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Seminar für Filmwissenschaft

Instabile Ansicht / Destabilizing View

Internationale Tagung, 4.–5. Mai 2023

»I have seen a million pictures of my face and still have no idea.«  So bestimmt die norwegisch-nigerianische Künstlerin Frida Orupabo ihre jüngst im Fotomuseum Winterthur ausgestellte Materialsammlung von Bildern, aus der keine homogene Ansicht entstehen will. Ihr Bild wird vielmehr aus eindimensionalen Repräsentationen herausgelöst und ihm wird Komplexität, Ambivalenz und Widersprüchlichkeit zugestanden. Diese Blickposition steht im Kontrast zu dem, was zu Beginn des 20. Jahrhunderts als »Ansicht« formatiert wurde.  Ziel der Tagung ist es, jenseits der »Ansicht« zu forschen und die Erschütterung jener für die Filmwissenschaft so grundlegenden Blickposition zu thematisieren. Das hat eine historische Dimension: Schon im 19. Jahrhundert finden sich Bildforschungen (Bildatlanten, Fotoskulpturen, Modellierungen), die eher von Points of View (Galloway) ausgingen als von einer festen Blickposition. Mittlerweile ist die »Ästhetik der Ansicht« technisch durch die Entstehung multipler Bilderformen und sozialgeschichtlich durch dekoloniale Interventionen herausgefordert. Die beweglichen Rund- und Umkehrblicke, die im Rahmen der Tagung verhandelt werden, stehen in vielfältigen Beziehungen zu diesen anderen Ansichten.

Da die Ansicht wortgeschichtlich sowohl das Anschauen als auch das Angeschautwerden impliziert,  geht die Revision der Ansicht eher von einem Nicht-Anschauen und Nicht-Angeschaut werden wollen bzw. können aus. Dabei tritt möglicherweise der Akt des Zusammensetzens vor den Akt des Sehens. Das Ende einer Ästhetik der Ansicht hätte dabei technikgeschichtlich mit dem vermehrten Zusammenschichten von Bildern zu einem instabilen Objekt zu tun. Fünf Kategorien für diese neue Instabilität schlagen wir vor:  1. Multiplizität von Blicken (nach der Ansicht kommt die »Vielsicht«), 2. andere Raumordnungen (z.B. zirkulär – nicht bühnenhaft, zentralperspektivisch), 3. Prozessualität (das Bild ist in komplexe kooperative Prozesse eingebunden), 4. Skulpturalität (das Bildprodukt ist eher ein dreidimensionales Objekt, nicht ein flaches Bild), 5. Verzicht auf Komplexitätsreduktion (der Abstraktions- und Komplexitätsgrad der Bilder nimmt bis zur Unschärfe hin zu; synthetische, ‚gesteigerte‘ Bilder).

Fragen der Tagung lauten: Wie lässt sich ein Abschied von der Ansicht materialnah nachvollziehen? Welche Folgen hat die Dezentrierung des Blicks für die Filmtheorie und -geschichte? Während Gunning die hervorgehobene Präsenz der Kamera vorausgesetzt, gibt es heute quasi kein jenseits der Kamera mehr – welche Konsequenzen hat diese Ubiquität der Bilder? Welche ästhetische Modellbildung ergibt sich, wenn es weniger ums Aufzeichnen als ums Berechnen, Zusammensetzen, Synthetisieren oder Modellieren geht? Wie entsteht aus einer Bildtechnologie etwas, das möglicherweise kein Bild mehr ist? Wenn wir es mit einem Verschwinden z.B. der Ansichtskarte, aber mit der Entstehung multipler Bildformen (etwa auf Instagram) zu tun haben, welche Folgen hat ein solcher Zerfall einer festeren Blickstruktur? Wie fordert dies Paradigmen der Filmgeschichte heraus, etwa Harun Farockis letzte Frage an Alexander Galloway: Löst Navigation die Montage als dominantes Prinzip visueller Gestaltung ab?

Konzept: Pascal Maslon, Volker Pantenburg, Caroline Schöbi, Linda Waack

Anmeldung: pascal.maslon@uzh.ch

Programm

Donnerstag, 4. Mai 2023

Universität Zürich
KOL-E-13 EV Senatszimmer
Rämistrasse 71, 8006 Zürich

vorab Frühstückskaffee
10:00–13:00

Doktorierenden-Workshop 

Ökologien des Films im Anthropozän (Petra Löffler, Oldenburg)

ab 15:00 Ankunft, Willkommenskaffee
15:45

Einführung

Pascal Maslon, Caroline Schöbi, Linda Waack

16:00–17:00

Zerfall
Moderation: Linda Waack

(De-)Compos(t)ing the Cinematic Image (Petra Löffler, Oldenburg)

Cyanotypie und Mikroskopie. Bilder schichten in Helena Wittmanns Human Flowers of Flesh (Simone Winkler, Zürich)

17:00–17:15 Pause
17:15–18:15

Aggregat
Moderation: Pascal Maslon

»dissolving views« | aufgelöste Ansichten (Michel Diester, Paderborn)

Erschliessung v. Relativierung. Filmästhetische Wahrnehmungsordnungen bei Béla Balázs und Jean Epstein (Ulrike Wirth, Weimar)

18:15–18:45 Pause
18:45–19:45

Sensorik
Moderation: Caroline Schöbi

Instabile Aufsicht – Flug- & Drohnenaufnahmen im Dokumentarfilm (Tina Kaiser, Marburg)

Instabile Reiseansichten: Mobile Aufnahmen mit der GoPro (Karina Kirsten, Siegen)

ab 20:15 Abendessen

 

Freitag, 5. Mai 2023

Universität Zürich
KOL-H-317
Rämistrasse 71, 8006 Zürich

ab 09:30 Frühstückskaffee
10:00–12:00

Navigation
Moderation: Philipp Blum

Aufschaltung – Fernsehen durch Plexiglas (Kerim Doğruel, Frankfurt am Main)

Umwelt – Bildwelt – Komposit (Emanuel Welinder, Basel)

The Scopic Regime of Computation: From Rough Waters to Computable Grids (Bernard Geoghegan, London)

12:00–14:00 Mittagessen
14:00–15:30

Evidenz
Moderation: Volker Pantenburg

Ansicht, Einsicht, Evidenz. Audiovisuelle Begriffsarbeit bei Forensic Architecture (Anna Polze, Bochum)

Farocki in vier Bildern (Pascal Maslon, Zürich)

Filmproduktion als Fotoessay (Theodor Frisorger, Köln)

15:30–16:00

Pause

16:00–17:00

Überschuss
Moderation: Babylonia Constantinides

Verteilt und instabil: Material Agency in künstlerischen Fehlversuchen (Vera Schamal, Zürich)

