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"Cineastischer Eros –
Sexualität im Film" nannte ich die Lehrveranstaltung. In der
Auseinandersetzung mit Geroges Batailles Grenzüberschreitung des Verbotenen,
mit Themen der Selbstentgrenzung, des Ausser-sich-Geratens und des Ausser-sich-Seins
wurde immer mehr die Darstellung der Sexualität im Film Thema der Vorlesungen.
Die fiktiv gestaltete Sexualität im Film und die dem dokumentarischen Blick dargebotene
Sexualität zwingen uns in das filmische Bild hinein, hin zu den Gesten, den
Körpern und Bewegungen, bis hin zur Gestaltung des Nicht-Darstellbaren eines
Orgasmus und zur Sicht auf das Ungesehene, dem weiblichen Geschlecht von dem –
wie ich zitierte – Freud sagte, es könne nicht von blossem Auge gesehen werden,
gleich der Sonne, gleich dem Tod: Hier gilt es, den Bogen zu erschliessen, ihn
zurückzuführen zum cineastischen Eros, der die Darstellung von Erotik und
Sexualität im Film zum Ausdruck von Erotik und Sexualität des Films gestaltet.
Dabei stellt sich wiederum die Frage, die in der Auseinandersetzung mit den Filmen
von Bette Gordon und Birgit Hein zur Diskussion stand: Vermag Film als sexueller
Körper an Intensität zu leisten, was die Sprache über die imaginative
Veranschaulichung zu gestalten vermag?
Sind Sätze wie die folgenden, die der sprachlichen Vorstellungskraft entspringen, in Filmbildern wieder zu finden, wenn Georges Bataille schreibt: "Wie tief der Mund eines Mädchens sein kann, tiefer als die Nacht, als der Himmel, weil ihr Hintern nackt ist", wobei unter Hintern auch das weibliche Geschlecht zu verstehen ist – oder: ''Die Spalte ihres Hintern erleuchtete den Raum." Der erste Satz ist meines Erachtens filmisch unübersetzbar. "Tiefer als die Nacht, tiefer als der Himmel" – erschliesst das Erschauern, das aus dem Akt des Lesens erwächst. "Die Spalte ihres Hintern erleuchtete den Raum" – in pornografischen Filmen lassen sich Momente finden, da in obszöner Drastik das Geschlecht, sowohl das weibliche wie das männliche, sowohl Vulva wie Priapos in leuchtender Plastizität das Auge treffen. Diese aggressive Direktheit erwächst aus dem Blick des Geschlechtes auf den Zuschauer. Wir schauen nicht mehr hin, sondern das Geschlecht als Blendung, als Strahl trifft uns. Wir werden angeschaut. Sinnenerfahrung treffende Sinnlichkeit erschliesst (ergibt) sich aus dem sexuellen Körper des Films. Er gehört nicht nur dem pornografischen Film an, sondern leuchtet in der Übertragung im Rot eines Überwurfes auf, blendet uns als nackte Haut, erschrickt uns als unerwartete Bewegung, richtet sich als Mund auf uns, als Auge.
Nach vielen Irrfahrten gelangte 1995 ein Bild ins Musée d'Orsay in Paris: L'origine du monde, das Gustav Courbet für den türkischen Kunstsammler, Diplomaten und Lebemann Khalil Bey 1866 gemalt hatte und das nach dem finanziellen Ruin Beys 1868 verscholl, bis es 1913 beim Budapester Kunstsammler Baron Ferenc von Hatvany wieder auftauchte und aufgrund der Kriegswirren anschliessend wieder als verloren galt, bis es 1948 nach Paris geschmuggelt und 1955 vom Psychoanalytiker Jacques Lacan erworben wurde. Lacan versteckte das Bild, das er selbst als das „klaffende Loch“ bezeichnete, hinter einem Deckbild, der Landschaft mit erotischen Anspielungen von André Masson. Nach dem Tode von Silva Lacan fand das Bild schliesslich über Erbschaft und Schenkung seinen Platz im genannten Museum und wurde öffentlich, was stets verborgen geblieben war. Die Irrfahrt des Bildes mutet wie die Spiegelung einer Filmgeschichte aus Moral, Zensur und Grenzüberschreitung des Verbotenen an. In Courbets realistisch gemaltem Bild wird jene Sexualität des Films deutlich, die ich vorhin als Blick des Bildes auf das Auge des Betrachters bezeichnet habe: das Dargestellte schaut als Bild auf das Auge zurück: In einem dynamischen Sog wird der Blick des Betrachters in das Spannungsfeld von drei Dreiecken hineingezogen, die den Ausschnitt – die Kadrage – des Bildes zusammenfassen, und die Bild und Blick zugleich sind: ein weisses Tuch umrahmt den nackten Körper und weist auf die Leinwand hin, Fläche jedes Bildes und Leinwandfläche jedes vollendeten Filmes.
