Navigation auf uzh.ch

Suche

Seminar für Filmwissenschaft

Cineastischer Eros – Sexualität im Film

Vorlesung 11

Ich gehe zunächst von einem Filmausschnitt aus, wiederum von einer Autorin, nämlich von einer magisch-erotischen Beschwörung aus INDIA SONG von Marguerite Duras. Eine heisse Monsun-Nacht in der französischen Botschaft zu Kalkutta. Niemand schläft. Ein neues Gewitter zieht nach Bengalen. Anne Maria Stretter liegt zur ebenen Erde, zwei Männer kommen in Abständen hinzu. Der Vizekonsul beobachtet die Gruppe. Zwei Frauen erzählen die Geschichte  von Anne Marie Stretter: sie leidet nicht mehr, die Lepra im Herzen. Michael Richardson, der in Indien bleiben will – die Fischer am Ganges – die Geräusche, die Musik – eine Hoffnung in Venedig: "Son nom de Venise dans Calcutta desert". Am Mekong sitzt sie. – Die Geschichte von Anna Maria Guardi, die von einem Kolonialbeamten namens Stretter mit 18 Jahren geheiratet wird, der sie mitnimmt von Savannakhet, nach Mandalay, Bangkok, Rangoon, Sidney, Lahore, Kalkutta, wo sie stirbt. Duras liebt den Klang exotischer Namen.

Was wir vorfinden, ist der Blick auf ein Bild – in ein Bild und hinter das Bild. Auf dem Bild eine nackte Brust, die in der Totalen aus dem Schwarz des Morgenrocks als Entblössung ins Leinwandbild fällt.
Der Blick in das Bild besteht in der Nahaufnahme der nackten Brust: die Fokussierung auf das leichte Atmen des Körpers, auf das fast unmerkliche Heben und Sinken, auf die ruhenden Brustknospen, auf die Haut, auf die Schweissperlen auf der Haut. Der Blick in das Bild erzählt uns von der Gelassenheit eines schönen Körpers, von der Ruhe vor der Erregung, von der Hitze.
Der Blick hinter das Bild erwächst aus den Stimmungsassoziationen, den Erinnerungsfetzen einer Geschichte – einer Biografie, die den Körper, die Haut, die Brustknospen patiniert hat. Der Blick hinter das Bild ist, was das Bild im Betrachter, mitgetragen von Geräuschen, Tönen, Musikklängen und Sprache an eigener Biografie auslöst. Der Blick hinter das Bild wirft die erotische Erregung, die im An-Blick des Fluidums von Körperatem, Hauttönung und Hautfeuchte und in der fotogenen Epidermis besteht, auf den Betrachter zurück.

Es ist der Blick des Bildes auf den Betrachter, den am konsequentesten Courbet in seinem Werk "L'origine du monde" als Blick der Vulva auf den Betrachter gemalt hat.
Wenn wir uns bis anhin mehr mit spektakulären Erscheinungsformen sexueller Inhalte beschäftigt haben, begeben wir uns auf den Weg der Konzentration. Sie entspricht bei Duras der Minimal-Art-Gestaltung, der Entleerung der Leinwand, die neu bestimmt wird.

1 INDIA SONG

Marguerite Duras drehte die Französische Botschaft in Kalkutta 50 Kilometer von Paris entfernt in einer vergammelten Rothschild-Villa inmitten eines riesigen Parks an der Marne. Da war auch der Konflikt mit Jean-Jacques Annaud angelegt, der für 30 Millionen Dollars Duras’ erotischen Erfolgsroman L’AMANT (Der Liebhaber, 1991) historisch realistisch in Vietnam verfilmte. Duras’ "Imaginationen" werden Annaud wortgetreu in eskapistischen Illusionismus umgesetzt. Sogar den Mekong liess er an Ort und Stelle einfärben, damit er den Duras'schen Adjektiven von rot-bräunlich entsprach.
In der Auseinandersetzung zwischen Marguerite Duras und Jean-Jacques Annaud geht es ebenfalls um eine Sehperspektive. Für Duras gestaltet die Sprache die erotische und sexuelle Vergegenwärtigung, die im Leseakt ihre Erfüllung findet. Deshalb sollen im Film – für Duras – nur einzelne Bilder, Farbgebungen, , Lichtreflexe, mit Träumen und Erfahrungen aufgeladene Orte – wie z. B. Badekabinen, Hotelzimmer und Hallen, die Sprache und die Stimme erotischen Genusses, sexuelles Begehren und konkrete Geschlechtlichkeit einbringen, wie in AGATHA ET LES LECTURES ILLIMITÉES auf dem Hintergrund von Musils Mann ohne Eigenschaften die sexuell vollzogene Liebe zwischen Bruder und Schwester, in L’AMANT die Passion in Vietnam zwischen einem reichen Chinesen und einem 15-jährigem Mädchen aus Frankreich, das niemand anders als Marguerite Duras biografisch selbst ist.