Zwischen Zeigen und Präsentieren: Un/sichtbare Kommunikationsräume in neuen Formen des Dokumentarischen (Florian Krautkrämer, Luzern)

17:00–17:30

Abschluss, Abschied

im Anschluss Apéro riche

 

Panel I: Zerfall

(De-)Compos(t)ing the Cinematic Image (Petra Löffler, Oldenburg)

Das Frühe Kino oder „Cinema of Attraction“, wie Tom Gunning die Aufführungsform von Filmen um 1900 bezeichnet hat, verhandelt in vielerlei Hinsicht Blickpositionen und das Verhältnis zwischen Publikum und Leinwand (prominent im sogenannten Rube Film). Dessen Aufmerksamkeit wird u.a. durch eine Aufteilung des Filmbildes in verschiedene Blickzentren mittels Inserts bzw. deren Überlagerung durch Überblendung wie in Thomas A. Edisons The Dream of a Rarebit Fiend (1906) zerstreut. Diese tricktechnisch erzeugte Schichtung des Filmbildes wird mitunter wie in Edwin S. Porters The Great Train Robbery (1903) durch partielle Einfärbung ergänzt, die eine autonome Wahrnehmungsqualität besitzt. Durch Montage im Filmkader, Überblendung und Farbauftrag wird das Filmbild mehrschichtig und zugleich polyfokal, wie ich in meiner Studie „Verteilte Aufmerksamkeit“ (2014) gezeigt habe. Neben diesen intendierten oder komponierten Wirkungen tragen auch zufällige Beschädigung, unumgängliche Abnutzung des Filmmaterials und Projektionsfehler zu einer Dezentrierung des projizierten Filmbildes und einer Zerstreuung des Sehens inklusive bezeugter Schwindeleffekte bei. Mich interessiert dieser Aspekt besonders in Hinsicht auf eine Aktualisierung von Filmen des Frühen Kinos, die den materiellen Zerfall des Zelluloids zum Ausgangspunkt von analytischen bzw. ästhetischen Erkundungen auch der historischen Vielschichtigkeit (Rassismus, Kolonialität) filmischer Bilder machen, wie Angela Ricci Lucchi und Yervant Gianikian am Beispiel der wiedergefundenen Filme von Luca Comerio demonstriert haben. Zelluloid verstehe ich als eigenmächtige Schicht des Filmbildes, das das aufgenommene Bild nicht einfach zerstört, sondern es besetzt und durch chemische Wechselwirkungen vampirisiert. Dabei entstehen aus Zu- bzw. Unfall Bilder, die das perspektivische Sehen auf be(un)ruhigende Weise aussetzen und gleichermaßen filmhistorische Gewissheiten (etwa bezüglich Kanonizität, Historizität und Partialität) auf den Prüfstand stellen. Diese fortlaufende Transformation der fotochemischen Bildschicht möchte ich als (De-)Compos(t)ing beschreiben.

Cyanotypie und Mikroskopie. Bilder schichten in Helena Wittmanns Human Flowers of Flesh (Simone Winkler, Zürich)

Der Vortrag erkundet Helena Wittmanns experimentellen Spielfilm Human Flowers of Flesh. Der Fokus liegt dabei auf Sequenzen, die durch filmische Tauchgänge, Cyanotypie und Mikroskopie unkonventionelle Wahrnehmungen eröffnen und Ansichten destabilisieren möchten. Das Schichten von Bildern und Materialien ist dabei ein formales Prinzip des Festivalfilms. Die Reflexion über die Verbindung zwischen Mensch, Umgebung und Materie und Fragen zur Bedeutung von Körpern und Geweben sind schon im Filmtitel angelegt. Die Rolle des Meeres ist zentrales Element in Wittmanns Werk und dient nicht nur als Schauplatz der Fremdenlegion am Mittelmeer: Die Aufmerksamkeit für die Umwelt, die Durchlässigkeit von Grenzen und die Infragestellung des Erzählens von Geschichte lassen sich durch den Film erkunden, in dem Raum und Zeit verschwimmt. Durch die kinematografischen Wellenflächen möchten sich Fixierungen auflösen und Momente des Übergangs und der Veränderung scheinen einzutreten. Das fotografische Druckverfahren der Cyanotypien bringt nicht nur die chemisch analoge Materialität und taktile Haptik des Entwicklungsprozesses ein, sondern erzeugt auch eine blaue Wasserschicht auf den Filmbildern. Mikroskopische Aufnahmen von Mikroorganismen machen eine Traumwelt sichtbar, die dem menschlichen Auge normalerweise verborgen bleibt. Diese langsamen Bilder stellen die Relativität von Größenverhältnissen in den Vordergrund, unterstreichen das Bewusstsein für die Komplexität der unsichtbaren Welt und erinnern an Jean Epsteins Beobachtungen zur Mikroskopie in „Le monde fluide de l'écran“ von 1950. So durchdringen die Mikroorganismen schließlich nicht nur unsere Körper und die Umwelt, sondern setzen sich auch auf dem analogen 16mm-Film selbst ab und bilden so eine neue Schicht auf der Bildoberfläche.

Panel II: Aggregat

»dissolving views« | aufgelöste Ansichten (Michel Diester, Paderborn)

Der Beitrag, den ich gerne vorschlagen möchte, fragt nicht so sehr nach neueren Möglichkeiten destabilisierender Ansichten, sondern setzt mit der Frage ein, ob die instabile Ansicht dem bewegten Bild nicht immer schon eingeschrieben ist. Ausgangspunkt der Überlegungen bilden die im 19. Jahrhundert populären »Nebelbilder«. Mit der englischen Bezeichnung »dissolving views« wird klarer, dass es sich dabei nicht um Bilder handelt, die Nebel abbilden, sondern um Ansichten, die ineinander übergehen, was durch die Anordnung zweier (seltener auch mehrerer) laterna magicas ermöglicht wird. Die attestierte Nebelhaftigkeit der Bilder fundiert darin, dass eine zwischenzeitliche Überlagerung beider Bilder jenen verschwommenen, uneindeutigen Bereich bezeichnet, in dem der Übergang sich vollzieht. Der Übergang markiert nun auch das eigentlich Bemerkenswerte an diesem ›kleinen Dispositiv‹ – die Bilder an sich waren weniger spektakulär –, denn es ging ihnen darum, einen Gegensatz, einen größtmöglichen Übergang, etwa zwischen Tag und Nacht oder Sommer und Winter, ins Bild zu setzen. 