Der Schoss selbst erscheint als der lebende Pinsel,
der Körper und Geschlecht auf das weisse Leinwand-Tuch gemalt hat. Im Akt – im
nackten Torso – wird der Malvorgang gegenwärtig. Dokumentarisch fixiert von
einer Kamera, deren Projektion wir anhalten, damit unser Auge das Geschlecht
anzuschauen vermag, ein Objekt, das gerade als Objekt und in seiner malerischen
Objektivität uns fixierend verführt. 1. Das Objekt schaut uns an. 2. Die Vulva
als Auge.
Der filmische Blick eines Bildes, 1868 entstanden, zu einer Zeit, als die
Fotografie sich als Übertragung von Malerei begriff, antizipiert die filmische
Seh- und Gestaltungsweise um Jahrzehnte. Ein realistisch gemalter Körper wird
wie in einer filmischen Kadrage als Nahaufnahme angeschnitten, sodass die
Zeichnungslinien den Rahmen sprengen und den Körper in den Raum wachsen lassen.
Der Segmentierung im Film entspricht Courbets Zerstückelung des Körpers. Durch
die Isolierung der Körperteile entsteht die Blosslegung eines Objektes, sodass
in der Nahaufnahme, Gross und Detail die Dynamik auf die Bildmitte zu, auf den
Ursprung der Welt hin erzwingen.
Trotz des Naturalismus, trotz des fotorealistischen Anblickes erscheint der Torso als ein künstlich gesehener Körper. Der überlange rechte Schenkel, der perspektivisch unser Auge auf die Vulva-Grotte hinlenkt, suggeriert einen eingewinkelten, in sich gebrochenen Körper, dessen Geschlecht einen Widerpart in einer Brust findet, die das Bild in der Vertikalen ausbalanciert, es einmittet und den Dreiecken eine Halterung verschafft. Courbets Geschlechts- und Körper-Bild steht nicht für eine Metapher ästhetischer Ideen, sondern für die Körperlichkeit und ein Geschlecht, das als reine Geschlechtlichkeit präsent ist.
Doch was trennt den Blick von Courbets realistisch gestalteter Geschlechtlichkeit von der im Film implantierten Sexualität? Bei Courbet schafft die Farbe das Fleisch. Der Körper ist ein Farbtopf, entstanden aus der Umsetzung der Farblandschaft auf der Palette in das malerisch atmende Körperfleisch.
Im Film lebt das Fleisch durch die Belichtung der Haut, der photogenen Oberfläche, der durch das Kameraauge erfassten Materialwirkung. Nicht Fleisch, das in der Malerei durch die Handhabung der Farbe sinnliche Ausstrahlung erhält, sondern der Glanz von Haut, der Reflex von Licht auf der Haut, die Künstlichkeit des fotografischen Materials ergeben die erotische Lust auf den durch Licht und Fotografie modulierten Schmelz der Dinge, die dem Auge schmeicheln. Das führt uns wiederum zur "Instrumentalisierung des Begehrens", wie Ester Carla de Miro die Verschiebung des begehrlichen Blicks von der unerreichbaren unberührbaren Person, vom Star, von der Diva auf die Accessoires von Besitz und Verschwendung, auf die im Glamourglanz brillierenden Bijous, schmeichelnde Pelze und Roben nannte. Statt des malerischen Fleisches erhalten die Dinge die Attraktion der Verführung. Doch hinter den Dingen blinzelt über die Instrumentalisierung des Begehrens Courbets farbgetünchtes Geschlecht.
