blick. Filmen will er sie, wenn an seinem Kamerastativ das blanke Messer, den Pickel der Verhüllung entledigt und im Gesicht der Frau Angst auslöst. Es ist der Akt des Vergewaltigers, der seine Macht erspüren will, nicht die taktile Berührung. Über das Gesicht des Opfers flackert das Rothwang-Licht, das in METROPOLIS die Frau aufspiesst. Das Licht als der verlängerte Blickstrahl der Kamera lässt das Objekt sichtbar werden, sodass die durch die tödliche Bedrohung ausgelöste Todesangst die notwendige filmische Plastizität erlangt. Die „Augen der Angst“ finden ihre Entsprechung im „Auge, das tötet“. Der Kameramann filmt nicht das erotische Objekt, sondern die durch die Identität von Kamerablick und Pickel ausgelöste Angst.

Powells Film erscheint als filmische Reflexion über den mörderisch tödlichen Blick voyeuristischer Obsession. Im Moment des Erschreckens und Sterbens wird Sehen als Tötungsakt ersichtlich. Der Film gibt zwar psychoanalytische Erklärungen ab; der Vater missbrauchte mit Kamera und Mikrofon visuell und akustisch das Kind mit Terrorerlebnissen, die er auf Zelluloid und Tonband festhielt, und schuf auf diese Weise den Wiederholungszwang des Opfers zum Täter.

Für unsere Thematik ist vielmehr entscheidend, dass Erkennen nicht nur genussvoll essen, sondern zerstören des erblickten Objektes heisst. Erkennen heisst für Jean Paul Sartre mit den Augen essen. Für Tex Avery heisst sehen nicht erkennen, sondern in taktiler Lust packen und küssen. In METROPOLIS jagt der Forscher mit der Lampe als Blickstrahl das Erblickte. Die Augen der Männer verschlingen die sinnliche Ausstrahlung der falschen, künstlichen Maria. Vergeblich greifen sie nach ihr. Bei Powell wird der Blick tödlich. Der Kameramann kann die Frauen nicht berühren, nicht taktile Lust empfinden, er kann sie nur töten und im Bild ihrer Todesangst die eigene Befriedigung finden. Wie sehr sehen als Tötungsakt ein Tabu berührt und bedrohlich, verstörend wirkt, zeigt sich in der Rezeption von Powells Film. Als sein Film 1960 in England anlief, wurde er von Presse und Öffentlichkeit aufs heftigste abgelehnt. „Man solle den Film schleunigst die Toilette hinunter spülen, doch selbst dann würde noch der Gestank übrig bleiben“, schrieb ein Kritiker. Die Karriere von Michael Powell war ruiniert, und Karl Heinz Böhm, der männliche Held der Sissi-Filme, konnte jahrelang keine Rollen mehr finden, bis Fassbinder ihn wieder einsetzte. Die Verbindung von Voyeurismus, Sexualität und Aggression schien zu sehr die abgründigen Seiten der Schaulust zu tangieren.

Sehen als Tötungsakt ist der eine Aspekt. Dass wiederum keine Berührung möglich wird, der Voyeur die Distanz zum Objekt nur mit dem tödlichen Pickel zu überwinden vermag, wirft wiederum den Blick auf eine nicht erlösbare Emotionalität des Blickenden zurück. Was Peeping Tom interessiert, ist die von ihm erzielte Angst, die er als Todesangst filmen will. Dies lässt sich einerseits als die Macht des vergewaltigenden Blicks, als Macht des Vergewaltigers erkennen, zugleich – das ist der andere Aspekt – geht es aber auch um das Erkennen des Todes, der für den Voyeur nur über die Angst erkennbar wird. Dies führt uns zu Marquis de Sade, der im Willen, um seine eigene Lust zu wissen, ebenfalls das Opfer vernichtet. Peeping Tom jedoch wendet am Ende des Films den Pickel gegen sich, filmt als Antizipation des Todes seine eigene Angst. Nur wird er das Bild davon nie mehr sehen. Mit seinem eigenen Tod löscht er das Bild aus, das er über seine Mordinszenierungen zu erlangen erhoffte. Der Film ist nächstens in Zürich zu sehen.