Die Ästhetik – und in mancher Hinsicht auch die Technik – der Nebelbilder wurde später, wenngleich unter ganz anderen Vorzeichen, vom Film aufgegriffen und findet dort eine Entsprechung in der Überblendung (der engl. dissolve kündet noch einhelliger davon). Um eine Entsprechung oder Ähnlichkeitsbeziehung handelt es sich auch deswegen, weil die Überblendung im Film eine ähnliche Funktion ausfüllt, nämlich Übergänge zwischen Bildern herbeizuführen, die – anders als etwa beim glatten Schnitt – einander fremd sind (wobei das im Film natürlich viel mehr heißen kann als der Unterschied zwischen Tag und Nacht). Schnell etablierte sich die Überblendung als die selbstverständliche Option, die es zu verwenden galt, sobald Szenen- oder Sequenzwechsel anzuzeigen waren. Gleichzeitig führte jene Konventionalisierung (insbesondere im Rahmen des continuity system Hollywoods) dazu, dass die Überblendung zunehmend abgegriffen wirkte. Heute hat sie nahezu den Status einer verfemten Operation inne. Eine Emphase des Nebulösen, die das Enigmatische und Diffuse in sich birgt, lässt sich in der Überblendung in jedem Fall nicht mehr erkennen.

Dieser Diagnose zum Trotz möchte der Beitrag die Frage ausloten, ob die Überblendung nicht vielleicht doch als eine – und vielleicht sogar als die primordiale – Operation begriffen werden kann, die die Ansicht ›vernebelt‹. Denn zwei Bilder überblenden bedeutet, dass die Bilder diffundieren und nicht mehr in ihrer ehedem zur Schau gestellten Einheit begriffen werden können. Wenngleich nur für eine kurze Zeitspanne verursacht die Überblendung so eine Destabilisierung des Bildes. Die Praxis des »vermehrten Zusammenschichten von Bildern«, die zumeist etwas voreilig als Domäne des Digitalen identifiziert wird, findet in der Überblendung vielleicht nicht seinen Ursprung, so aber doch einen frühen Ausdruck.

Avanciertere Anwendungen, die das Feld des bloßen Szenenübergangs verlassen, nutzen die Überblendung wiederum dafür, neben der Diffusion der Bildes auch Diffusionen der Ansichten herbeizuführen. Beispielhaft sei hier an die Unterminierung der suture (im Sinne verzerrter oder multipler Ansichten) erinnert, die etwa Žižek mit dem »Interface-Effekt« (Žižek: 2001) vorträgt, dem allerdings Überblendungen zu Grunde liegen. Im Anschluss daran möchte der Beitrag weitere Beispiele zur Diskussion stellen, die ein wörtlich-Nehmen von »dissolving views« (als auflösende Ansichten) möglicherweise in Aussicht stellen.

Erschliessung v. Relativierung. Filmästhetische Wahrnehmungsordnungen bei Béla Balázs und Jean Epstein (Ulrike Wirth, Weimar)

In Filmen wie LEVIATHAN (R: Lucien Castaing-Taylor + Véréna Paravel, 2012) oder auch ERDE (R: Nikolaus Geyrhalter, 2019) wird bereits auf formal-ästhetischer Ebene auf die epistemologische Erschütterung reagiert, die in der Gegenwartsbestimmung Anthropozän zum Ausdruck kommt – nämlich, dass dieser anthropos, diese gewaltförmige Ausschlusskategorie „moderner Mensch", sich nicht länger einer ahistorischen Natur gegenüberstehend begreifen könne. Somit stünde keine außerhalb von Transformationsprozessen existierende Umgebungswelt – die wir Umwelt oder Natur nennen könnten – zur Verfügung, auf die es sich in Distanz zu begeben erlauben würde, vielmehr weicht jeglicher feste Grund einem prekären Koexistieren.

Narratologische und formal-ästhetische Entscheidungen, die etwa im Kontext Klimaungerechtigkeit auf Multiperspektivität (menschliche wie nicht-menschliche) setzen, rücken unsere Aufmerksamkeit daher auf die Arbeit an den Grenzziehungen von Natur-Kultur, Subjekt-Objekt und Ursache-Wirkungs-Relationen – seit der frühen Filmgeschichte ohnehin ein Kerngebiet der Kinematographie. Das Interesse für verteilte Perspektiven führt in der Film- und Medienwissenschaft gegenwärtig so auch auffallend oft zu einer Relektüre der frühen Filmgeschichte: Insbesondere das erste Drittel filmwissenschaftlicher Auseinandersetzung (vorrangig die 1920er) wird mit neuen Fragestellungen aufgesucht und umgekehrt finden vergangene Debatten ihre Echos in der Gegenwart.

Mit meinem Beitrag möchte ich mich ebenfalls in die frühe Filmtheoriegeschichte begeben und eine Gegenüberstellung der filmästhetischen Wahrnehmungsordnungen von Béla Balázs und Jean Epstein anstreben. Dass das menschliche Subjekt (im Film) von nicht-menschlichen Existenzweisen umgeben ist, ist eine Erkenntnis, die nicht alleine die Großaufnahme offenbart, sondern die ganz ursächlich in der neuen ,Sichtbarkeit‘ begründet lag, welche nicht nur für Epstein und Balázs epistemischen Charakter hatte. Der Blick und in Folge auch das Gehör konnten auf das gelenkt werden, was neben/mit/durch oder auch gegen den Menschen noch handelte, bzw. diesem seinen Handlungsspielraum ermöglichte. Subjekt-Objekt-Verhältnisse konnten durchkreuzt werden, Objekte als Akteure in Erscheinung treten. In der Bewegung, in der Dauer – die Philosophie des Films von Epstein bis Deleuze – konnten technische Artefakte und lebendige Organismen (zusammenfassend ließe sich von ,Dingwelt‘ und ,Naturwelt‘ sprechen) einander angenähert werden.

Die filmästhetischen Schriften von Béla Balázs und Jean Epstein weisen dahingehend einige Resonanzen auf, da bei beiden – wiewohl nicht nur bei ihnen – Film als Korrektiv von Wahrnehmungs- und Ordnungsregimen fungiert, die den Menschen als einzig handelndes Subjekt ins Zentrum stellen.