„Instrumentalisierung des Begehrens“ liesse sich auch anders definieren: Film als Erotikon. Als visuelles Parfum lässt sich Dellucs „Photogénie“, die für das Kameraauge indogene Ausstrahlung der Menschen und Dinge, in die Hollywood'schen Glamour-Verführung übertragen: Durch die Transferierung des Begehrens in das materielle Objekt zelebriert sich die artifizielle filmische Verzauberung. In GILDA von Charles Vidor tanzt Rita Hayworth geradezu „lehrbuchartig“ alle Phasen der Instrumentalisierung des Begehrens bis hin zur „Entkleidung“ durch. In Satin gehüllt enthüllt sich weich leuchtende satte Körperlichkeit aus Rundungen und weisser Alabasterhaut. Einzelne Bilder sind wie erotisierende Schocks arrangiert. Gleich wie sie bereits zu Beginn der Tanzszene den luxuriösen Überwurf in eine dunkle Ecke platziert, entledigt sie sich am Ende der Nummer noch gänzlich der Accessoires, wirft nicht nur den langen Handschuh, sondern auch den Schmuck von sich. Doch wie sie die vom schwarzen Satin bedeckte weisse Nacktheit den Männerblicken preisgeben will – sich in ihrer Körperlichkeit verkaufen, als entkleidetes Objekt prostituieren will, schreitet die männliche Macht ein, welche die Frau zum Besitz erklärt. Filmisch wird uns Augenweide angeboten, die auf Verführung beruht. Filmische Gestaltung versteht sich jedoch als ein Erotikon der Materialisierung des Begehrens.
Auf diesem Glamour von satinschwellender Füllung und Enthüllung lässt sich in filmgeschichtlicher Verlängerung um 50 Jahre als Einpflanzung destruktiver Perversionen, die weder der Schönheit noch des filmischen Glanzes entbehren, die Deformation des Körpers durch Stahl und Metall, durch Geschwüre aus Eisen und Kunststoff einbrennen. Dann erwachen CRASH und TETSUO zur filmischen Präsenz oder was Cronenberg die „futuristische Sexualität“ nennt.
Hier liesse sich einbauen, was heute in der Verbindung von Fitnesswahn, dem in Schönheit gestähltem Körper, und Körperdesign in Form von Tattoos, Piercings und Brandings, in der Balance von Ornamentik und Verstümmelung die Nacktheit als Körper-Identität neu definiert. Körper und Haut oszillieren zwischen der von Alain Tanner wahrgenommenen einsamen nackten Verletzlichkeit und einem Körperbewusstsein, das sich in einer Techno-Welt neu bestimmt.
Die körperliche Perfektion wird
durch die Destruktion des Körpers gefeiert. Gleich bleibt jedoch die Handhabung
filmischer Gestaltung als Erotikon. Statt Perlen, Pelze, Haut und Glanz der
Haare gehört die Begehrlichkeit der Brillanz von Karrosserien, der Ausstrahlung
von Stahl und Leder, von blutunterlaufener Haut, Knochen – Brüchen und
Fleischwunden. Der durch Crashs versehrte Körper spiegelt den Glamour
„futuristischer Sexualität“.
Ein kurzer Ausschnitt – noch einmal – aus Cronenbergs CRASH zeigt die
Austauschbarkeit der Objekte, die die Instrumentalisierung des Begehrens zu
signalisieren haben. Dem entspricht ein filmisches Handwerk, das um die Effekte
weiss. Im Dreieck der Schenkel taucht auch Courbets Geschlecht wieder auf,
schwarz zugedeckt von Leder und Netzstrumpf. Statt Verhinderung der Berührung
des Zu-Enthüllenden wie in GILDA fordert die Frau zur Berührung der
körperlichen Versatzstücke auf. Die erotische Faszination ergibt sich aus einer
filmischen Gestaltung, die sowohl die Ausstrahlung des Objekts als auch die
Handhabung von Kamera und Licht umfasst.
