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Seminar für Filmwissenschaft

Cineastischer Eros – Sexualität im Film

Vorlesung 7

Vilgot Sjöman wollte mit seinem 1967 entstandenen Film ICH BIN NEUGIERIG – GELB über sexuelle Provokation politisches Bewusstsein aktivieren. Dies gelang ihm ebenso wenig wie Dusan Makavejev – vier Jahre später – mit seinem sexual-politischen Film WILHELM REICH ODER DIE MYSTERIEN DES ORGANISMUS über die Zusammenhänge von unterdrückter Sexualität und Faschismus. Es waren andere Filme, die politische Reflexionen mit erotisch-sexueller Gegenwärtigkeit verbanden, wie z. B. Alain Resnais' 1965 entstandener Film LA GUERRE EST FINIE mit Ingrid Thulin und Yves Montand.
Vor 1968 bahnen sich Veränderungen an. In Osteuropa bringt das politische Tauwetter neue Bilder hervor, und in Frankreich antizipiert Godard in MASCULIN-FEMININ 1965 die Sprache von 1968. Antonionis BLOW UP irritiert, wie schon seine früheren Filme der Sechzigerjahre, mit einer seismografischen Zeitverhaftung und Beobachtung und umkreist in ästhetisch-kühler Distanz das erotische Beziehungsgefüge der Geschlechter. Zum ersten Mal sind Schamhaare auf der Leinwand zu sehen. Seit LA DOLCE VITA (1959) ist Feillini zu seinen barocken Deckengemälden von Cinécitta-Kathedralen aufgebrochen, und der italienische Neorealismus hat bereits 1949 mit Guiseppe de Santis RISO AMARO, einem erotisch aufgeladenen gewalttätigen Melodrama, die kommerzielle Anerkennung gefunden und lebt als Unterhaltungsfolklore mit populären Stars wie Sophia Loren und Gino Lollobrigida weiter.

In der „Walche“ laufen die Mondo-Cane-Filme an, im „Forum“ an der Langstrasse die Filme von Mario Bava, die letztlich gewagter sind als Bergmanns DAS SCHWEIGEN. DANZA MACABVA ist zum Beispiel in gewissen Kinos in Zürich mehr toleriert als in den Studio-Kinos, die Filmkunst und Kultur verkörpern. In den Stüssihof gelangen die ersten „Nudies“, amerikanische Nudistenfilme, bei denen es nichts zu sehen gibt, denn aufgrund des Hays Codes sind die Damen ohne Unterleib. Da taucht im Stüssihof ein Film auf, den Sie möglicherweise vor nicht zu langer Zeit am Schweizerischen Fernsehen, im Spätprogramm gesehen haben. LORNA, 1964 entstanden, von einem gewissen Russ Meyer, hat – nicht gerade in der Schweiz – inzwischen Kult-Status erlangt, nachdem er 1982 bereits, respektive 1983 im National Filmtheater in London und in der Cinemathéque in Paris mit umfangreichen Retrospektiven geehrt worden war. Mit LORNA macht sich ein neuer erotischer Film bemerkbar. A la Steinbeck und Faulkner entsteht in den grauen Bildern so etwas wie ein amerikanischer Neorealismus der einfachen linearen Art. Den Hintergrund bildet Erskine Caldwells Theaterstück "Gottes kleiner Acker", das ungefähr zur gleichen Zeit im damaligen Boulevard-Theater “Central“ mit Leopold Biberti und Blanche Aubry als realistisches Skandaltheater aufgeführt wurde. (Es gibt auch einen Film von Anthony Mann).

Um uns in die Zeit einzufühlen, schauen wir uns eine bittere Ehebettszene zwischen einer unbefriedigten Ehefrau und einem schnell befriedigten Ehemann an, welche vom Dialog her mit knappen Sätzen die Situation umschreibt.
„Würdest du ... Könntest du ... vergiss es.“
„Danke schön, Madame.“
In einem grobkörnigen stimmungsvollen Schwarz-weiss-Kino wird der nicht sichtbare Geschlechtsakt auf durchsichtige Vorhänge übertragen, die sich im Rhythmus wölben, als wäre das dunkle graue Zimmer die Frau, und der Penis stiesse durch das Fenster in das Zimmer. Die Ava-Gardner-Statue Lorna Maitlands weist auf die weitere Entwicklung von Russ Meyers Obsessionen hin.