Bei Balázs ist Filmkunst ein Paradox, ein schöpferisches Hervorbringen zuvor verborgener Evidenzen. Ein Wissen, hervorgebracht von einem „Ding unter Dingen“ – der Kamera – welches in und auf Grund seiner Konstruiertheit dennoch Rückschluss auf die äußere Wirklichkeit erlaubt. Doch ebendieser Punkt, der Glaube an eine potentielle Erschließbarkeit der äußeren Wirklichkeit in ihrem So-Sein, die Balázs sich vom Film als genuin ästhetischem Wissen von der Welt verspricht, unterscheidet dessen humanistisches Programm von Epstein. Widmet sich dieser doch jener Dimension, die Balázs beinahe zur Gänze ausklammert – der Zeit. Bei Epstein ist der Kinematograph kein Agent des Rationalismus, vielmehr versetzt die filmische Zeitmaschine in Rauschzustände. Sie arbeitet an der Auflösung vermeintlich stabiler Raum-Zeit-Ordnungen, aber sie verbleibt in ebendiesem Aggregatzustand – hier trennt sich Epsteins Theorie und Praxis deutlich von Balázs – ihre Verflüssigung bleibt demnach in Bewegung und gerinnt nicht erneut in klar definierbare Formen und Verbindungen. Somit ließe sich Erschließung/Sinngebung (Balázs) und Relativierung, experimentelle Kosmogonie bzw. Experimentalanordnung (Epstein) gegenüberstellen.

Die Dialektik von Erschließung und Verfremdung (die Uncanniness) der historischen Alltagswelt in /mit ihrer filmischen (Re-)Produktion kann zudem mit dem gegenwärtigen Unverfügbarwerden einer Umgebungswelt – die wir weiterhin „Natur“ nennen können – konstelliert werden. Mein Beitrag möchte diese Konstellierung für die Analyse von (gegenwärtigen) verteilten Perspektiven und multisensorischen Wahrnehmungsordnungen produktiv machen.

Panel III: Sensorik

Instabile Aufsicht – Flug- & Drohnenaufnahmen im Dokumentarfilm (Tina Kaiser, Marburg)

In meiner Präsentation soll es um audiovisuelle Wahrnehmungsnischen innerhalb des Dokumentarfilms gehen, die mittels Flug- und Drohnenaufnahmen entstehen, um auf etwas aufmerksam zu machen, was diese Bilder, oftmals mit einer anderen Erzählintention, mittransportieren: das (desorientierte) Sehen AUCH außerhalb des Handlungsflusses, ein gleichzeitiges Bewusst- und Überwältigtseins den bewegten und zugleich starren Oberflächen gegenüber, nicht zuletzt im Sinne eines Öffnens des Films hin zur Konzentration auf die eigentliche Bildarbeit in und mit einer, evtl. relativ unzugänglichen, Landschaft jenseits eingängiger Ansichten.

Die Konzentration wird so innerhalb der Filmrezeption verlagerbar hin zu einer neuen Betrachtung der bewegten Landschaften. In speziellen Filmsequenzen kann dabei die Übersichtlichkeit von Figur und Grund entfallen: ein Flächen-Tiefen-Paradoxon wird rezipierbar. Der Stil der Aufnahme verbindet dabei eine taktile Nahsicht mit einer optischen Fernsicht. Perspektivische Durch- und flächige Aufsicht kann so im Flugbild simultan hervortreten.

Im weitesten Sinne soll es also um Ansätze und Pläne zum Verlassen einer Übersicht IN der
Übersicht gehen, die uns seit jeher von der geometrischen Perspektive vorgegaukelt wurde. Mit El Lissitzkys suprematistischer Nach-Außen-Verlegung, als Außerhalb des Bildrahmens, der Spitze der Sehpyramide als Projektion des Betrachterauges sowie Gilles Deleuzes Konzept des hors-champ, als Verweis auf das Außerhalb der filmischen Kadrierung im Bild selbst, liegt nun hier wie dort die Betonung auf dem asymmetrischen binokularen Sehen einerseits und auf den Möglichkeiten des bewegten Sehens andererseits. Bonitzers Dekadrierungen können hieran anschließen.
Für Richard Sennett wäre dies vermutlich zudem die adäquate Übersetzung seines Konzepts der Consciousness of the Eye (Sennett 1994): Möglichkeiten der Offenheit, der Überraschungen und Selbstpreisgaben im Erfahren von Perspektiven eines Raums, eben als mehr-perspektivische Achsen, die immer neue Blickwinkelwechsel durch Horizontverlagerungen oder gar ahorizontale Sichten bereithalten.

Sehen war wiederum für den Kunsthistoriker Konrad Fiedler die Fähigkeit, dem Augeneindruck die räumliche Beschaffenheit der Natur abzulesen (vgl. FIEDLER: 375). Das Fiedlersche Fernbild (vgl. WIESING 1997: 57ff.) wird bei Rudolf Arnheim zum bewegten Fernbild. In der Tiefenkonstruktion durch die Flächen hindurch wirkt die Bewegung mit und erreicht eine Annäherung im Sinne eines nah wirkenden Raumbildes, das nicht mehr nur ferne Distanzfläche sein kann. Die Bewegung führt so den Raum in das Fernbild ein und erweitert es, ohne ihm jedoch seine Flächeneigenheiten zu nehmen. Mit Riegl könnte man sagen, dass sich hier optisch-fernsichtige und plastisch-nahsichtige Eigenschaften verbinden. Der Gegenstand übernimmt dabei Formen des Vorüberziehens und Gleitens, die den Verweis auf die nächste Aufnahme, das nächste Bild bereits inhärent haben. Der anwesende und abwesende Raum ist es, der hier Koexistenzen eingeht, und dies gerade innerhalb und außerhalb des Bildfeldes. Die gefilmte Materie des Raumes wird als unabschließbar, kontinuierlich und unbegrenzt sichtbar. Das Off fügt dem Bild eine andere Dauer und Potentialitäten hinzu und ermöglicht optisch-realistische Kippphänomene – es geht also auch um Aufnahmen, die erwarteten Zielen entkommen bzw. ausweichen.

Die Wege hierhin können unterschiedliche sein. Kartographierende Nicht-Blicke werden erweitert oder ganz ersetzt durch anders der Umwelt zugewandte nonhumane PoVs, die nicht unbedingt klar definiert sind. Die Aufnahmen können eine Dezentrierung, dergestalt eine Delokalisation, erfahren, die so erst eine überraschende Wahrnehmung der Umgebung ermöglicht. Die Navigation und der Einsatz dieser Drohnenarbeit innerhalb der Kameraarbeit rückt damit ins Zentrum. Fokussiertes und a-fokussiertes Sehen bauen in der filmischen Flugaufnahme gegenseitige Sehbereiche auf, die sich um den eigenen Flug eben auch als Leerlauf der Handlung kümmern. Diverse Formen von Sogwirkung können so innerhalb der Rezeption auftreten, das cinema of attraction lässt grüßen.