13 PEEPING TOM II

Inmitten der Explosion der Fotolampen findet er pathetisch seinen Tod, von dem er Helen, die ihn liebt, bewahren will und zu der er keine Beziehung fand. Wiederum scheitert der Voyeur an der Unfähigkeit, die Distanz zu seinem Objekt in der taktilen Lust zu überwinden. Ganz anders geht Dziga Vertov mit dem Kamera-Auge um. Für ihn ist das Kamera-Auge das bewaffnete Auge, das die „Natur auf frischer Tat ertappt“ und ein Auge der Wahrheit ist. Der voyeuristische Blick ist der Kamera immanent. Sie ist genauer als das menschliche Auge, beweglicher, näher beim Objekt. Sie ist die Maschine, die das Leben erfasst. Entscheidend ist nur, dass die Bilder, die der Kameramann auf seiner Jagd einfängt, die Wirklichkeit interpretieren, sodass sie eine revolutionäre Veränderung einfordern. So sind für ihn Bilder einer Intimität – eine Frau erwacht und wäscht sich – den anderen Bildern der Wirklichkeit gleichzusetzen, welche die Arbeit des Kamera-Mannes beschreiben und die Mechanik des Kamera-Auges bewundern, die dem menschlichen Auge nachgebildet jedoch viel effizienter ist. Ich zeige Ihnen jene material- und hautnahen Bilder, die Godard in UNE FEMME MARIÉE zitiert.

Für den Dokumentarfilmer ist der Voyeurblick der Kamera in der Identität mit dem Kameramann aufgehoben. Sein Objekt ist die Wirklichkeit, die in der Montage des Films das überrumpelte Leben zu einer neuen Wirklichkeit gestaltet. Doch – bei Vertov – kann sich das dokumentarisch angegangene Objekt dem Zugriff der Kamera entziehen. Der Voyeur blickt ins entleerte Bild.

Filmische Reflexionen zum Thema des Sehens liessen sich die Beispiele benennen. Sie umkreisen die voyeuristische Obsession und berühren das Thema der Distanz, im Bild selbst als taktiles Unvermögen angesprochen, für uns als Rezeptionserfahrung zugegen: wir vermögen nicht in die Leinwand einzusteigen. Deshalb ist auch im Porno-Business die virtuelle Realität das neue Geschäft. In den frühen Stagfilmen forderten die Zwischentitel auf, zum Mädchen nebenan zu gehen, was keine virtuelle Realität war. Wir entheben uns jeglicher virtuellen Realität und filmischen Illusionismus und schauen uns zum Abschluss einen Animationsfilm an, der unser Thema anspricht, da er uns zum Voyeur macht, aber keine Identifikation erlaubt.

Der Animationsfilm hebt sich durch Verzerrung, Karikatur und Fantastik vom Gegenstand ab. Einen Animationsfilm anschauen ist reines Schauvergnügen, das jedoch individuell sehr verschieden genossen werden kann. Ich zeige Ihnen den Vorfilm zum Vorspann von Lasse Brauns, respektive Alberto Ferros Film FRENCH BLUE, 1974, der Cinéma-vérité-Sequenzen über die Arbeit an einem Pornofilm mit erotischen Grotesk-Filmen verband. Da 1974 zu den Filmen stets noch neben der Werbung und der Wochenschau auch ein Animationsfilm gezeigt wurde, wird gleich der entsprechende Kurzfilm zum Hauptfilm hinzu produziert. Der Zeichentrickfilm stammt von Siné, einem bekannten Comic-Zeichner, der ein Vorläufer von Wolinski ist, dem Sie sicher schon mit seinen bitterbösen sexualisierten Comics in französischen Magazinen begegnet sind.

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