1 LORNA

LORNA das war 1964. In den nächsten vier Jahren dreht Russ Meyer acht Filme: irre Rocker, wilde Weiber und immer mehr Busen, FASTER PUSSYCAT, KILL, KILL! Und 1968 realisierte er VIXEN, baut als konservativer Antikommunist politische Themen wie Rassismus, Kommunismus und Kriegsdienstverweigerung ein, als, wie Russ Meyer selbst sagt, soziale Relevanz, um sich vor gerichtlicher Verfolgung zu schützen, oder, wie ein Staatsanwalt bemerkt, von den 45 Minuten abzulenken, in denen gefickt wird. Trotz Ärger in einzelnen Staaten, die den Film wegen Obszönität beschlagnahmen, spielt der Film bis 1980 19 Millionen Dollar ein, dessen Produktionskosten auf 72 000 Dollar beliefen, zusätzlich eine minimale Beteiligung der Mitarbeiter an der Auswertung des Filmes. Vier Jahre nach LORNA inszeniert Russ Meyer in VIXEN eine Liebesszene zwischen zwei Frauen auf einem rot leuchtenden Bett mit assoziativen Zwischenschnitten. Inzwischen sind seine Filme farbig geworden.

2 VIXEN

Unversehens hat sich im amerikanischen Unterhaltungskino der Softporno eingeschlichen: Fiktionale Sexszenen ohne Blick auf das Geschlecht. Als Vergleich: Chantal Ackermann dreht mit JE TU IL ELLE in 1974 ihre unvergleichlich stärkere Liebesszene zwischen zwei Frauen. Indem sie ihren eigenen Körper im Zusammenspiel mit ihrer Freundin bewegungsgeladen und sensitiv der Kamera aussetzt, schafft sie ein filmisches Manifest des lesbischen Eros, das sich nicht mit der eben gesehenen Szene vergleichen lässt. Wir befinden uns im amerikanischen Unterhaltungskino, das nicht von existenzieller Notwendigkeit ist, jedoch Umbrüche ankündigt, wie auch in der folgenden Szene heterosexueller Art. Dabei geht die Fiktion von einer inzestuösen Beziehung zwischen Schwester und Bruder aus: Ein Tabu des Unzeigbaren.

3 VIXEN II

Der Ausschnitte von Russ-Meyer-Filmen, zwischen 1964 und 1968 entstanden, von linearer Machart, Sexfilme wollen sie sein als Verwirklichung von Träumen eines Filmautors im Bereich des Trivialfilms: ein hochbegabter Amateurfilmer, der mit Film Geld verdienen will und die Karriere in Hollywood ausschlägt, ein Aussenseiter. Mit seinen Filmen spiegelt er sehr plakativ Veränderungen und antizipiert Entwicklungen. Seine Crew schickt er, schwedische Filme anschauen, denn Skandinavien gilt als der Hort neuer Freiheiten und Selbstverständlichkeiten. 1969 ist Amerika das Jahr von Woodstock: Sie kennen den Film. MAKE LOVE, NOT WAR. Amendt verkündet in Zürich: Treibt es in den Turnhallen und zwischen den Tramschienen. In Dänemark, das 1968 die Pornografie legalisiert, treten Publikationen und Dokumentarfilme für eine sexuelle Befreiung ein. In Kopenhagen findet eine Ausstellung statt: „Sex 69“ mit Live Shows von Sexualakten auf der Bühne. In San Francisco laufen die ersten Hardcore-Streifen.

Im Zusammenhang mit den Filmen Mae Wests konnten wir verfolgen, wie im Zitat des Unterhaltungstheaters, des Cabarets und Tingeltangels des ausgehenden 19. Jahrhunderts im Film eine Umsetzung vergangener Theaterzeiten stattfand. Anders Ende Sechzigerjahre. Das Theater wirkt direkt auf den Film. In den erotischen Kammerntheatern z. B. von Düsseldorf und München (intimes Theater, Theaotron Erotikon) ersteht wieder das clandestine Theater von Wien und Berlin der Zwanzigerjahre – gleich den neuen erotischen Theatern von Paris und New York. Es ist die Bühne – es kann dies auch nur ein Zimmer oder ein kleiner Raum sein, die vor dem Kino mit der Inszenierung von Underground-Stücken – wie Picassos „Dadaismus“. Wie man die Wünsche am Schwanz packt, mit Nacktrevuen wie „O Calcutta“, die Jahrelang in Paris und New York gespielt werden, die mit Theaterstücken wie Owens „Futz“, Le Roys „The Dutchman“, Mc Lures „The Beard“ und Raphaels „Che“ fiktive und Live-Geschlechtsakte zur Darstellung bringt. Hier sind auch Otto Muehls „Materialaktionen“ einzubeziehen und das wirklich grossartige „Living Theatre“ von Julian Beck, der mit „Paradise Now“ am Theaterfestival in Avignon die psychedelische Weltrevolution auslösen wollte. Dies alles spielte sich – vor 1969 – ab, also bevor der pornografische Spielfilm öffentlich wurde. Die Voluptas ludens des Theaters ging dem Film vorraus. So kehren wir zur Institution des Kinos zurück. Voluptas Ludenswie die Römer das in Rom praktizierte Erotik-Theater nannten.