Als Bildgenerierungsform stehen sie damit in der Tradition der römischen Bootsfahrt-Metapher nach Wickhoff (Clausberg 1983: 174) und zeigen sich dergestalt als ein jüngstes Moment des kontinuierenden Stils im anderen Medium. Hier wie dort tritt nicht der ausgezeichnete Augenblick in den Vordergrund, sondern die einzelnen Bilder werden als ununterbrochen gleitende und gleichwertige wahrgenommen. Der nichteuklidische Raum des Flugs wird mit ihnen erfahrbar. Mit Hans Belting gesprochen, kann so “die unstabile Schiffssituation, die dem perspektivischen Gesetz entzogen ist” neu ermessen und bezeugt werden.

Instabile Reiseansichten: Mobile Aufnahmen mit der GoPro (Karina Kirsten, Siegen)

Die GoPro ist eine kleine, leichte und tragfähige Action Camera, die mit leistungsstarker Software und robuster Hardware ausgestattet ist. Meist am eigenen Körper getragen oder an Sportgeräten montiert erlaubt sie auch in bewegungsreichen Momenten hochauflösende Bild- und Filmaufnahmen, ohne dass sich die filmende Person um Ausschnitt oder Schärfe kümmern muss. Breitere Bekanntheit hat diese Kamera insbesondere für actionreiche First-Person Videos von Sportarten wie Surfen, Skifahren, oder Base-Jumping erfahren. Aber auch neuere Phänomene wie Hike&Fly Videos, die individuelle Biwakreisen im Gleitschirm zeigen, entstehen mithilfe dieser Kameras. Der Beitrag betrachtet diese Aufnahmen als instabile Reiseansichten, deren Spezifik in einer orts- und situationsbezogene Bildgenese und technonatürlichen Sensibilität gegenüber ihrer Umwelt besteht, die unabhängig von der menschlichen Blickposition verlaufen. Die Portabilität der Kameratechnologie gehen mit der Motilität des filmenden Körper eine Mensch-Maschinen- Konfiguration ein, die sich zwar in motion und in situ konstituiert, aber den menschlichen Akt des Sehens revidiert. In Anbetracht der maschinellen Sehleistung, deren Bildstabilisator, Horizontausgleich, Weitwinkelobjektiv und 360°-Aufnahmen das menschliche Sehvermögen übersteigen, schließt der Beitrag an die vorgeschlagene Kategorie der Prozessualität an und geht den kooperativen Prozessen und Praktiken nach, aus denen GoPro Reiseansichten hervorgehen. Mit dem Abgesang auf eine Ästhetik der stabilen Ansicht steht die Frage im Raum, welche neue oder auch andere Ästhetik instabile Ansichten entwerfen, insbesondere wenn das Bildliche im Sehen zurücktritt und stattdessen sensorische und affektive Bedingungen in den Vordergrund rücken. Kann von einer sensorischen Ästhetik die Rede sein? Liefern mobile Aufnahmen mit der GoPro dann nicht mehr nur instabile Ansichten, sondern auch Spürbilder? Diesen und weiteren Anschlussfragen geht der Beitrag anhand eines Korpus ausgewählter Hike&Fly Travelogues nach. Inwiefern uns GoPro Aufnahmen dabei nicht mehr sehen, aber dafür spüren lassen, stellt der Beitrag abschließend zur Diskussion.

Panel IV: Navigation

Aufschaltung – Fernsehen durch Plexiglas (Kerim Doğruel, Frankfurt am Main)

„Dieses Fernsehgerät mit Plexiglasgehäuse war auf der Weltausstellung Brüssel 1958 ausgestellt“ schildert die Plakette eines Siemens-Fernsehers, der im Archivdepot des Museums für Kommunikation aufbewahrt wird. Das Gerät sieht ungewöhnlich aus und fordert durch die optischen Effekte des glasähnlichen Materials eine andere Perspektive auf das, was für gewöhnlich als Fernsehgerät verstanden wird. Die Transparenz des Gehäuses scheint mehrere unsichtbare Regeln der Nutzung und Produktgestaltung elektronischer Apparate sichtbar werden zu lassen. Dabei spiegelt er alle fünf Kategorien der Instabilität, die das CfP dieses Workshops vorschlägt:

  1. Multiplizität der Blicke: Der glasähnliche Werkstoff Plexiglas verlangt mindestens zwei verschiedene Blickweisen auf, durch und in den Gegenstand: „looking on“ und „looking through“ (Armstrong 2008) und dem Dazwischen. Der Kunststoff schaut von allen Seiten zurück, indem er seine Umgebung spiegelt.

  2. Andere Raumordnung: Der Reiz dieses Objektes tritt nur hervor, wenn er auf andere Weise auf- und ausgestellt wird. Statt in Schränken, an Wänden oder in Schrankwänden aufgestellt zu werden legt die Gestaltung des Apparats eine freistehende Positionierung im Raum nahe, damit seine Betrachter*innen das Gerät von mehr als nur einer Seite ansehen können. Auf den Weltausstellungen 1939 und 1958 werden solche transparenten Exponate gezielt zur Lenkung von Aufmerksamkeiten oder Publikumsbewegungen eingesetzt.

  3. Prozessualität: Der Plexiglasfernseher ermöglicht es ihn auch während des Betriebs beim Arbeiten zu betrachten. Dabei imaginiert das Gerät eine Beobachtbarkeit elektronischer Prozesse. Doch Strom lässt sich nicht so einfach beim Fließen beobachten. Einerseits erinnert der Apparat so an die Maschinenästhetik mechanischer Apparate – wie z.B. Skelettuhren – obwohl keine sichtbare Bewegung im Inneren stattfindet. Andererseits greift er auf Versuche der Sichtbarmachung von Strom zurück, die meist mittels mit Edelgasen gefüllten Glaskolben erreicht wurden (Morton 2000).

  4. Skulpturalität: Das Gerät verlangt anders als opake Fernseher betrachtet zu werden. Im Gegensatz zu Fernsehtheorien die auf die Übertragung audiovisueller Inhalte aufbauen und den Bildschirm ins Zentrum der Theorie rücken, kann die Komplexität des Objektes nur erfasst werden, wenn die Objekthaftigkeit des Gegenstandes ernst genommen wird. Im weiteren Gegensatz zu designtheoretischen und -historischen Ansätzen der Fernsehtheorie und -geschichte (Spigel 2001, 2008; Miggelbrink 2018), welche sich auf die Oberflächen der Außenhülle konzentrieren, verleiht der transparente Werkstoff dem Objekt zusätzlich Tiefe. Die Relativität der Form dessen, was geläufig als Objekt „Fernseher“ verstanden wird, unterstreicht das Plexiglasmodell durch die Sichtbarkeit der vielen Luft- und Zwischenräume, welche die Beliebigkeit dieser Form mit hervorheben. In seiner Doppelfunktion als Gehäuse und Vitrine hebt er zusätzlich die ästhetischen Qualitäten der in ihm befindlichen elektronischen Bauelemente hervor.