In L’HOMME ATLANTIQUE setzt Duras die Erzählung von einer Passion mit einem unbekannten Mann der Dunkelheit des Kinosaals aus, indem die Leinwand in Schwärze versinkt und nur die penetrant sinnliche Stimme der Erzählerin den Raum füllt: Manchmal zeichnen sich Ausschnitte von Meer, von Fenstern in die Leinwand ein oder monochrome rote, gelbe Leinwandflächen verändern das Licht im Saal. In dieser Entleerung und Reduzierung entsteht das Begehren (le désir), wächst der Genuss (la jouissance), als würde die Sexualität auf der Leinwand neu erfunden.
Schauen wir uns einen kleinen Ausschnitt der Umsetzung von Duras' sprachlichen Ritualbeschwörungen in die Annaud'sche Inszenierung an. Nachdem Marguerite Duras – im Film – die Geliebte des reichen Chinesen geworden war, besucht sie über Mittag zwischen den Schulstunden die Absteige, welche die reichen Chinesen für ihre verschiedenen Geliebten einrichten. Annaud überlässt nichts der Imagination. Detailversessen inszeniert er den historischen Ort und die sexuelle Handlung.
Was plastisch entsteht, ist der Liebesakt inmitten der Stadt, inmitten der Gassen, umgeben von den Aussengeräuschen, der Hitze und dem Licht, das in die Absteige dringt.

2 L’AMANT

Sie mögen sich erinnern, dass ich im Zusammenhang mit einem Ausschnitt aus Elia Kazans BABY DOLL vom Ton sprach, der durch angedeutete Geräusche den Kuss nach aussen stülpte, sodass er akustisch plastisch wurde. Inzwischen ist der Sound aus Atmen, Stöhnen, Hecheln realistischer Bestandteil von Liebesszenen geworden. Im Folgenden verfolge ich – im Gegensatz dazu – andeutungsweise eine kleine Geschichte erotischer Subtilitäten.
In FLESH AND THE DEVIL von Clarence Brown (1927) hält der Pastor angesichts der Sündhaftigkeit seiner Schäfchen eine Predigt von Fegefeuer und Schwert. Bei der anschliessenden Kommunion lässt eine erotische Geste von Greta Garbo, die zwischen ihrem Ehemann und ihrem einstigen Geliebten kniet, der sich neben seiner jungen Braut der Andacht hingibt, jegliche christliche Moral hinfällig werden und zugleich die Fortsetzung der Geschichte antizipieren.

3 FLESH AND THE DEVIL

Nur eine Geste und sonst gar nichts. Minimal Art erotischer Anspielung. SCARLET EMPRESS (1934) von Josef von Sternberg erzählt die Geschichte, wie aus der kleinen, harmlosen deutschen Prinzessin die berüchtigte Katharina II. von Russland wird. Im Film geben wenige Bilder, konzentriert auf Gross- und Detailaufnahmen eine aufsteigende Erregung wieder. Während der Hochzeitsmesse zwischen Katharina und dem verrückten Thronfolger Peter taucht bereits der Liebhaber auf. Das Flattern einer Kerze, die unter den Atemstössen der Braut zu erlöschen droht und doch nicht erlischt, visualisiert die aufkommende innere Erregung. Die Montage der sich immer mehr verengenden Grossaufnahmen schliesst das Gesicht Marlene Dietrichs ein und zwingt uns in das Bild hinein, bis die rhythmisch flackernde Kerzenflamme den Hintergrund fast abdeckt, und der Mund Marlene Dietrichs, fast eine Ahnung nur, sich leicht öffnet. Subtiler lässt sich erotische Verführung auf der Leinwand kaum mehr gestalten.

4 THE SCARLET EMPRESS

Aus den Subtilitäten erotischen Begehrens wächst die Inszenierung optischer Sinnlichkeit: im amerikanischen Film der Dreissigerjahre wird sie als Glamour umschrieben. Die visuell filmische Ausstrahlung entsteht aus einer Aura, die auf Materialwirkung und Licht beruht. Objekt filmhandwerklicher Verarbeitung wurde der Star, dessen Erotik in Accessoires und Dekor eingebunden wurde. Josef von Sternberg selbst nennt seine Glamour-Inszenierungen "arrogante Gesten", die den Film zum Erotikon werden lassen.