Ausgerechnet in Amerika bahnte sich 1968 eine Entwicklung an, die als reale Handlungsweise nach Europa hinüberschlug. Unter dem Druck von Gerichtsurteilen, die jeder Stadt und jedem Einzelstaat erlaubt hätten, eigene Massnahmen zum Schutze von Kindern und Jugendlichen zu ergreifen, entschliesst sich die „Motion Picture Association of America“ als Gesamtvertretung der Filmindustrie am 7. Oktober 1968, ein neues Klassifikationssystem einzuführen. Zwar lebt die „Production Code Administration“ als „Code and Rating Administration“ weiter und kontrolliert wie bis anhin die gesamte Filmproduktion bis zum Schlussschnitt und gibt den Filmen ihr Billigungssiegel – mit Ausnahme jener Filme, die mit X-rated bezeichnet werden. Diese Filme dürfen dennoch gezeigt werden. Jeder Film kann ungeachtet seines Themas und seiner Darstellungsweise produziert werden. Die Zensurierung erfolgt über ein Klassifikationssystem der Zuschauergruppe – angefangen „für alle Altersgruppen zugelassen“ über Zwischenstufen bis „nur für Erwachsene“, was die Festlegung einer Alterslimite erforderte. Zunächst wird die Alterlimite auf 16 Jahre festgelegt, dann unter dem Eindruck drastischer Veränderung der Filme, 1970 auf 17 Jahre erhöht. Das neue Klassifikationssystem bedeutet die Legalisierung von speziellen Kinos, die auch ohne Zeitungsinserate, ohne Aushang der Bilder ihr Publikum finden. Damit wird der pornografische Film öffentlich.

Hingegen bestätigt der oberste Gerichtshof 1973, dass die lokalen und nicht die bundesweiten Massstäbe für die Beurteilung pornografischer Werke massgebend seien. Damit wird eine überregionale Auswertung eines pornografischen Filmes verunmöglicht und auf bestimmte Staaten und Städte eingeengt. Doch die kurze Zeit hatte genügt, dass in Amerika von 1972 an pornografische Spielfilme entstanden, die wie DEEP THROAT, THE DEVIL IN MISS JONES, BEHIND THE GREEN DOOR, wie die Klassiker des pornografischen Spielfilms heissen, über Jahre hin, z. B. in New York, en Suite laufen werden. Zugleich schlug die amerikanische Entwicklung auf Europa hinüber. In Deutschland entstanden die „PAM“–Kinos, die keine Kinos sind, sondern Bars, in denen man nicht für den Film zahlt, sondern für die Getränke, und in Paris kam es zur „pornographischen Eskalation“ von 1975, die ihren Niederschlaf auch an der Croisette in Cannes fand.

Was war geschehen? Was wir bis anhin als zwei Ebenen verfolgt haben, als Oberstadt und Unterstadt, als offiziellen Unterhaltungsraum und als illegalen Unterhaltungsraum bezeichnet haben, wird hinfällig. Aus dem Stag-Film, dem Peep-Film, dem Underground-Pornofilm wird ein – trotz Einschränkungen – in der Öffentlichkeit auswertbarer abendfüllender pornografischer Spielfilm, der in Spezialkinos seinen Platz findet. Das sieht wie Klärung aus, was jedoch nicht der Fall ist. Denn jetzt setzt die Diskussion über die Grenzziehung zwischen Erotik-Film, Sex-Film und pornografischem Film ein, der wiederum unterschieden wird zwischen Soft-Porno und Hard-Core-Porno. Kriterien werden die Sichtbarkeit von Penetration und Geschlechtsakt, zwischen dem Als-ob, d. h. zwischen Fiktion und Dokumentarismus.