  5. Verzicht auf Komplexitätsreduktion: Die Sichtbarkeit der inneren Bauteile sorgt für einen unruhigen und überladenen Eindruck, der oft als unerwünscht beschrieben wird. Das Objekt wirkt überladen, weil es so viel zu sehen gibt (Heilmann 2019). Durch die Wahl des transparenten Werkstoffs wird aus dem scheinbar stabilen Objekt „Fernseher“ etwas, das viele Objekte ist. Simondon beschreibt diese Ablehnung der Komplexität von Maschinen als „Misoneismus“, eine „Ablehnung der fremden Wirklichkeit“ (Simondon 2012: 9) von technischen Objekten, die sich unter anderem im blackboxing derselben äußere.

Der Beitrag fächert diese Modi der Instabilität des transparenten Fernsehers auf und legt sie übereinander. Filmwissenschaft wird buchstäblich und materiell gedacht, „Film“ als dünner zusammenhängender Schicht. Transparenter Kunststoff wird zum Bedeutungsträger und Transformator von Blicken, welcher Tiefenstaffelungen ermöglicht und räumliche Relationen in Erweiterung zum Bild eröffnet. Besonderen Fokus bilden die verwendeten Materialien, sowie die Ausstellungkontexte des Fernsehers – von der Weltausstellung, ins Museumsdepot.

Umwelt – Bildwelt – Komposit (Emanuel Welinder, Basel)

1934 publiziert der estnische Biologe Jakob Johann von Uexküll seine Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen. In jenem Buch entwickelt er zentrale Begriffe seiner Umwelttheorie. Die Publikation entstand in Zusammenarbeit mit Georg Kriszat, welcher die unzähligen Bilder, die in dieser abgedruckt sind, beisteuerte. Nicht von ungefähr sind Uexkülls Streifzüge im Titel als «Bilderbuch unsichtbarer Welten» bezeichnet. Nimmt man den Biologen beim Wort und versteht das Buch tatsächlich als Bilderbuch, so entpuppt sich die Umwelttheorie Uexkülls auch als genuine Bildtheorie. Der kolportierte Einblick in fremde Umwelten, die strukturell unzugänglich und verschlossen sind da Umwelten als Konstruktionen eines Subjekts immer determiniert sind durch die Ausstattung dieses Subjekts (so bleibt bspw. dem Menschen die Umwelt der Zecke und umgekehrt unzugänglich), realisiert Uexküll die Möglichkeit einen Blick auf diese zu erhaschen durch den Blick auf Bilder dieser Umwelten. Dabei bedient er sich allerdings nicht einzelner Bilder, die in Approximation versuchen seiner Theorie nach Undarstellbares in eine Darstellung zu überführen, sondern einer bestimmten Bildpraxis: Bilder werden in den Streifzügen in Serie gezeigt und durch bildtechnische Modifikationen verändert: Störungen werden hinzugefügt, Raster über diese gelegt, Farbe hinzugefügt oder weggenommen etc. Uexkülls Verfahren zur Sichtbarmachung unsichtbarer (Um)Welten ist eine Arbeit mit und an Bildern, die in jeweils spezifischen Modifikationen und der Verknüpfung miteinander Differenzen produzieren, die auf jenes Unsichtbare verweisen sollen.

Diese Lesart Uexkülls lässt Bilder, die in funktionale Zusammenhänge gestellt werden um nicht einfach Sachverhalte darzustellen, sondern nach Sybille Krämer als operative Bilder «nicht nur Handhabbarkeit und Explorierbarkeit» ermöglichen, «sondern [...] zugleich eine gegenstandskonstituierende, eine generative Funktion zukommt» (vgl. Krämer Oper. Bildlichkeit), begreifbar werden. Verschärft liesse sich sagen: Solche generativen Bilder produzieren bestimmte Bildwelten respektive Bildumwelten. Demnach wären solche Bildzusammenhänge – ein «Komposit», wie dies Inge Hinterwaldner und Markus Buschhaus im gleichnamigen Sammelband begrifflich fassen – weniger hinsichtlich ihrer jeweils spezifischen, isolierten Medialität zu befragen, sondern vielmehr als relationale Gebilde, die aus den spezifischen Verknüpfungen miteinander Sichtbarkeit nicht nur produzieren, sondern jeweils auch modifizieren.

Beispielhaft soll dies an einem besonderen Fall früher Videoendoskopie gezeigt werden: Die beiden Mediziner George Berci und J. Davids entwickelten in den 1962er Jahren – gut 20 Jahre vor der eigentlichen Etablierung der Technik der Videoendoskopie – ein eigenes Videoendoskop, das die endoskopischen Bilder des Körperinneren mittels TV- Kamera auf einen Bildschirm übertragen konnte. Dabei wurde von ihnen nicht nur der Massstab der Bildqualität entlang genuin bildlicher Verfahren festgelegt (Fernsehtestbilder wurden zur Kalibrierung herangezogen, Helligkeit und Kontrast konnten je nach Bedarf direkt verändert werden), sondern ebenso imaginierten die beiden Mediziner eine Kombinatorik unterschiedliche Bildtypen, welche die endoskopische Sichtbarkeit weiter steigern sollte. So erwähnen sie explizit, dass Röntgenbilder auf die endoskopischen Videobilder gelegt werden könnten, um auf diese Weise bestimmte Aspekte des Bildes hervorzuheben. Kolportiert wird damit eine spezifische Bildpraxis, die im Zusammenschluss differenter Bilder deren unterschiedliche Sichtbarkeiten nicht als Problem versteht, sondern als Möglichkeit, die Heterogenität einzelner Bilder aufzubrechen um so Sichtbarkeit als Prozess der Modifikation, Modulation und Veränderung einzusetzen. Auf diese Weise soll eine Bildpraxis beschreibbar gemacht werden, die in der Verknüpfung verschiedener Bilder nicht einfach mehr Sichtbarkeit, sondern im Gegenteil Unschärfen und Rauschen produziert und Sichtbarkeit so immer als unabgeschlossen, brüchig und offen denkt.

The Scopic Regime of Computation: From Rough Waters to Computable Grids (Bernard Geoghegan, London)

Since the 1970s concepts of a “scopic drive” and “visuality” (e.g., Metz, Foster, Rose, Crary, Bryson, Doane) have posed a theoretical challenge to the idea of individual and embodied perspective. Drawing on sources in physiology, optics, popular culture, and psychoanalysis, that scholarship offered an account of vision as processual, stabilized in structured, distributed networks. Yet these same thinkers often proved circumspect, evasive even, in regards to the historical construction of digital visuality. Often, they dismissed digital graphics as inassimilable to existing cultural histories and without a clear relation to corporeal and visual practice (e.g., Crary, Kittler). More recent theorists describe the digital image as the “decorrelated” from time and space, the formless product of an essentially “non-visual” computing (Denson, Galloway, Gaboury). The result is a depoliticized account of digital visuality, divorced from its material and social constitution.