Der folgende Ausschnitt – eine arrogante Geste – stammt aus SHANGHAI EXPRESS (1932), einem Film, den der englische Dokumentarist Grierson als ein "Meisterwerk der Toilette" bezeichnet. Die Szene spielt sich auf der Plattform eines imaginären Eisenbahnwagens ab, der mit einer Fauna kolonialer Gäste durch das revolutionäre Kino-China von Peking nach Shanghai fährt. Shanghai Lily, gespielt wiederum von Marlene Dietrich, spürt ihren früheren Liebhaber Donald Harvey auf, gespielt von Clive Brook. Ihre Fotografie im Uhrendeckel Harveys und einzelne Dialogfetzen lassen eine tragische Biografie erahnen. Wichtiger als die Geschichte einer Vergangenheit ist das verführerische Arrangement der Gegenwart. Im Licht zittern leicht die Haare der Dietrich, auch der Pelz scheint sich kaum merklich zu sträuben.

5 SHANGHAI EXPRESS I

Die Auseinandersetzung mit Josef von Sternbergs Glamour als Erotikon des Films führt uns zu einem Aspekt hin, den Ester Carla de Miro in einem bereits 1982 in Frauen und Film erschienen Artikel die Instrumentalisierung des Begehrens bezeichnet: Durch eine subtile Verlagerung des Interesses von der szenischen Situation und vom Star auf den Gegenstand wird zugänglich gemacht, was sich erwerben lässt. Die Frau (der Star) bleibt in ihrer erotischen Ausstrahlung unerreichbar: Sie ist der Star am Himmel. Kaufbar, wenn auch nur für wenige, sind jedoch die Attribute, die sie umgeben. Es gilt von der Unerreichbarkeit der Person abzulenken und auf die Pelze, Juwelen, Kleider und Autos hinzuleiten, die auf der Ebene von Begehren und Besitz immer gegenwärtig sind. Davon lebt bis heute die Werbung, und davon lebt Hollywood als die Fabrik der Träume.

Ich zeige Ihnen einen weiteren Ausschnitt aus SHANGHAI EXPRESS.
Erotischer Schmelz verzaubert wiederum unsere Augen. Daraus erwächst die sinnlichste Verführung einer Zigarette. Sie ist kaufbar, auch wenn Marlene Dietrich auf der Leinwand unberührbare Erscheinung bleibt, wie Tex Averys Tänzerinnen, nach denen der geile Wolf selbst als Leiche noch herzerweichend jault, unerlösbar. Filmischer Glamour als Erotikon erinnert an Bette Gordons Formulierung: "Ich wollte eine Geschichte entwickeln, die ein Verlangen auslöst, das sie nie stillt." – Für die Raucherinnen und Raucher unter Ihnen lässt sich das kinematografisch ausgelöste Verlangen durch den Griff zur Zigarette stillen.

6 SHANGHAI EXPRESS II

Kinematografische Verzauberung liesse sich auch nennen, was Ester Carla de Miro als die Instrumentalisierung des Begehrens bezeichnet. Was die Darstellung der Sexualität im Film angeht, wird sie in die Fetischisierung von Accessoires und Körperteile umgesetzt. In DER BLAUE ENGEL (1930) experimentierte Josef von Sternberg am Körper von Marlene Dietrich mit allen Versatzstücken sexueller Assoziationen. Eingepasst in erotische Verkleidungen von Korsetts, Federboas, Strapsen und verführerischen Intimitäten werden alle Teile des weiblichen Körpers als Zeichen sexueller Attraktion auf ihre Wirkung hin ausprobiert und überprüft: Haare, Haut, Schenkel, Beine, aber auch Po und Arme, Augen und Mund. Dazu die rauchige Stimme. Daraus formte Sternberg die Dietrich. In der Fetischisierung wird die erotische und sexuelle Attraktion zum Kino-Kunstprodukt, das den Augen schmeichelt.