Zwar hat der pornografische Spielfilm zu Beginn der Siebzigerjahre in Amerika und in der Folge in Europa auch seinen öffentlichen kommerziellen Platz gefunden und erscheint vom gängigen Unterhaltungsfilm und vom künstlerisch anspruchsvollen Studio-Film abgegrenzt. Gleichzeitig setzt aber eine Entwicklung ein, die im unterhaltsamen Softbereich die Grenzen weitet, was einen früher undenkbaren Publikumserfolg einbringt und Film-Autoren wie Louis Malle, Bertolucci, Bellochio, Ferreri, Oshima und Pasolini thematisch und filmisch, visuell und akustisch die Bereiche zum Pornografischen hin ausreizen lässt. Sie drehen mit einer stimulierenden Filmsprache Werke, die heftiger, intensiver, fleischlicher als pornografische Filme ihre erotische und sexuelle Wirkung auf die Rezeption auslösen.

Doch wie sah nun das Kino aus, das 1972 am Broadway zu sehen war und wie Linda Williams anlässlich ihres Vortrages in Zürich sehr engagiert erzählte, auch von Frauen besucht wurde. Denn durch die Öffentlichkeit wurde – mindestens in New York – ich kenne es auch aus Berlin und von Schilderungen auch aus Stockholm – der pornografische Film der Männerdomäne entzogen.
Als Beispiel ziehe ich Gerard Damianos Porno DEEP THROAT mit Linda Lovelace bei, von dem Norma Ephron im Esquire schrieb: „Wer ihn nicht gesehen hatte, galt irgendwie als – rückständig.“ Obwohl der Film bekämpft, Damiani zweimal verhaftet, das New Yorker Kino geschlossen wurde, war der Film ein ungeheurer Publikumserfolg. Ursprünglich mit 23 000 Dollar produziert, scheint er im Minimum 10 Millionen Dollar eingespielt zu haben. Der Film zitiert gleich zu Beginn Freuds Theorie von den vier Phasen, der oralen, analen, phalischen und genitalen Phase, und verspricht, auf humorvolle Weise den Reifungsprozess einer jungen Frau zu schildern, die dank psychotherapeutischer Hilfe ihre Genitalität findet.

Gleich zu Beginn schliesst die Eröffnungssequenz eine labiale Konjunktion der freudianischen Gelüste kurz: Linda Lovelace` Freundin Helen raucht genussvoll eine Zigarette, während sie sich von einem Botenjungen „essen“, d. h. zwischen ihren Beinen küssen lässt. Nach diesem freudianischen Einstieg über orale und genitale Genussfähigkeiten folgt eine bitterböse Verarschung der Psychiatrie und der Ärzte. Linda Lovelace spielt eine durch Erbschaft reich gewordene Durchschnittsamerikanerin mit Villa, Swimming Pool und grossem amerikanischen Kalifornien-Schlitten. Sie wirkt wie eine Frau aus dem Einkaufszentrum, die bei Rotlicht warten muss. Gleich dem Mädchen von nebenan ist sie die gutbürgerliche Frau von nebenan, unauffällig in Kleidung und Gebaren, normal, gewöhnlich, keine Schönheit, aber sympathisch, kein Luder. Niemand würde in ihr eine Porno-Darstellerin vermuten. Doch sie hat ein Problem, das die ihrer Freundin Helen anvertraut. Obwohl sie den Sex liebe, fühle sie ein Manko, sie höre beim Geschlechtsakt keine Glocken läuten, keine Dämme brechen, keine Raketen steigen und keine Bomben explodieren. Die Freundin, die keine solche Probleme hat, siehe Eingangssequenz, fragt nur sarkastisch zurück: Willst du eine Stadt in Asche legen? Sie organisiert für sie aber dennoch einen Sex-Treff mit mehreren Männern und als dies nichts fruchtet, empfiehlt sie ihr einen immergeilen Spezialisten, der eine Mischung von Gynäkologe und Psychiater sei und sie vielleicht von ihrer Psychobremse befreien könne. Diese Exposition der Geschichte – es wird tatsächlich eine Geschichte erzählt – erlaubt auf dem Hintergrund der Johnson und Masters Forschung über vaginalen und klitoralen Orgasmus, über Penislänge und Sexualpraktiken, sich über die heiligen Kühe von Sex und Medizin, von Ehe und Beziehung lustig zu machen. Schauen wir uns einmal die Arztpraxis an:

4 DEEP THROAT

Die nähere ganzheitliche Untersuchung bringt es an den Tag. Linda Lovelace hat ihren Kitzler im Hals. Er schlägt ihr eine Kehlkopf–Fellatio vor. Sie ist in ihrer anatomischen Not zur Therapie bereit. Ich zeige Ihnen die ganze Sequenz von 6 Minuten, die Linda Lovelace weltberühmt, den Pornofilm öffentlich und die Kinos zu einem Wallfahrtsort und zwar nicht nur, was neu war, der Männer im Regenmantel, machte. Es ist die Geburtsstunde des neuen pornografischen Spielfilms, dessen Geschichte aber bald wieder absacken wird. Dass sie den Wunderarzt nach all dem Feuerwerk, den Raketen und Explosionen gleich heiraten will, ist ein Teil des Amerikanischen, das diesen Film mit all seinen Anspielungen so amerikanisch macht.