Ich nehme meine These wieder auf,
dass aus der filmischen Gestaltung heraus die Erotik des Films erwächst und im Film selbst die Sexualität des Films entsteht. Ich ziehe
im Folgenden eine Sequenz aus Sergej Eisensteins Film GENERALNAJA LINJA/DIE
GENERALLINIE oder DAS ALTE UND DAS NEUE bei, der in der Auseinandersetzung mit
den Kulaken und der machtvollen orthodoxen Kirche die Schaffung einer
selbstverwalteten bäuerlichen Genossenschaft, einer Kolchose, gegen alle Widerstände
von neu erstandener Bürokratie und bäuerlichem Misstrauen gegen alles Neue zum
Thema hat. Treibende Kraft ist die Bäuerin Marfa Lapkina, die das Dorf im
Kampfe eint. Innerhalb dieser
Dialektik von Alt und Neu, diesem Spannungsbogens einer Veränderung setzt
Eisenstein die Apotheose auf eine Maschine, die wie ein visuelles Wunder auf
der Leinwand ersteht: eine Buttermaschine.
Inmitten misstrauischer Popen, Kulaken und Bauern wird die Maschine entkleidet
und leuchtet brillierend auf. Die Instrumentalisierung des Begehrens wird nicht
vom Gegenstand getrennt, sondern ist dem Gegenstand im Bild immanent. Im
Räderwerk der Bewegungen, im lichttrunkenen Funkeln der Teile, in der
sinnlichen Ausstrahlung von Metall und zur Butter geschlagenen Milch stellt
sich filmische Gestaltung als erotischer Akt dar. Wie die Kanonen des
Panzerkreuzers ragen die Rohre, an deren Ende die Buttermilch Lippen gleich
schwabbelnd, sich zum Strahle bindet, machtvoll in die Bildkadrage, bis die
Eruption den weissen Saft in die Höhe schnellen lässt: eine unmittelbare
direkte Selbstdarstellung der in den filmischen Gestaltungsmittel innewohnenden
Sexualität, die im Orgasmus sich befreit.
Am Ende der Zwanzigerjahre war die Darstellung zwischenmenschlicher Sexualität im sowjetischen Film nicht statthaft, denn zu lieben hatten die Männer und Frauen den Traktor, dann die Partei und schliesslich Väterchen Stalin. So gestaltete Eisenstein in Form einer Attraktionsmontage den wohl verrücktesten Geschlechtsakt filmischer Bild-Ekstase. Im Wirbel der Bewegungen und Materialien, in den tachistischen Lichtexplosionen, funkelnd gleich Edelsteinen in kapitalistischen Hollywoodfilmen, in der Verlebendigung des Maschinenkörpers und seiner Produktionslust ersteht ein machtvolles Begehren, das die Kolchosen gleich Kindern anwachsen lässt, bis hin zum Glückwunsch auf das 50. Kind.
Ich weiss nicht, welche freche,
sinnliche Gestaltungslust Eisenstein bei der Arbeit an seinem Film zur
Propagierung des neuen Fünfjahresplans befiel. Auf jeden Fall schuf er in DER
GENERALLINIE eine der schönsten Hochzeitsszenen, die nichts anderes ist als
eine filmische Selbstdarstellung dialektischer Montage.
Zum Feste schmücken sich die Mädchen im lichten flatternden Weiss. Kostbare
Kämme und Bänder haben die Haare zu bändigen. Blumengebinde kränzen alles
Lebendige und Animalische: Mädchen, Kinder, Braut und Bräutigam – Frau und Mann
in der körperlichen Metapher von Kuh und Stier und folgenreicher Entwicklung
bis hin zum schweren Atmen der Felder im Wind. Zugleich demonstriert die
Sequenz die geballte Wucht des filmischen Körpers, der die Leinwand wallen
lässt. In der filmischen Gestaltung selbst vollzieht sich die dialektische
Spannung männlicher und weiblicher Kräfte zu einer Hochzeit von Bewegungen und
Linien, von Körpern und Flächen, von Vorder- und Hintergrund, von Erstarren und
Beben, von Lust und Erwartung in der Tiefe des Raumes.