Im Folgenden gehe ich auf ein weiteres Beispiel ein: "Göttin der Liebe" wurde sie genannt und als "Pin up"-Girl zierte sie die Atombombe von Bikini: Rita Hayworth. In GILDA von Charles Vidor (1946) wird sie von ihrem Film-Ehemann, einem Gangster der Nightclubs und Spielcasinos, mit allen ihren Attributen und Accessoires – als Überraschung – ihrem früheren Liebhaber Johnny Farrell vorgeführt, der inzwischen ein Protegé des Gangsters geworden ist. In ihrer vollen Haarpracht und mit nackten Schultern wird sie gleich einem erotischen Bildschock von unten in die leere Kadrage einer Nahaufnahme geworfen: Die Überraschung besteht nicht nur in der unerwarteten Begegnung zwischen Gilda und Johnny Farrell, sondern in der wirkungsvollen Präsentation einer Glamour-Montage aus Stimme, Lied, nackter Haut und wallenden Haaren, in einer Inszenierung von Boudoir und körperliche Parfum. Dazu bissig, untertönig, abgründig, verführerisch ein Dialog der Anspielungen:

7 GILDA

Der weibliche Körper als ein erotisches Fluidum von Verhüllungen und Haut, doch ohne die Wirkung von Fleisch, in Schönheit präsentiert, ist das Werk eines cineastischen Eros, der die Epidermis der Erscheinungen liebt. Wir schauen uns eine Szene aus einem französischen Film aus dem Jahr 1989 an.

8 TROP BELLE POUR TOI I

TROP BELLE POUR TOI von Bernard Blier mit Gérard Dépardieu, Josiane Balasko, Carole Bouquet. Der Film wurde vor nicht zu langer Zeit von der Filmstelle hier an der ETH gezeigt, nachdem er in Zürich gleich den anderen Filmen von Blier wenig Beachtung gefunden hatte. Bernard Blier liebt es, Themen aufzugreifen, die sich gegen den Strich inszenieren lassen, wie z. B. in seinem letzten Film: MON HOMME, der die Geschichte einer glücklichen Hure erzählt, was ihm schlechte Kritiken einbrachte.
TROP BELLE POUR TOI erzählt von einem schwerfälligen Mann, gespielt von Gérard Dépardieu, einem Garagisten mit grossen Handwerkerhänden, glücklich verheiratet mit einer bildschönen Frau, bestens versehen mit zwei Kindern in einer grossen Villa, die sich für gesellschaftliche Soirées eignet. Und dieser Mann verliebt sich in seine Sekretärin: Sie ist mollig, gewöhnlich und gar nicht hübsch; ein Entchen neben der brillanten Erscheinung seiner Ehefrau, die für ihn zu schön ist. Dass er sich in dieses Nichts verliebt, ist für die schöne Ehefrau unverständlich und bringt sie zum Wahnsinn.
Was besitzt diese unscheinbare Frau?

Wir gehen von der eben gesehenen Szene aus: Es ist keine Glamour-Haut, die im Licht brilliert, sondern die Körperlichkeit von sattem Fleisch. Nicht die schöne Statue verführt, sondern der leichte Fluss der Bewegungen. Und wiederum ist es die Sprache, die vom Genuss fantasiert – einem Genuss jedoch, der nicht Versprechen, unerreichbaren Traum, Illusion, sondern unmittelbar gelebte Gegenwart bedeutet, die von Blier mit einfachen filmischen Mitteln zur Darstellung gebracht wird. Ein weiterer Ausschnitt:

9 TROP BELLE POUR TOI II

Wohl findet sich eine bewusst von filmischem Handwerk geprägte Gestaltung der Liebesszene: das weisse Gegenlicht des Fensters wie eine zweite Leinwand über das Bild gezogen, die Frau quer über den Mann gelagert wie eine Henri-Moore-Plastik, die als sich wölbender Bewegungsmittelpunkt die Einstellung bestimmt, – wohl ist die Liebesszene als ein Ort von Licht zwischen die eingedunkelte Gesprächsszene mit der Ehefrau und der Strahlkraft einer rot leuchtenden Metrostation eingemittet, wohl bestimmt eine visuelle und akustische Inszenierungslust die Leinwand, Thema ist jedoch nicht die Präsentation eines cineastischen Eros, sondern die Darstellung von Sexualität im Spanungsfeld eines Mannes zwischen zwei Frauen, die für wohlproportionierte Schönheit und selbstverständliche körperliche Fleischlichkeit stehen.
In dieser Polarisierung entfällt die Instrumentalisierung des Begehrens. Der Mann wird im Laufe des Films die Schönheit seiner Ehefrau und die Körperlichkeit seiner Geliebten nicht im Einklang bringen können. Daraus wächst die filmische Darstellung einer von Glamour und Fetischisierung entkleideten Sexualität. In Abwandlung zu Birgit Hein liesse sich sagen: Mann, ich bringe Dich zum Schwitzen.