5 DEEP THROAT II

Dr. Young stellt Linda Lovelace als Physiotherapeutin für besonders schwere Fälle an, was im Film ein kleines Kaleidoskop von sexuellen Spezialitäten ganz im Sinne der damaligen Forschung erlaubt. Zugleich muss der Arzt ihr zu Willen sein. Jeden Abend verführt sie, vergewaltigt sie schliesslich ihren Arzt mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, bis er immer schwächer wird, sein Glied einbalsamiert, in einem Verband tragen muss, sodass er sich schliesslich ernsthaft überlegt, ob er seinen Wunderschwanz nicht verkürzen will. War natürlich eine Anspielung auf den Wunsch der Männer, einen möglichst langen Schwanz zu besitzen. Doch eines Tages findet sie – zum Glück des Arztes, der zu allem Elend auch seine Praxishilfe kontinuierlich kopulierend befriedigen muss – den Richtigen. Wieder hört sie die Glocken läuten, die startenden Raketen, das zerplatzende Feuerwerk.

6 DEEP THROAT III

Der öffentliche Durchbruch des pornografischen Films 1972 in New York konnte nicht ohne Wirkung auf Europa bleiben. Besonders aufschlussreich ist die Entwicklung in Frankreich. Der französische Film kannte von den Anfängen an eine Tradition des pornografischen Films, der zum Unterhaltungsangebot der Bordelle gehörte. Zudem versuchten sowohl die traditionellen Filmregisseure als auch die Filmautoren seit der Nouvelle Vague die Grenzen abzutasten, die von der Filmkontrolle gesetzt worden waren. Die Kolonial- und Legionärsfilme und die „films des meurs“ – Sittenfilme schmuggelten über Ambiance und sensuell wirkende Schauspielerinnen und auch Schauspieler erotische Attraktionen ein, die die Etiquette „typisch französisch“ trugen. In den Sechzigerjahren entstand mit den Filmen von Jess Franco, Max Pécas und José Benazeraf das „Cinéma bis“, das im Umkreis des „Midi Minuit“, des „midi-minuisme“ in der Verbindung von Fantastik, Romantizismus, Horror und Sex ein Grand Guignol Unterhaltungskino der Boulevards schuf. Einige Zeitschriften huldigten vollgepresst mit Bildern die schnellproduzierten Filme – Jess Franco drehte bis 17 Filme im Jahr –, die zu Beginn der Siebzigerjahre mit ihren Sexy-Sequenzen den pornografischen Film vorbereiteten.

Zu Beginn der Siebzigerjahre sind es einzelne Filme, die in Paris für Unruhe sorgen: 1972 LE DERNIER TANGO À PARIS des 31-jährigen Bernardo Bertolucci mit seiner von der Kritik als „Chic“ bezeichneten Sodomie-Szene. 1973 realisiert Bertrand Blier mit jungen unbekannten Schauspielern, mit Depardieu, Dewaere, Miou-Miou und Isabelle Huppert eine wilde anarchische Reise durch Frankreich voller Körperlichkeit und Sinnlichkeit: LES VALEUSES. Und 1974 verfilmt der Mode-Fotograf Just Jaeckin als Erstlingsfilm den Roman „Emanuelle“ von Emanuelle Argan mit der ebenfalls vollkommen unbekannten Holländerin Silvia Kristel. Der exotisch-erotische Fotoroman mit seinen Postkarten- und Mode-Journal-Kadragen gelangt ungeschnitten in die Kinos. Elf Jahre lang läuft der Film en exclusivité bei Paramount in Paris und spielt 3 Millionen 300 Eintritte ein.