Die Eisenstein’sche Hochzeit ist nichts anderes als die programmatische Montage einer dialektischen Bildfolge. Dass die Synthese von Kuh und Stier Kälber sind, veranschaulicht geradezu schulmässig die Grundzüge des historischen Materialismus.
Mein Versuch im Film selbst die
erotischen und sexuellen Kräfte fassbar zu machen, die sich aus der Darstellung
von Erotik und Sexualität ergeben, führt mich zu einem weiteren russischen
Stummfilm hin. In SEMLJA/DIE ERDE von Alexander Dowschenko verweben sich Erotik
und Tod in der Abfolge von zwei Sequenzen, die je für das eine stehen und
dennoch ein Ganzes bilden.
Im Mondlicht einer Sommernacht stehen Liebespaare erstarrt. Bewegungslos spüren
sie ihre Körper. Eine Hand, zum Munde geführt als Zeichen selbstvergessener
Bewegung, das Weiss von Pupillen, Augen, die das Unbekannte ertasten, schwer
ruhen die Hände unter den Blusen auf den Brüsten der Frauen. Zum Bersten
angespannt ist die angehaltene Bewegung, der stockende Atem der Liebenden: Was
wir vorfinden, ist eine erwartungsgesättigte Regungslosigkeit in der weiten
ukrainischen Landschaft. Mit der Natur vereint, erleben die Liebenden das
Schauderns der Vereinigung, unsichtbar, doch in jedem Schattenwurf und
Lichtglanz gegenwärtig. Da die Bilder am Tage unterbelichtet gedreht wurden,
leuchtet die Nacht in ihrer Milde. An den weissen Blusen, Gegenständen, an
Hautflächen und den Steinmauern bricht sich das Licht. Aus der erotischen
Spannung entwickelt sich der Spaziergang Wassilis, der sich in einen Tanz
gestampfter Lebensfreude verwandelt, ersichtlich am aufgewirbelten, im
Mondlicht leuchtenden Staub. Vom tödlichen Schuss des Kulaken getroffen,
erstirbt die Bewegung. Nur ein schwarzes Pferd vor einem hellen See vermittelt
uns den Schuss, der zerstörerisch in die Liebesnacht einbricht. Wie bei den
beiden Eisenstein-Sequenzen wird auch bei Dowschenko die Darstellung von Erotik
und Sexualität zu einer filmischen Selbstgestaltung.
In Alexander Dowschenkos SEMLJA/DIE ERDE erfahren sich Eros und Tod als eine Einheit von Leben und Sterben in der Milde einer ukrainischen Mondnacht. Eros und Tod: das hiesse, wir müssten uns jetzt mit NagisaOshimas AI NO KORĪDA/DAS REICH DER SINNE beschäftigen, mit jenem Film, der insbesondere in einer intensiven Farb- und Tonsprache die amour fou – Geschichte von Sada und Kichi-san erzählt. Der Libertin Kichi-san und das Tee-Mädchen Sada erleben in ihrer bedingungslosen Begegnung die Veränderung jeglicher Hierarchien, Normen und Werte als einen Akt subversiver Selbstverständlichkeit. Bildlich zieht sich im Laufe des Films der offene Lebensraum von Höfen, Strassen, Häusern in die Enge eines Zimmers zusammen bis hin auf eine Lagerstätte sexueller Vereinigung, als gäbe es keine Aussenwelt mehr.