Von Sternberg zu Cronenberg

Wir gingen Subtilitäten nach und fanden im Blick auf eine Brust, auf Haut und Schweissperlen einen Blick in das Bild und hinter das Bild. Eine erotische Geste, der Atem einer anbahnenden Erregung und der erotische Moment eines sich mit Haaren, Nacktheit und Haut füllenden Bildes wiesen uns hin zu einem cineastischen Eros, der in der Inszenierung eines Instrumentariums des Begehrens den fotogenen Glamourglanz von Kleidern, Pelzen, Haut und Haaren erstehen liess: die Selbstspiegelung von Licht und Kameraarbeit auf der Epidermis des filmischen Bildes. Dies entsprach dem für Hollywood typischen Verständnis industriell fabrizierter Erotik: Glamour als Selbstdarstellung filmischer Verführungskünste, die in den Gestaltungsmittel selbst liegen, in Stofflichkeit und Transzendenz der Dekors und Kostüme, in der Künstlichkeit der Gesten. Dem schmeichelhaften Anblick von Haut stellten wir mit Bliers TROP BELLE POUR TOI die Bewegungen und Rundungen von Körperlichkeit gegenüber. Dem cineastischen Eros subtiler Gestaltung die Handgreiflichkeit sexueller Vergegenwärtigung. Unter dem Aspekt Haut – Kleid – Körper nehme ich diese Gedanken noch einmal auf.

Von 1953 an trat Marlene Dietrich als Performance Künstlerin in Las Vegas auf. Der Hollywood Star begab sich auf die Bühne und unterhielt im direkten Kontakt das Publikum. Für ihre Auftritte in den Casinos und Night Clubs liess sie sich spezielle Abendkleider anfertigen, gleichsam Steigerungen des Modedesigns der Dreissigerjahre. Sie nannte diese Kleider "nackte Kleider", denn sie gaben die Illusion vor, zu sehen, was es nicht zu sehen gab. Denn die Nacktheit der Dietrich war eine Schnürung, die den älter werdenden Körper zusammenhielt und zugleich durchschimmern liess, was als Künstlichkeit, als Prothese weiblicher Attraktivität noch verblieb. Die prallen Schenkel der Lola waren subtiler Abstraktion körperlich erahnter Erotik gewichen.
Die "nackten Kleider" als Verhüllung von Entblössung. Unter dem Kleid wirkt der nackte Körper. Seine Erscheinung hat filmisch zwei Ausdrucksformen: nämlich als plastische Körperlichkeit, die den Raum strukturiert und als Haut, die in ihrer Intimität Licht und Kameraauge aufnimmt, aufsaugt, sich aneignet. Daraus ergibt sich die Funktion des Kleides: als zweite Haut und als Inszenierung des Körpers.

In L’ARGENT von Marcel L’Herbier, einem der ganz grossen filmgestalterisch innovativen Stummfilme des französischen Kinos aus dem Jahre 1928, einem Film über die französische Geldaristokratie, erscheint Brigitte Helm in einer fischsilbrigen Abendrobe, die als zweite Haut den Körper umspannt, der aalglatt durch die Wasser der Hochfinanz schwimmt, gleich den Haien, die als lebendige Aquarium-Tapete das Art-Deco-Dekor die geschmeidige Folie für Börse und Crash abgeben.

10 L’ARGENT

"Nackte Kleider" nannte Marlene Dietrich ihre Korsagen gegen den körperlichen Zerfall. Von Jean Harlow, deren Silberrobe wir bereits aus CHINA SEA mit Clark Gable kennen, hiess es, dass sie am liebsten nackt gespielt hätte. Für ihre Filmarbeit bedeutete dies, über die Verkleidung den Körper zu inszenieren.
In Howard Hughes HELL’S ANGELS, einem der verrücktesten Fliegerfilme über den ersten Weltkrieg, taucht Jean Harlow als selbstbewusste, flatterhafte Flapper namens Helen inmitten der Männerwelt auf. Eben aus den Büschen und den Armen eines Mannes entlassen, flattert sie im leichten duftigem Gewand als verführerischer Lulu-Schmetterling zwischen den sehr unterschiedlichen Brüdern Monte und Roy. Ihr Kleid ist ihr Körper, ebenso flatterhaft, ein Schleierhauch nur.

11 HELL’S ANGELS I

Da sie es mit Roy nicht weit bringt, verführt sie Monte, in ihre neue Wohnung zu kommen. Dabei fällt, analog zu den Zweizeilern einer Mae West, einer jener Sätze, die im puritanischen Amerika zu einem geflügelten Wort wurden.