In der Zeit von 1968 bis 1974 verdreifacht sich die Zahl der Sexy-Filme, wie die offizielle Bezeichnung hiess. Sie erreichen zuletzt 24 Millionen Eintritte pro Jahr. Dann am 23. April 1975 wird gleichzeitig in fünf grossen Sälen unter dem Titel ANTHOLOGIE DU PLAISIR Bill Oscos und Alex de Renzys A HISTORY OF THE BLUE MOVIE aus dem Jahre 1970 auf den Markt geworfen: Eine mit historisch erklärenden Texten versehene Montage von Porno-Filmen seit 1915. Nach drei Monaten haben bereits 350 000 Zuschauerinnen und Zuschauer den Film gesehen. Gleichzeitig erscheint der erste französische Pornofilm EXHIBITION von Jean François Davy mit dem ersten französischen Porno-Star Claudine Beccarie, der Spezialistin für Selbstbefriedigung. In Alex de Renzys Kleine Filmgeschichte des pornographischen Films fand sich neben dem angeblich frühesten pornografischen Film A FREE RIDE aus dem Jahre 1915 und ON THE BEACH, den wir uns bereits angeschaut haben, sowie einem Nonnenfilm aus den Fünfzigerjahren ein pornografischer Zeichentrickfilm, der wahrscheinlich zwischen 1928 und 1932 entstanden war: BURRIED TREASURE – (LE TRÉSOR EN FUIT). Der Film überquillt vor Einfällen grotesker Art, über die Bilder vielfach eingerahmt mit dem Voyeur-Blick des Feldstecher-Auges. Auf einer einsamen Insel führt Everady Harton einen immerwährenden sexuellen Kampf mit Gegenständen, Tieren aller Art und insbesondere mit seinem Penis, der sich von seinem Körper trennt und autonom in einem coitusverseuchten Gebiet auf Sexualjagd geht. Der Text ist französisch eingesprochen.

7 BURRIED TREASURE in A HISTORY OF THE BLUE MOVIE I

Was Alexis de Renzys, der sich in den verschiedensten Formen des erotischen und pornografischen Films versucht hatte, unter erotischem Film versteht, demonstriert er anhand von eigenen Beispielen, die er programmatisch in seine Geschichte des pornografischen Films einbindet. So geht ein Mann zu einer medizinischen Massage und versucht die Masseuse zu einer erotischen Massage zu verführen. Die Geschichte entwickelt sich aus der Umkehrung der Situation: Statt das die ihn massiert, massiert er sie. Der kleine Film ist auf Dialogen, Sprache und Stimme aufgebaut – auf der Grossaufnahme des Gesichts der Masseuse – und auf dem Klang ihrer Stimme. Wie schauen uns den zweiten Teil des Kurzfilms LA MASSEUSE von Alexander E. De Renzy an, entstanden vor 1970.

8 A HISTORY OF THE BLUE MOVIE II

Alex de Renzy montiert eine kleine Geschichte des Pornofilms, die er visuell und mit einem informativen Text, geradezu didaktisch, aufbereitet. Zugleich entwirft er eine Zukunft, wie er sich kommende Filme vorstellt. Seine Anthologie endet – es kann nicht anders sein – mit einem eigenen Film. Ein junges Paar sucht die recht versteckten Hinterhof Studios der Alex-de-Renzy-Produktion auf, um eine pornografische Szene zu drehen. Wir blicken aus Distanz in eine Welt von Plüsch, Teppichen und Zimmerpflanzen. Aus einem Arrangement von klassischer Art-Fotografie inszeniert De Renzy ein erotisches Fluidum von schönen Körpern, Bewegungen und Licht, als ob er eine Ästhetik des Sexuellen fordern würde, zu finden hinter den grauen und dunklen Kellergängen versteckter Hinterhöfe. Denn noch ist die Produktion pornografischer Filme verboten.

9 HISTORY OF THE BLUE MOVIE III

Der erste pornografische Film in Paris ist 1975 eine illustrierte filmgeschichtliche Vorlesung im Kino, als gälte es Distanz zu schaffen, anders als die Sexy-Filme der Bénazerafs, Pécas und Jess Francos, des studentisch-intellektuellen Midi-Minuit-Kultes. Was sich 1975 in Paris abspielt, ist eine Eruption. Juli 1975 sind mehr als die Hälfte der Filme in Paris pornografischen Charakters, gespielt an den grossen Boulevards. In Paris wiederholt sich, was sich 1972 in New York abgespielt hat.