In diesem Prozess räumlicher Radikalisierung findet zugleich die Veränderung Kichi-sans von einem machtvollen, spielerisch dominanten Mann zur Fähigkeit totaler Hingabe an die Frau statt. Seine sexuelle Selbstentgrenzung öffnet ihm den Weg zum Tod. Sada wiederum entdeckt in ihrem Ausser-sich-Sein von Begehren und Lust die Macht, Eros und Tod, Sexualität und Mord als eine orgiastische Entfesselung innerster Stille zu vereinen. Ihre Grenzüberschreitung findet ihre Antwort in Georges Batailles Skandal von Erotik und Tod. Im Moment höchster gemeinsamer Lust erdrosselt Sada Kichi-san. Mit dem abgeschnittenen Glied ihres Geliebten in der Hand irrt sie hinaus in die Welt. Eros und Tod.
In der Folge möchte ich jedoch einen anderen Gedanken aufnehmen und zu einem möglichen Ende führen. Darstellung von Erotik und Sexualität im Film war das eine Thema. Erotik und Sexualität des Films wäre ein anderes.
Die Sexualität des Films: Woran ich denke (Sie denken vielleicht an ganz andere Dinge), da geht es um die Geschmeidigkeit der Kamera, den indiskreten Blick des Kameraauges, um die Sinnlichkeit des Ausschnitts, den Bewegungsrhythmus der Montage, den Wechsel von Schuss und Gegenschuss. Es geht nicht um Assoziationen und Symbole, sondern um die körperliche Bewegungskraft, die in der Kamera selbst liegt, in den Bildern, die aufzeigen, was Film ausmacht. Es geht in der Segmentierung der Einstellungen um die Potenz jedes einzelnen Bildes, das in der Begegnung mit einem anderen Bild Bewegungen, Lichtkontraste und Gesten vorantreibt.
Wie sehr ist eine innere Montage eines Antonioni, eines Wylers, eines Angelopoulos ein verlängerter Liebeskörper. Wie sehr dachte Orson Welles an Liebesakte, wenn er in diagonalen Bewegungen Körper im Raum an den Schnittstellen aufeinander stossen liess – z. B. in TOUCH OF EVIL. Ich ziehe zwei Beispiele bei, die weit auseinander liegen und dennoch in ihrer bildhaften Kraft, ihrer Körperlichkeit und Dinglichkeit Sexualität des Films veranschaulichen: Angelopoulos' O MELISSOKOMOS/DER BIENENZÜCHTER und Jean Vigos L’ATALANTE. In DER BIENENZÜCHTER begegnet ein alter Mann, Spiros, einer jungen Frau, die ihn in seiner Rückkehr zu den Wurzeln seines Lebens begleitet. Bis zum Ende des Films bleibt die explizite Darstellung von Sexualität ausgespart. In einem kleinen Städtchen lieben sie sich schliesslich auf der Bühne vor der weissen Leinwand des Kinos "Pantheon", gleichsam einem imaginären Publikum ausgestellt. Im Kontrast des weissen Körpers der Frau mit dem dunkel bekleideten Mann wird in realistischer Direktheit Sexualität vorgezeigt. Da findet sich keine Instrumentalisierung des Begehrens mehr, sondern wie die Frau aus der Dunkelheit des Raumes auf den Mann zukommt, wie der Mann über die Frau herfällt, wie die Körper in Bewegungsplastik sich darbieten und wie schliesslich das weisse Hochzeitskleid den Körper der Frau bedeckt, ist einerseits Darstellung von Sexualität im Film, zugleich aber die bildhafte Verkörperung von Film in seiner sexuellen Spannkraft im Blick auf den Zuschauer. Courbets L'origine du monde, die pinselgetünchte Malerei aus Farbe und Fleisch findet ihre Entsprechung im filmischen Kontrast von Helligkeit und Schwärze, von Nacktheit und bekleidetem Körper, von Mann und Frau in der Klarheit eines Geschlechtsaktes, materiell dinglich, ohne Stimmung und filmgestalterischer Verklärung, geradezu asketisch dargeboten, einzig und allein der Bildkraft vertrauend, die von Körper und Raum, von Farbe und Bewegung, von Licht und Nacht, von Stille und Tönen ausgeht.