12 HELL’S ANGELS II

Was bei Brigitte Helm in L’ARGENT als zweite Haut umso hautnaher die Bewegungsregungen und Erregungen des Körpers und umso nackter das Unsichtbare erscheinen liess, wird bei Jean Harlow direkter und visuell eindeutiger eine Inszenierung des Körpers, der die Verhüllung transparent werden lässt, ohne den Körper gänzlich preiszugeben. Harlows Inszenierung des Körpers assoziiert die Arbeitsweise von Edgar Degas. Auf grossen Blättern zeichnete er seine Balletteusen nackt, mit allen Geschlechtsmerkmalen versehen, naturalistisch und realistisch in jenen Stellungen, die er in seine Malerei übertrug, vielfach auch bildverkleinert. Auf den Bildern deckte er sie mit Pastellstrichen zu, kleidete (hüllte) er sie in Farbe und Tüll ein, nur noch nackt für jene, die um den malerischen Entstehungsprozess wissen oder die ursprüngliche Nacktheit erschauen.

Die Glamour Stars mit ihren Accessoires und Collagen von Fetischen, lichtmoduliert und malerische Ambiance getaucht, wachsen aus der Brillanz einer Schwarz-weiss-Fotografie. Ich wende mich in der Fokussierung auf „Haut – Körper und Kleid“ Nicolas Rays farbigem Film Noir PARTY GIRL zu, einem in Farben schwer leuchtenden Filme der Helligkeit und der Dunkelheit. Die Geschichte einer Begegnung zwischen einer Tänzerin, die als Party Girl, als attraktive Einladung zu Männer-Gesellschaften ihr Geld verdient, und einem Anwalt, der aus der Gosse kommt und zum genialen Verteidiger von Gangstern geworden ist, nimmt Nicolas Ray zum Anlass, einen Film über Dramaturgie und Sinnlichkeit der Farbe zu drehen. Aus der Welt des Lichts der grellen Rot-, Gold- und Gelbtöne steigt Cyd Charisse als ein elegant künstliches Gebilde verführerischer Attribute, leuchtend rot dem Gangster-Anwalt (Robert Taylor) entgegen, der der Dunkelheit der schwarzgekleideten Männer angehört.
Kleider stehen für Körperlichkeit. Sie bilden die Frau, sie bilden den Mann. Wir sind an einer Gangster-Party. An den Wänden leuchten sanft das Gold der Vergnügungsetablissements.

13 PARTY GIRL I

Auf diesem Hintergrund schauen wir uns eine Tanzszene an. In Tanzszenen erscheint der Körper als Träger all dessen, was sich mit einem Körper machen lässt, ihn im Lichte modulieren, verhüllen und enthüllen, ihn mit Attributen von Symbolen und Deutlichkeiten versehen, ihn den Andeutungen von Nacktheit aussetzen und ihn in seiner fotogenen Ausstrahlung gebrauchen.

Fred Astair tippt für sich die Tanznummer an: Wie von ungefähr entstehen die Steptanzschritte und entwickeln sich zum Solo-Virtuoso oder animieren die Partnerin in der Nachahmung der Schritte in den erotischen Paartanz einzusteigen. Wenn Frauen allein tanzen, tanzen sie vielfach vor. Ihr Partner ist das Publikum, das ihnen in den Blick gerät. Noch direkter wird der Bezug, wenn der Blick der Tänzerin dem Partner im Film gilt, den sie faszinieren, gewinnen, verführen will. Es ist dies auch die Verführung des Publikums.

In der Präsentation von Körper und Farbe, von Geste und Bewegung, von Plastizität im Raum, von Blösse im Kostüm breiten sich über die Leinwand die Grundelemente erotischer Sinnlichkeit aus, die dem Film eigen sind, gleich dem Körper von Cyd Charisse, die der Fläche der Leinwand angehört. Haut, Körper, Kleid, was auch heisst: Farbe, Bewegung, Licht und bei Cyd Charisse Beine, die nicht enden wollen. Geben wir uns der Lust des Schauens hin: die Bühne des Etablissement: als Demonstration des cineastischen Eros.