Pionier in Paris ist ein italienischer Regisseur namens Alberto Ferro, der unter dem Pseudonym Lasse Braun in Paris "Make love not war"-Hippie-Blumenkinder-Filme dreht mit dem erklärten Ziel, menschliche Aggression durch Porno-Filme in Zärtlichkeit zu verwandeln, bevor er nach Amerika weiterzieht und unter den Pseudonymen Falcon Stuart und Lasse Braun weitere spielerische Träume, wie er seine Filme nennt, inszeniert. Bereits 1974 realisierte er FRENCH BLUE, eine Collage aus Cinéma-vérité-Beobachtungen von Dreharbeiten an einem Porno-Film und aus kleinen schrägen verrückten Kurzfilmen – und entdeckt neben Claudine Beccarie eine der schönsten Porno-Schauspielerinnen: Brigitte Maier. Mit ihr realisiert er 1975 den Pornofilm SENSATIONS, der am Festival in Cannes als Porno-Film zur Sensation wird. Ich könnte Ihnen als Vergleich zu Gérard Damianos DEEP THROAT eine französische „Gorge Profonde“-Sequenz anbieten, aus der Sie ersehen würden, mit welcher Brutalität bereits 1972 die amerikanische Porno-Industrie arbeitete, während Lasse Braun mit Brigitte Maier die gleiche Situation wie ein unglaubliches Märchen inszeniert. Ich zeige Ihnen das Ende des Films. An einer Kunstvernissage in Amsterdam wird Brigitte Maier in einem „Liebesreigen“ – d. h. in einer Orgie buchstäblich angefressen. Die letzten 3,5 Minuten von 8 Minuten erotischer Fressorgie.

10 SENSATIONS

Ein Damm war gebrochen. Es werden praktisch keine wichtigen Filme mehr importiert. Die Geldgeber, allen voran die Banken, finanzieren nur noch Pornofilme. Arbeit gibt es nur noch im Pornofilm. Die Filme werden täglich schlechter. Die Filmkritik, die sich zunächst des Phänomens annahm, kapituliert vor so viel Schund, der auf den Markt geworfen wird. Am 30. Dezember 1975, gestützt auf ein neues Gesetz vom 31. Oktober des gleichen Jahres, wird die X–Klassifikation nach amerikanischem Vorbild eingeführt. Die Filme dürfen nur noch in spezialisierten Kinos gezeigt werden. Gleichzeitig wird die Mehrwertsteuer drastisch erhöht. 50 Prozent der Einnahmen im Kino gehen an den Fiskus. Mit hohen Schutzzöllen versucht man den Import zu bremsen.

Über die Filme darf es keine Angaben geben, keinen Fotoaushang, keine Reklame, auch nicht in der Presse. Nur der Titel des Films findet sich beim Kinoeingang. Wie das Gesetz zuschlägt, entscheiden sich nur wenige Kinos für die Spezialisierung. Die Produktion stagniert und geht von 1979 an zurück. Das öffentliche Cinema X stirbt ab. 1983 erhält es vom Video den Todesstoss. Heute gibt es, meines Wissens, kaum mehr Porno-Kinos in Paris, sondern nur noch Videoläden mit Live-Shows, also Peep-Shows und Video-Kabinen. Über den Videomarkt, den Versandgeschäften und spezialisierten Fernsehkanälen wie Canal+, Ciné-Cinémas und über DVD und Internet hat sich der Pornofilm in die Haushaltungen, in die Foyers zurückgezogen. Was innerhalb der offiziellen Hardcore-Produktion je nach Land ausgegrenzt wird oder bleibt, wird wiederum – unter dem Ladentisch verkauft.

In der Schweiz verboten sind: Sex mit Tieren (in Barcelona und Amsterdam öffentlich auf dem Videomarkt erhältlich), Kinderpornografie (wie Sie wissen, über Internet zugänglich), Piss- und Fäkalienfilme, Kannibalismusfilme und Sex-Brutalos, die insbesondere in London über Zeitschriften der schwarzen Romantik angeboten werden. Wie sehr sich die Grenzen weiten und durchlässig werden, entstehen neu Tabu und Verbot als Akte der Vernunft. Da ich hier eine filmgeschichtliche Vorlesung halte und nicht eine über Kriminalistik oder Sexualpathologie, setze ich hier meine Grenze.