In L’ATALANTE von Jean Vigo, dem Rimbaud des Films, – der Film entstand 1934 – löst sich die Sexualität des Films im cineastischen Eros auf, löst sich auf in Bild-Poesie und in der Musikalität von Bildfolgen. Ein Hauch von Traum legt sich über die Dinglichkeit und mildert die Härte sichtbarer Realität. Es war Jean Vigos letzter Film, dessen Premiere er nicht mehr erlebte.
Nach einer surrealistischen Heirat zu
Beginn des Films, auf die ich noch zurückkomme, leben auf dem Fluss-Kahn L’ATALANTE
das frisch vermählte Paar, Jean und Juliette, zusammen mit dem skurillen
Matrosen Père Jules, gespielt von Michel Simon, und einem Schiffsjungen. In
diese enge Welt hinein inszeniert Vigo eine Fülle realistischer
Gegenständlichkeit, voller Details und Erzählungen. Die Sequenzen quellen über
an visueller und akustischer Fabulierlust.
Nicht nur die Gestaltungsmittel schaffen den Eros, sondern wie in Courbets
Darstellung des weiblichen Geschlechts schauen uns die Bilder in ihrer
sachlichen Verzauberung an. Was auch immer Vigos Kamera über den Blick in
Besitz nimmt, strahlt gleich realistischen Traumbildern zurück und lässt uns im
Kino-Saal nur noch schauen. Auch der Akt des Schauens wird ein erotischer
Vorgang, der sich in intimer Nähe auf die visuelle Verführung der Dinge einlässt
gleich Juliette, die in Père Jules Raritäten Kabinett eindringt und in der Enge
des Raumes, im Ramsch der Details die Weite von Erzählungen und Erinnerungen
entdeckt.
Am Anfang des Films findet sich eine der erotischsten Sequenzen des cineastischen Blickes. Ein Hochzeitszug verlässt in einem armseligen Bauerndorf die Kirche: Voraus Braut und Bräutigam – wir kennen sie bereits: Jean, der Kanalschifffahrer, nur auf sein Boot fixiert, und Juliette, das Mädchen aus dem kleinen grauen steinigen Dorf, träumend von der Weite der Welt. Hinter ihnen folgt zu den Harmonika-Klängen der Hochzeitszug – eine pointillistische Anhäufung von Personen, als hätten sich die Freunde Vigos in einem verlorenen Dorf zu einem Hochzeitsspass zusammengefunden. Es könnte auch ein Leichenzug zum nächsten Kino sein, wo man sich Buñuels UN CHIEN ANDALOU oder Vigos A PROPOS DE NICE anschaut. In der Folge gleitet der Film visuellen Bildeinfällen entlang, die sich wie poetische Zeilen aneinander reihen und von anderen Bildern erzählen. Ein Magritte-Haus ragt gespenstisch in den düsteren Himmel. Frauen bekreuzigen sich. Eisenstein-Bilder , Dowschenko-Bilder, Filmzitate.
Im weissen Brautkleid schreitet Juliette über die Länge des Bootes hin. Sie scheint am unteren Bildrand entlang zu gleiten, gleichsam als Gegenbewegung zum Boot über das Deck zu schweben. Das Bild wird lang, cinemaskopisch, in die Breite gezogen, zur Seite hin geweitet. Im Gegensatz dazu ragt Juliette in der kommenden Einstellung, als weisse Gestalt von unten erfasst, neben dem Mast auf dem massigen Bug des Schiffes in den Himmel, während Jean sie von hinten greift, sodass das Bild vor dem Zuschauer sich gewalttätig phallisch in die Höhe reckt. Die aufflammende Leidenschaft, die gegenseitige Besitzergreifung wird einer immer engeren Kadrage unterworfen, sodass die Gesten den Bildrand zu sprengen drohen. Katzen springen ins Bild und fallen den Mann an, als würden sie die Frau verteidigen. In der grauen Dunkelheit anbrechender Nacht leuchtet (Dowschenko) das schimmernde Weiss des Brautkleides.