This talk challenges dominant histories (or the lack thereof) of digital perspectives, by charting the long-term emergence of a “scopic regime computation” from maritime navigation of the 18th and 19th centuries. Drawing on feminist and labor histories of seafaring, computation, and astronomy, I show how maritime navigation destabilized, multiplied, and finally consolidated a new computational perspective, in service to the needs of imperial and colonial conquest. This scope regime configured bodies, numbers, astronomical tables, photography, and optical instruments into an “operational image” (Farocki). Key features of this scopic regime included processualism and numerical analysis that dissolved and re-constituted the gaze around a new perspectival logic, that of computational “addressability” (Singh). These features—which persist today in fields like video games and digital cinema— met the demands of a program of spatial conquest that produced a homogenous planetary expanse recasting sight and landmarks as fungible numerical values. The history of the scopic regime of computation is, then, also a history of an imperial and colonial gaze that enlists ships, lenses, “female computers,” and the heavens in destabilizing and reconsolidating the gaze. Writing its history, then, entails asking how non-imperial or decolonial scopic regime might “look” today.

Panel V: Evidenz

Ansicht, Einsicht, Evidenz. Audiovisuelle Begriffsarbeit bei Forensic Architecture (Anna Polze, Bochum)

Im Unterschied zu den vielseitig rezipierten architekturbasierten Arbeiten der Agentur Forensic Architecture beginnt das Video „Pushbacks Across the Evros/Meriç River: The Case of Ayşe Erdoğan“ (2020) mit der Ansicht einer Zeugin, die im Full Screen eine Fluchtbotschaft formuliert. Gemeinsam mit zwei Freunden hatte sie als politisch Verfolgte die Grenze zwischen der Türkei und Griechenland überwunden und sah sich der Gefahr ausgesetzt, in der militarisierten Sperrzone vom EU-Grenzschutz zurückgewiesen zu werden. Das kurze Video, in dem sie bei den Vereinten Nationen und den griechischen Behörden um Hilfe bat, teilte sie anschließend auf Twitter. Ihr Hilfegesuch blieb erfolglos; Ayşe Erdoğan wurde in die Türkei zurückgewiesen und befindet sich in Haft. Weiteres Material wie Whatsapp-Nachrichten, Standort-Mitteilungen und Fotos, die sie auf der Flucht angefertigt hatte, teilte sie mit ihren Freund:innen, die es an die Agentur Forensic Architecture zu Rekonstruktion des Falls weiterreichten.

Mithilfe von einzelnen Sequenzanalysen dieser videobasierten Rekonstruktion möchte mein Beitrag die Pushback-Recherche von Forensic Architecture als einen exemplarischen Fall für den forensisch-rhetorischen Umgang mit dem Komplex der ‚instabilen Ansicht‘ in der digitalen Medienkultur untersuchen. Denn neben der politischen Krise der gewaltvollen Zurückweisung von Flucht-Migrant:innen an den EU-Außengrenzen – so meine These – verhandelt das Video in seiner formalen Gestaltung die Evidenzkrisen digitaler Bildlichkeit in den sozialen Medien. Auf einer begrifflichen Ebene möchte ich dafür nach dem Verhältnis von Ansicht und Evidenz fragen – beide Begriffe scheinen durch ihre inhärente Verbindung zum Visuellen und zum ‚Ansichtig-Werden‘, aber auch vermittelt über den Begriff der ‚Einsicht‘ in Nachbarschaft zueinander zu stehen. Und auch für den Evidenz-Begriff gilt (Hans Blumenberg folgend), dass es sich um ein instabiles Phänomen handelt. Erst der Evidenzmangel ruft die rhetorische Situation und mit ihr die vielseitigen Verfahren der Herstellung von Einsichtigkeit und Sichtbarkeit hervor.

In einem medienästhetischen Verbund aus Modellierung, Navigation und Intraface-Anordnungen (Alexander Galloway) setzt das Video von Forensic Architecture der ‚instabilen Ansicht‘ der Zeugin ein Bildgefüge entgegen, dass ihre Aussage neu anordnet und zusammensetzt. Wie gelingt es der Investigation durch eine ‚Evidenz der Zwischenräume‘ die diversen instabilen Artefakte auf eine Weise zu kombinieren, bei den Betrachter:innen für Anerkennung sorgt? In welchem Verhältnis steht diese Methode zum Auftritt der Zeugin – wie wird sich im Verlauf des Videos von ihrer Ansicht verabschiedet zugunsten von Datenvisualisierungen, Karten und navigatorischen Bewegungen? Und wie wird auch über die Einsicht in den Rechercheprozess, die Forensic Architecture in ihrem Video inszenieren, eine Rhetorik der Nachvollziehbarkeit als alternative Form der Ansichtigkeit bedient?

Farocki in vier Bildern (Pascal Maslon, Zürich)

2015 wurde aus Harun Farocki ein Institut. Im Versuch, ein Bild für ein Arbeitsprogramm zu finden, das bei Farocki ansetzt, aber nicht aufhört, überschreibt das Institut seine Operationen seither mit vier Piktogrammen, die Farocki auf einen Blick erkennen lassen sollen. Mein Vortrag interessiert sich für die Annahmen und Ansprüche dieses Logos – als Mediengeschichte apparativer Wahrnehmung, als Modell von Gegenwart und als Befragung des Verhältnisses von Bild und Arbeit – und untersucht seine Kontexte: von Otto Neuraths und Gerd Arntzs bildstatistischer Methode bis hin zu Harun Farockis und Antje Ehmanns Projekt Eine Einstellung zur Arbeit. Im Zentrum steht dabei die Frage, wie Zugriffe auf Farockis Bildpraxis über wiederum andere Bildpraktiken organisiert werden, die nicht zuletzt in einem Näheverhältnis zum Begriff der ‚Ansicht‘ stehen.

Filmproduktion als Fotoessay (Theodor Frisorger, Köln)

»Den Film« gab es nie ausschließlich auf der stofflichen Leinwand des Kinodispositivs, sondern das Filmische hat sich immer auch in anderen Medien und in unterschiedlichen »Aggregatszuständen« (Pantenburg 2022) mit-manifestiert. Geht man mit Victor Burgin (2007) von einer grundlegenden »cinematic heterotopia« aus, treten beispielsweise auch Poster, Trailer, oder Film-Stills in die filmische Ansicht mit ein. Anstatt diese Artefakte und Bildformationen – im engsten Sinne des Paratext-Begriffs – nur als untergeordnete »Hilfsdiskurse« (Genette 2001) des hierarchisch übergeordneten Films zu begreifen, denke ich sie in wechselseitiger Semantisierung und ihrem prinzipiell gleichwertigen Nebeneinander (Kaminski/Ramtke/Zelle 2014; Waack 2020).