14 PARTY GIRL II

Zurück aus dem amerikanischen Exil drehte Fritz Lang 1959 in Deutschland das bereits mehrmals verfilmte exotische Drama. DAS INDISCHE GRABMAL von der Kritik abgelehnt, von den Cahiers du Cinéma als Meisterwerk besungen wurde. Wie dem auch sei, im Film bietet die amerikanische Schauspielerin Debra Paget eine Tanzszene an, die aus getanzter Nacktheit besteht, ohne die sieben Schleier der Salome-Verfilmungen. Vor der Schlange der Göttin hat sich die Priesterin im Tanz dem Gottesurteil zu unterwerfen, ob sie des Ehebruches schuldig sei. Auch wenn Fritz Lang seine Tänzerin mit dekorativen Cache-Sex versieht, geht es ihm visuell darum, der Nacktheit Körperlichkeit zu geben.

15 DAS INDISCHE GRABMAL

Der nackte Körper der Frau hat die Schlange zu verführen – was ihr offensichtlich nicht gelingt. Im Film mangelt es nicht an nackten Körpern, an Segmenten nackter Körperteile, an anatomischen und epidermen Details. Dennoch sind im Film kaum Bilder, Sequenzen gar anzutreffen, welche die Nacktheit des Körpers existenziell thematisieren. Marguerite Duras versuchte es in BAXTER, VERA BAXTER mit einer einzigen Einstellung, in der der Körper einer Frau in seiner Nacktheit die ganze Geschichte des Films offenlegt.
Ich denke auch an Chantal Akerman, die die Nacktheit des Körpers als Objekt des Begehrens gestaltet, oder an Oshima, der in REICH DER SINNE Nacktheit moduliert. Alain Tanner, man könnte fast sagen: erstaunlicherweise ein Schweizer Regisseur, rang immer wieder um die Darstellbarkeit von Nacktheit, z. B. in LE MILIEU DU MONDE. Ich zeige Ihnen eine Sequenz aus UNE FLAMME DANS MON COEUR aus dem Jahre 1987.

Mercedes, von Beruf Schauspielerin, existenziell ihrem arabischen Geliebten Aziz verfallen, sieht sich von ihrem neuen Freund Pierre, einem sachlich orientierten Journalisten und Reporter, wegen der ihr unverständlichen beruflich bedingten Abwesenheit für vierzehn Tage in der Wohnung zurückgelassen. Unfähig, diese für den Mann kurze Trennung, durchzustehen, hat sie sich in die Wohnung eingeschlossen, nur noch auf die Briefe ihres neuen Freundes wartend.
Diesen Zustand der Verlorenheit, trostloser Einsamkeit und ewigen Wartens setzt Alain Tanner in eine schwarz-weiss gehaltene Nacktheit um. Auf 16 mm mit einem eher körnigen Material gedreht und auf 35 mm aufgeblasen, entsteht eine raue brutale Fotografie, die die Kissen, die Tasse, den nackten Körper, die Beschaffenheit der Gegenstände, der Haut, der Haare als eine direkte Information über die Befindlichkeit von Mercedes in insgesamt vier Einstellungen vermittelt. Das fahle Fensterlicht von aussen – das Aussenlicht im Innern – schafft Stimmung und Plastizität zugleich. Die Onanie steht für die existenzielle Nacktheit des Körpers, schutzlos an die Verzweiflung ausgeliefert. Aus der Nacktheit des Körpers wächst das nackte Gesicht. Es ist eine erbarmungslose Szene: der lange Blick auf den Körper, der wie eine Verwundung uns anschaut.

16 UNE FLAMME DANS MON COEUR

Der Körper, nackt, ungemein verletzlich, verwundbar, wie eine von innen nach aussen Gestalt gewordene Wunde. Die Modulation des Körpers durch das Kleid als zweite Haut, die Drapierung der Blösse als ein Akt der Entblössung, die kinematografische Verzauberung durch Kamera und Licht, die Nacktheit als Plastizität körperlicher Schönheit im Raum und schliesslich der nackte Körper als Ausdruck innerer Befindlichkeit in visueller Direktheit bilden die Stationen einer filmgeschichtlichen Auseinandersetzung mit dem Körper.