Ein schwebendes Travelling kontrastiert mit kompakter Körperlichkeit, das Längsbild mit einem Hochbild, in der Dunkelheit ein irritierendes weisses Kleid. All dies entsteht aus einer dunklen sinnlichen Ausstrahlung, wie wenn die realen Bilder Traumbilder wären, im Moment unfassbar erfunden, gleich dem Begehren, das uns von der Leinwand her anschaut und dem wir uns ergeben: der sexuelle Körper des Films umarmt uns.
Diesem Anfang des Films entspricht ein Ende, das in wenigen Einstellungen die ganze Spannkraft von lustvoller Intimität und totalem Verströmen erfasst und auf subtilste Weise sexuelles Geschehen in ein strahlendes Glück verwandeln lässt. Beinahe hätten die Liebenden sich verloren, hätten nur noch die Sehnsucht einer "verrückten Liebe" gelebt. Père Jules findet Juliette wieder und entführt sie aus einem Schallplattenladen musikalischer Träume und bringt sie indie Wirklichkeit des Bootes zurück. In der Enge der Kajüte fallen die Liebenden sich an, stürzen in körperfüllender Kadrage zu Boden, während die letzte Einstellung des Films die "Atalante" von weit oben zeigt, in voller Fahrt das Wasser teilend, auf einem Fluss ohne Ufer – hineingleitend in eine sonnige glitzernde unbekannte Weite.
L’ATALANTE legt an, und ich beende meine Vorlesung hier. Vigos Film gehört für mich zu den ganz grossen Filmen, deshalb setzte ich den Ausschnitt als Ausklang
GILDA (US 1948) R: Charles Vidor, B: Marion Parsonnet, Jo Eisinger, Ben Hecht, Virginia Van Upp nach E. A. Ellington, K: Rodolph Maté. M: Hugo Friedhofer, P: Virginia Van Upp für Columbia, D: Rita Hayworth (Gilda), Glenn Ford (Johnny Farrell), George Macready (Ballin Mundson)
CRASH (GB/CDN 1995) R: David Cronenberg, B: David Cronenberg nach einem Buch von James Graham Ballard, K: Peter Sushitzky, M: Howard Shore, P: Recorded Pictures, Alliance Communications, R: James Spader (James Ballard), Holly Hunter (Helen Remington), Elias Koteas (Vaughan); Deborah Unger (Catherine Ballard); Rosanna Arquette (Gabrielle)
GEBERALNAJA LINIJA/STAROJE I NOWOJE (Die Generallinie/Das Alte und das Neue, SU 1929) R: Sergej M. Eisenstein, B: Sergej M. Eisenstein, Grigori Alexandrow, K: Eduard Tissé. Wladimir Popow, M: Taras Bujewski, P: Sowkino; D: Marda Lapkina (Bäuerin), Wassili Busenkow (Sekreträr), Konstantin Wassilijew (Traktorfahrer)
SEMLJA (Erde, SU 1930) R: Alexander Dowschenko, D: Alexander Dowschenko, Daniil Demuzki, M: Lew Rewuzki, P: WUFKU, D: Semjon Swaschenko (Wassili), Nikolai Nademski (Semjon), Jelena Meximowa (Natalja), Stepan Schkurat (Opanas)
O MELISSOKOMOS (Der Bienenzüchter, GR/FR 1986) R: Theo Angelopoulos, D: Theo Angelopoulos, Dimitris Nollas, Tonino Guerra, K: Giogos Arvanitis, M: Eleni Karaindrou, D: Marcello Mastroianni /Spyros), Nadia Mourozi (die junge Frau), Serge Reggiani (Der Kranke)
L' ATALANTE (FR 1934) R: Jean Vigo, D: Jean Vigo, Albert Riéra, nach einer Vorlage von Jean Guinée, K: Boris Kaufman, M: Maurice Jaubert, P: Julius L. Nounez, D: Michel Simon (Père Jules); Dita Parlo (Juliette), Jean Dasté (Jean)