Es liesse sich noch ein anderer Aspekt einbringen. Lasse Braun, der gerne Geschichten erfindet, die es gar nicht geben kann, drehte in den Achtzigerjahren einen Porno-Film, den er einfach LUST nannte. Sein „Filmheld“ Sam lebt vom Diebstahl. Eines Nachts wird er beim Einbruch von der Dame des Hauses erwischt. Die droht ihm, ihn der Polizei zu übergeben, falls er nicht die ganze Nacht ihr zu Willen sei, der Unersättlichen, stundenlang, was vollkommen ihm entspricht, dem Unersättlichen.
Denn Sam hat nur zwei Dinge im Kopf: Fressen bis zum Überdruss und bumsen bis in die Ewigkeit. Die Ewigkeit ist ihm nicht mehr fern, unerwartet verfrüht kommt der Ehemann nach Hause und die Ehefrau, um zu beweisen, dass sie genötigt worden sei, erschiesst ihren potenten Einbrecher. Sam findet sich im Himmel wieder. Mindestens glaubt er es. Halleluja-Klänge empfangen ihn, weisse Wolken hüllen ihn ein. Er sieht sich hingelagert auf einem weissen Rundbett. Daselbst empfängt ihn ein Engel voller sündiger Träume und beglückt ihn mit köstlichem Raffinement. Doch Sam, der bis anhin nur die derbe Kost kannte, muss vorerst lernen, zärtlich zu sein, muss lernen, nach aller Kunst der Liebe den Engel erotisch liebevoll zu beglücken. Der Himmel lernt ihn die Liebe, was ja des Himmels ist: Die himmlische Ars amandi. Dafür bietet ihm der Himmel das totale Schlaraffenland: Trauben, Fleisch und Schinken, Fressereien jeglicher Art, Schokolade und sexuelle Genüsse, wie sie nur der Himmel bieten kann; Jungfrauen und ewigen Voyeurismus, als sässe er im ewigen Porno-Kino, bis ihm alle Lust vergeht und er, der bis anhin nur fressen und bumsen wollte, lustlos um Erbarmen fleht. Da enttarnt sich der Engel. Auch er ist für alle Ewigkeit zum Himmel verflucht. Dealer war er in Hongkong und liebte nur Geld, Sex und Opium. Im Himmel erleben beide die Erfüllung irdischer Träume, sexuelle Paradiese. Doch wie die Lust zur Unlust wird, sind sie in der Hölle. Im Überdruss der Lust wird der Himmel zur Hölle. “Wer sagt dir, dass du im Himmel bist?”, fragt der Engel, der des Teufels ist. Sicher im Film ist nur die Ewigkeit, die als lustlose Lust ein kaltes Fegefeuer ist. Ein moralischer Porno, wenn nicht die Inszenierung des ewigen Pornos so voller Spass und Lust wäre. Damit wird Lasse Brauns Film ein Film über die Lust, einen Pornofilm zu drehen.

Leider kann ich Ihnen keinen Einblick geben, denn der Film, wie auch andere Filme der Siebzigerjahre, findet sich nicht in den Videotheken. Es sind zu gute Pornofilme, als dass sie ein Publikum fänden. Manchmal ist einer dieser Filme im Stüssihof oder in der Walche zu sehen, nur muss man sie erkennen. In Paris gibt es an der Rue St. Denis ein Video-Geschäft, das über 20 000 Pornofilme anbietet, aber sie sind sehr teuer und die Raritäten sind fast unauffindbar geworden. Der Geschäftsinhaber sagte mir, sein wichtigster Kunde sei eine italienische Universität. Ich hoffe wenigstens, ich habe Lasse Brauns Film lustvoll erzählt.

So schliesse ich die heutige Lehrveranstaltung mit „Nichts“: Die weisse Leinwand. Es gibt nicht mehr zu sehen.

Filmografie

LORNA (US 1964) R: Russ Meyer, B: Russ Meyer, James Griffith, K: Russ Meyer, M: James Griifith, Hal Hooper, P: Eve Productions, D: Lorna Maitland (Lorna), Mark Bradley (Sträfling), James Rucker (James)

VIXEN! (US 1968) R: Russ Meyer, B: Robert Rudelson nach einer Idee von Russ Meyer, K: Russ Meyer, M: Igor Kantor, P: Eve Productions, D: Erica Gavin (Vixen), Harrison Page (Niles), Garth Pillsbury (Tom), Michael O'Donel (O'Bannion)

DEEP THROAT (US 1972) R: Gerard Damiano, B: Gerard Damiano, K: Joao Fernandes, M: Gerard Damiano, P: Louis "Butchie"Peraino, D: Linda Lovelace (Linda). HArry Reemes (Dr. Young), Dolly Sharp (Helen)

BURRIED TREASURE (US 1926-32)

LA MASSEUSE

SENSATIONS (FR/NL 1976) R: Lasse Braun, B: Lasse Braun,Ian Rakoff, K: Jean-Calude Baboulin, P: Lasse Braun, D: Brigitte Maier (Margaret), Véronique Monod (Véronique), Helga Trixi (Trixi), Frédérique Barral (Liza), Robert Le Ray (Lord Weatherby

Weiterführende Informationen

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