Was bleibt, ist die Metamorphose des Körpers. In einer Yamaha-Töff-Reklame verschmolzen die Antriebsachse mechanischer Bewegung mit einem sich drehenden, sich windenden weiblichen Körper zu einem Bild kraftvoller Antriebs- und Bewegungsenergie. Der Reklame-Film brachte die filmisch wirksame Erotik von Körper, Bewegung, Maschine – und Farbplastizität zur Geltung. Es ist die gleiche Faszination, die den Blick in den alten Dampfschiffen durch die Lücken auf die sich drehenden Scheiben und Achsen, auf die stossenden Bolzen mit ihren gotischen Ölbehältern, eingelullt im Geruch stampfender Maschinenteile und erlebbarer Energie ergreift: In der Sexualität von Maschinen wird die Sexualität der Körper zur Metapher.
In Leviathan beschreibt der englische Staatstheoretiker Thomas Hobbes zu Beginn des 7. Jahrhunderts den Staat als einen menschlichen Körper, der eine perfekte Vergegenwärtigung physikalischer und chemischer Anwendungen von Funktionalität und Mechanik bildet. Daraus erwächst Hobbes’ Apotheose auf die Diktatur, die dem menschlichen Körper als Materie immanent ist.
Der Staat als mechanistischer Körper, die Verschmelzung von Körper und Maschine, dies verbunden mit der abendländischen Kunstvorstellung vom schönen Körper und von kunstvoller Nacktheit, was – mit Ausnahme von Groteske, Science Fiction und Horrorfilmen auch das westliche Kino prägte, trug in sich die Idee der Deformation, die in der bildenden Kunst die Moderne einleiten.

In den Filmen David Cronenbergs spielen die körperlichen Verwandlungen und Deformationen immer wieder eine entscheidende Rolle. So war es wohl nur eine Frage der Zeit, dass Cronenberg dem Roman Crash von James Graham Ballard und dessen nekrophil gesättigten Orgien von Körper, Metall, Blut, Blech, Fleisch, Öl und der Alchemie von Strassen- und Geschlechtsverkehr verfallen musste.
In Cronenbergs CRASH sind Mann und Frau nur noch in der kompakten Berührung mit Blech und Metall, umgeben vom schweren Parfum-Geruch der Motoren in den Lusträumen der Autos, die in rasender Fahrt sich gegenseitig suchen, stossen und abstossen, zum sexuellen Genuss fähig. Nur noch im Crash können durch die Identität von Auto und Körper die Weichteile von Mann und Frau ihren Orgasmus finden. Ballards Vorstellungen von einer Anpassung des Körpers an die technische Hochleistung und seine Beschreibung einer Ikonografie von Verstümmelung und Verkrüppelung der Körper und sexueller Attraktion der Prothesen aus Stahl und Leder setzt Cronenberg in die Darstellung einer futuristischen Sexualität um. Hier geht es nicht mehr – wie bei Tanner – um die Verletzung von Nacktheit, sondern der durch Autounfälle zerschundene, zerschnittene, zersplitterte Körper bildet die erotische Verführung. Die Narben von Wunden zu lecken, die Kennzeichen eines Crash sind, schaffen das orgiastische Begehren. Der versehrte Körper ist zum idealen Körper geworden. Hintergrund bilden die mechanischen Puppen Bellmers und die sexuellen Schutthalden Cindy Shermans. Die Körper Deformation wird Ausdruck einer neuen Ästhetik.

Der Film fand in Zürich kaum Beachtung. Dieser Art eines postmodernen Destruktivismus entzog sich das Publikum. Denn nicht nur der Körper wurde versehrt, sondern auch die Autos. Als der Film in Zürich lief, raste ein Mechaniker mit seiner Bolide in eine Menschengruppe und zeigte sich über seine Tat nicht betroffen. Wieso auch? – Es war, wie wenn Cronenbergs Ballard’sche Antizipation einer futuristischen Sexualität in die Gegenwand hineinreichen würde.

17 CRASH

Mein Assistent Jörg Hüssi bezog für den Zyklus „Neuere Schwarz-weiss-Filme“ einen japanischen Trash- und Horror-Film – nämlich TETSUO von Shinya Tsukamoto ein. Da der Film im Zyklus nicht gezeigt werden konnte, integriere ich ihn, da er unsere Körperthematik von Deformation und Verwandlung betrifft und vor Cronenbergs Film als angedeutete „Urszene“ oder Schlüsselszene einen von Sexualität geprägte Crash aufweist, in die Lehrveranstaltung. Wir befinden uns in einer Nach-Crash-Zeit: Mann und Frau bestehen nur noch aus Drähten, Schläuchen, Schrauben, Bolzen. Sie sind technische Abfall-Monster, Recycling-Monster aus Schutthalden – Materialien, aus Maschinen und Computer – Innereien geworden. Metall und Stahl und Kunststoff überwuchern krebsartig die Haut: Maschinenmenschen technischer Entstellung, von Geschwüren überzogen, als hätten Hiroshima und Nagasaki auch Tokyo und Kyoto erreicht.
Begehren ist nur noch reiner Horror:

18 TETSUO

Weiterführende Informationen

Title

Teaser text