In meiner aktuellen Arbeit beschäftige ich mich insbesondere mit Produktionsfotografien des Films – also mit Fotografien, die filmische Fertigungsprozesse und Produktionshergänge (insbesondere die Dreharbeiten) abbilden – und deren Distribution in populären Bildmagazinen wie z.B. dem LIFE Magazine. Wo solche behind-the-scenes-Ansichten als studio-eigene Bildbeigaben immer schon Teil der Veröffentlichung von US-amerikanischen Spielfilmen waren, ändert sich die historische Situation mit dem Aufkommen von fotojournalistischen Magazinen wie LIFE oder LOOK in den 1930er Jahren. Statt nämlich auf das Bildrepertoire der Studios zurückzugreifen, entsenden die Bildmagazine eigene Fotograf:innen, um die Produktionsarbeit an einem Film fotografisch zu dokumentieren und sie in Form eines Fotoessays in ihren wöchentlichen Ausgaben veröffentlichen zu können. Begreift man dementsprechend Produktionsfotografien nicht als vorformatierte, filmindustriellen Ansichten von Filmarbeit, sondern versteht man sie als Aushandlungsarenen zwischen den divergenten Interessen von Filmstudios, Fotoagenturen und Zeitschriftenredaktionen, dann erschöpfen sie sich gerade nicht in einer gefälligen Stilisierung von Filmarbeit, sondern sie produzieren immer auch semantische Bedeutungsspielräume und affektive Überschüsse. Neben diesen unterschiedlichen oder gar widersprüchlichen Intentionen, eröffnet die Produktionsfotografie insbesondere über ihre mise-en-page auf der gedruckten Zeitschriftenseite rezeptionsseitig differente Ansichten. Die variablen Konstellationen multipler Fotografien unterlaufen im Zeitschriftenlayout eine fixierte Leserichtung und -position und eröffnen stattdessen Spielräume einer ambivalenten Lektürepraxis. 

Panel VI: Überschuss

Verteilt und instabil: Material Agency in künstlerischen Fehlversuchen (Vera Schamal, Zürich)

Missglückte Versuche sind in der Regel nicht zur Betrachtung gedacht, selbst wenn das Misslungene in irgendeiner, wenn auch indirekten Form auf das rezipierte Werk und dessen Ansichten einwirkt. Doch es existieren durchaus Umstände, unter welchen Fehlversuche als solche ansichtig werden, indem sie etwa zielgerichtet dokumentiert, inszeniert oder schlicht nicht «aussortiert» werden. Der rezipierte Fehlversuch bedingt dabei unter anderem eine Neuordnung von Agency zwischen Künstler:in und bearbeitetem Material, welches sich der Einwirkung entzieht oder der künstlerischen Intention sogar entgegenwirkt. Aber auch zwischen Bildern und Rezipient:innen kommt es zu einer Reorganisation von Handlungsmacht: Widerständiges Material bedingt in mehrerlei Hinsicht instabile Ansichten.

Alfred Gells Definition des künstlerischen Objektes als Träger/Medium von Agency – es wird im sozialen System eingesetzt und fungiert dabei zuweilen als bzw. mit «personhood» – problematisiert schon im Grunde die Vorstellung des künstlerischen Objekts als unidirektional Angeschautes. Mit seiner Agency bietet das Kunstwerk eben auch eine konträre Blickrichtung. Gell stellt seine Ausführungen, die konsequent einem anthropologischen Projekt verschrieben sind, nicht zufällig gegen bisherige Definitionen von Kunst und deren Funktionalität und Agency ist daher etwas, das nicht offensichtlich ist, zumindest nicht immer oder nicht unbedingt. Gemäss meiner These gibt es bestimmte Konstellationen, in denen sich Agency neu sortiert und dabei ansichtig werden kann und die Konstellation, die mich spezifisch interessiert, ist der im Kunstwerk mitrezipierte oder dieses sogar hauptsächlich konstituierende Fehlversuch. Anhand von ein bis zwei Beispielen möchte ich meine These erläutern.

Zwischen Zeigen und Präsentieren: Un/sichtbare Kommunikationsräume in neuen Formen des Dokumentarischen (Florian Krautkrämer, Luzern)

Die Frage der Perspektive ist im Dokumentarfilm eine entscheidende. Von wo aus wird über was berichtet? Wer darf sich zu was und für wen äussern? Insbesondere der partizipative Dokumentarfilm hat mit verschiedenen Methoden zur Kollaboration mit den Protagonisten das Thema der Repräsentation im Film herausgefordert. Mit den Möglichkeiten ubiquitärer digitaler Bewegtbildaufzeichnung verändern sich diese Konzepte, da sowohl Kameras als auch Infrastrukturen zur Distribution inzwischen viel einfacher verfügbar sind. 

Neben der Perspektive, von der aus erzählt wird, rückt aber auch die der Rezeption in den Vordergrund, wenn beispielsweise bei interaktiven, webbasierten Projekten, nicht mehr nur eine lineare Abfolge von Sequenzen angeboten wird, sondern parallele Pfade zur Auswahl stehen. In beiden Formaten, dem partizipativen sowie dem interaktiven Dokumentarfilm werden Ansichten durch die Kombination weiterer Perspektiven herausgefordert und instabil. 

Anhand zwei unterschiedlicher Beispiele möchte der Beitrag solche Veränderungen lokalisieren und genauer beschreiben. Im Film Selfie (Agostino Ferrente, I/F 2019) filmen zwei Jugendliche ihren Alltag mittels Handykameras, wobei sie nur die Selfie-Perspektive benutzen dürfen. Dadurch eröffnen sie ein komplexes Geflecht von Zeigen und Introspektion. Die Wandlung, die die beiden durch die Möglichkeit der Partizipation durchmachen, wird durchaus im Film verhandelt, die Rolle der Regie und der Technik bleibt aber unsichtbar.

Im Gegensatz dazu eröffnet der interaktive Dokumentarfilm Thinking About Restitution (Martin Doll, Ghana/D 2022) einen Raum, der sich vor allem in der Rezeption und Auseinandersetzung mit dem Material und der Website auffächert. Die Verweigerung der stabilisierenden Form linearer Präsentation ist dabei dem komplexen Thema und den verschiedenen Interessenslagen geschuldet. 

Der Beitrag fragt nach Unterschieden und Parallelen und inwiefern sie neue technische Möglichkeiten für die Realisierung benötigen.

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